Bergsteigererinnerungen. Erste Bergfahrt
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Bergsteigererinnerungen. Erste Bergfahrt

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Erste Bergfahrt.

Zillertal im Jahre 1880.Von H. F.

Einmal geschah etwas Besonderes. Von irgendwo aus den Felsen löste sich ein Felsblock, so gross wie ein Heustadel, und torkelte wuchtig und schwer in plumpen Sprüngen den steilen Schutthang hinunter, wie ein Bär, der dem Käfig entsprungen ist — und um ihn und hinter ihm flitzten flink und behende ein Haufen kleiner Steine herab, wie Gassenjungen, die mit Lärm den Bären umtanzea. Mit dem letzten Sprung setzte der plumpe Gesell hinein in einen der Gletscherbäche, dessen Wasser hoch aufspritzten, wackelte noch ein paarmal ärgerlich hin und her und versank dann in die ihm angemessene steinerne Ruhe, während der schwerbeleidigte Bach sich schäumend ein neues Bett zu graben begann. Ich habe Ähnliches nur noch einmal in vergrössertem Masse gesehen beim Abstieg vom Fletschhorn, wo am gegenüberliegenden Laquinglet scher unter dem Eisabbrucl der Gletscherzunge ein ganzer etwa dreissig Meter hoher Felspfeiler zusammenbrach und mit einem Höllengetöse zur Tiefe fuhr.

Und, siehe da! Auf dem Rasenfleck inmitten der Moräne tauchten plötzlich fünf gehörnte braune Punkte auf: « Gemsen! » jubelten wir begeistert. Es waren ja keine Gemsen, es waren Ziegen, aber es kommt ja nicht darauf an, was etwas ist, sondern wofür man es ansieht, und ir an hält ja auch sonst oft genug im Leben eine Ziege für eine Gemse und ist damit glücklich. Und es war ein Unrecht von dem Jäger, dass er unseren schönen Wahn zerstörte. « Denn der Irrtum ist das Leben, und das Wissen ist der Tod. » Was nun den Plan der Schwarzensteinersteigung betraf, so machten Hirt, Jäger und Granatsucher, die in der Hütte waren, bedenkliche Gesichter. Es wäre doch heuer noch niemand oben gewesen, und es wären grausige Spalten da, und voriges Jahr wäre ein deutscher Herr in einer von ihnen « erstürzt » — das war übrigens, wie wir später feststellten, auf der anderen Seite des Kammes geschehen, ganz unten, schon auf dem Aperen, und der Herr, Dr. Welter, von dem auch Kugy in seinem Triglavbuch spricht, hatte nach dem Abseilen im Gehen die Landschaft bewundert, nicht auf seine Schritte geachtet und war einfach in den offenen Schrund hineingerannt. Jedenfalls: wie man jetzt zu wenig Respekt vor den Gefahren des Hochgebirges hat, so hatte man damals zu viel. Auch bei unserem Vater überwog das Pflichtgefühl gegen Frau und Kinder das kühne Alpenjägerblut, soweit es vorhanden war, und statt die Eisjungfrau herauszufordern, gab er dem neutral gestimmten Siegfried und uns das Zeichen zum Rückzug. So ging es wieder zu Tal, ich mit dem festen Vorsatz: « Ich komme wieder! » Und wirklich ist mir im Laufe der Zeit vergönnt gewesen, auf all den Gipfeln zu stehen, die damals so lockten.

In Breitlahner empfing uns Zitherspiel und Gesang, und zum erstenmal hörten wir das Lied vom Zillertal, den Gamsen, Madin und Wadin...

Spät gingen wir zur Ruhe, diesmal als einzige Gäste nicht auf der Ofenbank, sondern in hochgetürmten Federbetten, deren rot- und weisskarierte Bezüge an Alpenrosen und Edelweiss denken liessen.

Anderntags brachen wir zum Pfitscher Joch auf, an der Spitze nicht mehr der fröhliche Siegfried, sondern, betraut mit dem Transport des grössten der drei Rucksäcke, der 16jährige Franzi aus Breitlahner.

Schweigend und schauend überwanden wir den Zamser Schinder und erreichten nach längerer Zeit eine kleine begrünte Ebene. Es war die Stelle, wo jetzt die Dominikushütte steht, von der damals natürlich noch keine Rede war. Da standen wir und erfreuten uns des herrlichen Blickes ins Schlegeistal mit seinen mächtigen Gletschern. Dann setzten wir die Reise fort, nicht ahnend, dass das Schicksal bereits seine dunkle Hand nach uns ausstreckte.

Nämlich — um in Anlehnung an Wilhelm Busch zu reden — durch die grüne Blosse floss ein Wasser mit Getöse, übers Wasser führt ein Steg, und darüber geht der Weg.

Das war also der Bach, so acht Meter breit, und da war der Steg, und der bestand aus zwei dünnen Fichtenstämmen — es können auch drei gewesen sein —, die sich unter der Belastung bis zum Wasserspiegel durchbogen. Der Franzi schlenderte mürrisch hinüber. Nun trat der Vater an. Zwei, drei unsichere Schritte — dann sahen wir ihn wanken, stürzen, versinken in der hochaufspritzenden Flut — und dann trieb er mit der reissenden Strömung hinab. Wir beiden Jungen mit einem Satz ihm nach, in der Hoffnung, ihn zu fassen und zu halten, aber sofort überwarf es auch uns, und alle drei fuhren wir eiligst zu Tal:

« Es schwinden, es fallen die leidenden Menschen Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen Jählings ins Ungewisse hinab. » Aber droben im Lichte auf weichem Boden wandelte der Franzi, und seine seligen Augen blickten in schweigendem Staunen und stummer Hilflosigkeit auf das, was das dumme Stadtvolk da anstellte.

Glücklicherweise gelang es uns allen dreien, uns allmählich an das Ufer heranzuarbeiten, leider wieder an das diesseitige, und einer nach dem andern entstieg dem kalten Bade. Auch der Franzi kam zurück und sagte: « Dos hättens net tun brauchen » — und dann schwieg er wieder, holte den Proviant heraus und blinzelte in die Sonne. Wir aber zogen uns aus und trockneten uns und unsere Sachen in der warmen Sonne, und es war sehr gut, dass es 1880 war und das Zillertal noch nicht so besucht wie später, denn sonst hätten wir uns vor den vielen Berlinern genieren müssen, die gewiss während dieser Stunde vorbeigekommen wären, während wir damals ganz ungestört blieben.

Schliesslich waren wir trocken, und es ging wieder vorwärts. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer und ein gebadetes das Wasser, und deshalb nahmen wir jetzt die fatale Brücke im Reitsitz. Drüben ging 's dann in heisser Sonnenglut langsam hinauf zur Sennhütte auf dem Pfitscher Joch.

Das war auch wieder ein Stück typischer Alpenwelt, was wir da zum ersten Male kennen lernten — diese niedrigen, brettergedeckten und steinbeschwerten Gemäuer inmitten der obligaten Mischung von Brennesseln, blauem Eisenhut, gelbem Kreuzkraut, grossblätterigem Sauerampfer und tiefem Dreck, umweht von jener Duftsymphonie aus Kuhmist, Schweine-geruch, saurer Milch und beizendem Frischholzrauch, auch etwas, wonach man sich sehnen kann, wenn man ferne in der Ebene der Berge gedenkt. Und zu dieser Dekoration gehörten als Akteure ausser der obligaten grunzenden, gackernden, meckernden, blökenden und glockenläutenden Tierwelt drei urwüchsige Sennen, die uns freundlich mit Milch und Butter bewirteten.

Der Himmel hatte unterdessen jenes dunstige, blasse Aussehen angenommen, das das Nahen eines Gewitters ankündigt. Die grauen und blauen Schmeissfliegen summten wilder und stürzten sich gieriger auf Mensch und Tier, und die Sonne stach mächtig. Das musste für Franzis offenbar überfeinertes Gehirn unzuträglich gewesen sein, denn plötzlich brach er sein bisheriges Schweigen und verkündete mit weinerlicher Stimme, dass er damisches Kopfweh hätte und auf keinen Fall mit nach Pfitsch herunter könnte. Er müsse nach Hause und ins Bett. Der A:*me war gerade noch imstande, seinen Lohn in Empfang zu nehmen, dann wendete er sich dem Abstieg zu, erst langsam und stöhnend, dann aber kam ein Tempo, ein Springen über Stock und Stein, wie man es eben nur vorlegen kann, wenn man wahnsinnige Kopfschrnerzen hat und statt ins fremde Tal zu müssen in die traute Heimat zurückkehrt.

Zur Beförderung des schweren Rucksackes nach St. Jakob im Pfitschtal stellten nunmehr die Sennen den Hüterbuben zur Verfügung, den Vinzenz, kurz der « Vitz » genannt. Das war eine ganz andere Nummer als der Franzi. Er hat zwar auch nicht viel gesprochen, aber uns oft angelächelt, und nach Empfang des durch ein Trinkgeld erhöhten Lohnes eine Verbeugung gemacht, so tief und ritterlich, dass sie eigentlich noch eine Ex :rabelohnung verdient hätte. Und als er dann bergwärts zurückwandernd in der sinkenden Nacht verschwand, tönte noch oftmals ein heller Juchzer zu uns herüber.

Am nächsten Tag ging 's, wiederum, unter heiterem Himmel, das immer mehr sich weitende Tal hinaus auf Sterzing zu. Wir waren glücklich und froh der vielen Erlebnisse und übten uns im Jodeln und im Gesang des neu erlernten Zillertalliedes. Und wenn der Vers kam « Da gibt 's Gemslein zu derjagen », sah uns der Vater bedeutungsvoll an von wegen der Ziegen, und wenn der Vers kam « Schöne Madin zu derf ragen », sahen wir den Vater bedeutungsvoll an von wegen der Philomele. Aber je weiter nach Sterzing zu, desto stiller wurde der Vater und desto ernster sein Gesicht — und dann und wann blieb er stehen und sagte seufzend: « Was wird die Mutter zu unserem Wasserabenteuer sagen! » Kurz vor Sterzing rasteten wir noch einmal bei einer Kapelle, der Jungfrau Maria geweiht. Kühl war es im Schatten. Farnkraut, blauer, wollblättriger Drüsengriffel und gelber Salbei wucherten ringsumher, und ein roter Nelkenstrauss stand vor dem Gnadenbild. Da sagte der Vater: « Die Mutter darf gar nichts erfahren, sonst dürfen wir nie wieder in die Berge.Versprecht mir, dass ihr nie etwas verratet. » Und wir waren bedrückt, und das Bild der Maria blickte uns an, und darunter stand: « Santa Maria, Du gnadenreiche, bete für uns! » Und wir gelobten, zu schweigen.

Sterzing! He.isse Sonne auf blendendhellen Strassen, mittaglich geschlossene Fensterläden, schattige Laubengänge, erste Ahnung des Südens. Noch eine Strassenbiegung, dann standen wir vor dem malerischen alten Gasthaus « Zur goldenen Rose » mit seinen Erkern und kunstvollen Eisengittern. Eine weibliche Gestalt erhob sich und eilte uns entgegen. Es war unser Mütterlein. Tief aufatmend schloss sie uns in die Arme. Gerettet, allen Gefahren entronnen! Und dann musterte sie uns verwunderten Blickes — sonnenverbrannt, etwas verwildert und sonderbar kurzärmelig und kurz-hosig verschrumpelt, wie wir waren — und uns wurde unbehaglich zumute. Noch ein mahnender Blick des Vaters traf uns — dann verschwanden beide im kühlen Zimmer.

Und sie hat es doch erfahren. Verräter war der durchweichte Bädeker. Wie ist denn so etwas möglich? Gewiss müsse man schwitzen, aber gleich den ganzen Bädeker durchschwitzen, das wäre doch undenkbar, trotz aller Hitze. Und geregnet hat es doch auch nicht. Da gestand der Gatte seine Schuld. Und wiederum wie so oft auf dieser Bergfahrt war es eine Lehre fürs Leben: « Tue nie etwas, was deine Gattin nicht wissen soll, und wenn du es doch tust, tue es so, dass es nicht herauskommt. » Im übrigen kam alles anders, als wir gefürchtet hatten. Sie hat uns nicht gescholten, sie war womöglich noch liebevoller mit uns, und hat trotz aller Angst und Sorge unsere späteren alpinen Unternehmungen sogar heimlich mit erspartem Wirtschaftsgeld unterstützt. Seele der Frau, wer kennt sie! Wenn wir Männer denken, sie wird so sein, so ist sie so, und umgekehrt. In unserem Falle gibt des Rätsels Lösung vielleicht Othellos Desdemona: « Sie liebte ihn, weil er Gefahr bestand. » So endete meine erste Bergfahrt.

Die zwei lieben Genossen von damals haben ihre Wanderungen durch die Höhen und Tiefen der irdischen Welt schon lange beendet. Sie sind eingegangen — weit vor der Zeit — in jenes ewige, geheimnisvolle Reich, aus dem keiner zurückkehrt. Und fragt ihr nach den andern, die damals so voll Leben uns nahe waren; der Postillon, die Philomele, die Rosi, die Kathi, der Siegfried, der Zsigmondy — auch die findet ihr nicht mehr. Vom Franzi und vom Vitz kann ich nur sagen: Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch. Auch ich lebe noch, und mir hajen die Berge gehalten und ich ihnen, was wir uns damals versprachen. Sie haben mir geleuchtet mein ganzes Leben lang, und auf mehr als 600 Hochgipfeln zwischen Wien und Grenoble und in ungezählten Tälern habe ich ihre Wunder erblicken dürfen. Und wenn auch ich abgetreten sein werde, so werden die Berge noch stehen und die Jugend rufen und locken. Und wenn es auch nicht die Berge von damals sind und die Menschen von heute nicht die Menschen von damals, wenn in mehr als sechs Jahrzehnten alpiner Erschliessung und Betriebes der Schmelz der Unberührt heit und Urspiriinglichkeit verging und Ereignisse unerhörter Art die Seelen der Menschen im Tiefsten verändert haben: auch heute noch ist die Alpenwelt so herrlich wie am ersten Tag für den, der in sie eintritt mit der Ehrfurcht und Andacht, die dieser grossartigen Offenbarung der Schöpfung würdig ist. Und so möge auch jetzt die Jugend hinausziehen, nicht nur des Abenteuers und der « Tat » oder gar des Rekordes wegen, sondern um sich, wie wir Alten einst, der Schönheiten und Grösse der Berge zu erfreuen, wo und in welcher Gestalt sie ihnen auch entgegentreten, auf den Gipfeln, in den Tälern, in Fels, Eis;, Wasser und Wolke, in Pflanze und Tier, in Menschen und Menschenwerk.

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