Chris und der Hochvogel
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Chris und der Hochvogel

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Horst H. Ther, D-Ulm ( Bilder 5 und 6 ) Mein Entschluss steht fest: Es geht wieder einmal auf den Hochvogel - zwanzig Jahre, nachdem ich mit meinem guten Vater den Gipfel zum erstenmal bestiegen habe. Diesmal ist es aber nicht ein alter Herr, der mich begleiten wird, sondern ein junger, ein sehr junger sogar: mein Bergfreund Christian — ganze acht Jahre alt.

Eigentlich weiss er noch gar nicht, was da auf ihn zukommt. Und ich bin etwas gespannt, ob er es überhaupt schaffen wird. Nun, wir werden die späten Nachmittagsstunden für den Hüttenaufstieg benützen, nachdem wir auf dem Fahrrad das Ostrachtal rascher und müheloser hinter uns gebracht haben werden.

War der Junge begeistert, als er das vom Velo erfuhr, da Radfahren sein Hobby ist! Ausserdem versprach ich ihm die Besichtigung eines Wasserfalls, das Erklettern einer Wand sowie das Sammeln wertvoller Steine, eine Tätigkeit, die er ebenfalls zu seinem Hobby erkoren hat. Letzteres versuchte ich ihm dann zwar auszureden, da sich nichts so durch Wertlosigkeit auszeichnet wie das Geröll in den Allgäuer Bergen.

Dann waren wir unterwegs zum Hochvogel, an einem Freitagnachmittag um 15 Uhr, da ich hoffte, das an Wochenenden meist prallvolle Luitpoldhaus einen Tag zuvor etwas weniger belegt anzutreffen. Um 17 Uhr schon waren wir am letzten Parkplatz in Hinterstein. Ich holte die Fahrräder aus dem Heck, packte den grossen Rucksack aufs grosse Rad, den kleinen auf das kleine, verschloss den Wagen, und ab ging 's pedaltretend ins tiefeingeschnittene Ostrachtal. Irgendwo rumorte es im grauen Gewölk. Chris, in meinem Windschatten radelnd, forderte mich zur Tempo-beschleunigung auf. Aber ich wusste, dass seine Renneuphorie bald ein abruptes Ende finden würde, da die alsbaldige Steigung des Strässchens ein vehementes Radfahrertempo nicht mehr zulassen konnte. Überraschenderweise endete die asphaltierte Strasse nicht am Giebelhaus wie ehedem, sondern führte weiter hinein ins Bärgündele-tal. Sehr praktisch! Das stabilisierte meinen Optimismus, obgleich diese « Bandwürmer » in so schönen Bergtälern nicht gerade eine Augenweide und dem Individualismus wenig förderlich sind. Aber das Strassenbaugewerbe muss ja schliesslich auch beschäftigt werden.

Wir waren nicht weit gekommen, da umflorten uns triste Nebelschwaden, aus denen es vor Nässe triefte und wenig später wie aus Kannen zu schütten begann. Trotzdem erreichten wir im Dämmer des Spätnachmittags den Endpunkt des Strässchens, wo wir unsere Räder deponierten und alsbald dem Luitpoldhaus zuwanderten, das von hoch oben herabgrüsste. Der Regen hatte aufgehört, und in der Kühle des Abends kamen wir rasch voran.

Ich hatte Chris anscheinend nicht zuviel versprochen, denn als wir dem Bärgündelefall gegenüberstanden, stürzten dessen Wassermassen tobend und schäumend in einen klaren « Gumpen ». Der Junge war kaum davon wegzubekommen, derweil doch die Dunkelheit bedrohlich die Hänge heraufkroch. Mit Verblüffung stellte ich fest, dass Chris ohne Widerrede forsch und zügig bergan schritt. Dabei wurde ich unaufhörlich mit komplizierten Fragen bombardiert, deren Beant- Steigen im Gletscher 2Über allen Gipfeln wortung sich im Hinblick auf meinen Atemrhythmus problematisch gestaltete. Als wir die zweite Terrasse erreicht hatten, war es bereits katzen-grau, und als Orientierungspunkt dienten nur mehr ein hellerleuchtetes Fenster und die schemenhaften Konturen des Luitpoldhauses am Nachthimmel hoch über uns. Bei völliger Dunkelheit erreichten wir dann endlich die schützende Behausung, zwei Stunden, nachdem wir von unserem Räderdepot aufgebrochen waren. Eine gute Zeit für einen Achtjährigen! Hoffte ich während des Aufstiegs inständig, eine gähnend-leere Hütte anzutreffen, so wurde ich masslos enttäuscht. Keinem Menschen waren wir nämlich seit unserem Aufbruch im Bärgündeletal begegnet. Hier aber, in der sehr geräumigen Hütte, schien eine Bevölkerungsexplosion stattgefunden zu haben, so dass man davon überzeugt war, höchstens einen Schlafplatz auf dem Fussboden oder auf oder unter einem Tisch zu ergattern. Und das an einem gewöhnlichen Werktag! Es erwies sich jedoch schlussendlich als nicht ganz so hoffnungslos, wie es ursprünglich den Anschein gehabt hatte, und man wies uns einen Platz auf dem Matratzenlager zu, der allerdings höchstens einem indischen Fakir Bequemlichkeit und erholsamen Schlaf verschafft hätte, nicht aber mir und meinem geplagten Kreuz. Chris jedoch schien das alles nichts auszumachen; er schlief wie ein junges Murmeltier und erwachte erst, als es zu grauer Morgenstunde in der Hütte lautstark zu rumoren begann. Seine erste Frage war, ob wir jetzt « aufwachen » sollen, was ich zunächst schlaftrunken verneinte. Dann erinnerte ich mich jedoch der Schmerzen im Bereich des Ischiasnervenstranges, die das harte Lager verursachte, und ich kam zu der Überzeugung, dass es besser sei, seiner Anatomie aus der Horizontalen in die Vertikale zu verhelfen. Ein Blick durchs Fenster in die Tiefe des wolkenerfüllten Bärgündeletales, aus dem die Silhouette des Giebels in einen klaren Morgenhimmel ragte, zementierte diesen Entschluss.

Bereits um halb 6 Uhr früh sassen wir am Frühstückstisch im halbleeren Aufenthaltsraum. Sogar 3Das Gewitter am Grat 4Rückkehr ins Tal Radierungen von Paul Erni. Basel gewaschen, zähnegeputzt und gekämmt, nachdem Chris widerspruchslos meiner Aufforderung zur Körperreinigung nachgekommen war. Bisher absolut kein Wort des Protestes. War ein Wunder geschehen? Es lag nicht unbedingt am hochmodernen Waschraum mit warmer Dusche. Es war hier eben alles anders. Er fühlte sich heute gleichwertig, wie ein Erwachsener behandelt, sass als kleiner Wicht zwischen grossen Leuten, war gestern zu gleicher Zeit schlafen gegangen wie die Grossen, und nicht schon drei Stunden vorher. Er fühlte anerkennende Blicke auf sich gerichtet, was sein Selbstbewusstsein stärkte.

Bald standen wir draussen an der recht frischen Luft, und dann ging 's bergan zum Hochvogel auf demselben Weg, auf dem ich schon vor zwanzig Jahren mit meinem alten Herrn einhergeschritten war. Da unten die kleine « Lacke », die damals den Waschraum bildete, darüber die Felsbänderun-gen der Fuchskarspitze und die weiten Geröllhalden, die den Anstieg zum Hochvogel charakterisieren. Über harte Altschneefelder, vorbei an kristallklaren, weiss gischtenden Wildwassern ging es empor zur Balkenscharte1. Dabei bereitete es Chris sichtlich Vergnügen, die langen Serpentinen im Steilhang abzuschneiden, und zwar nicht nur, weil er dadurch seine Kondition feststellen oder sein Leistungsvermögen testen konnte, sondern wohl eher, um auf sich aufmerksam zu machen. Schliesslich gingen hinter uns und vor uns jede Menge Leute, die mit anerkennenden Worten und Gebärden nicht geizten. An der Scharte kamen wir endlich in die Sonne, die jedoch heute anscheinend keine besondere Lust offenbarte, den Tag mit Licht zu überfluten, und das Wolkengebrodel über den Rosskarzähnen hatte keine allzu grosse Mühe, dem morgendlichen Sonnenschein definitiv den Garaus zu machen. Nichtsdestoweniger wollte mein Chris partout auf den mit einem Holzkreuz gekrönten Felszacken des « Balken » klettern, was ich ihm jedoch mit einiger Mühe im Hinblick auf das vor uns befindliche und viel höher gesteckte Ziel ausreden konnte. Danach kraxelten wir auf dem Steig hinüber zum Sattele 5Hochvogel ( 2593 mder formschönste Berg der Allgäuer Alpen -, von Westen gesehen 6Felswildnis Hochvogel Photos Horst H. Ther, Ulm und hinab in das grosse Kar, das von dem immerwährenden Schneefeld des Kalten Winkels erfüllt wird. Vom Gipfel war nichts zu sehen, wenn man von den Nebelschwaden absieht, die an seiner Stelle waren. Beim Beginn des wabenartig strukturierten Firns nahm ich Chris an die « Strippe ». Der Schneehang schien doch etwas hart zu sein und nach oben zu> zwar im Nebel verschwindend, immer steiler zu werden. In nach wie vor forscher Gangart überwanden wir den Kalten Winkel sehr souverän und waren bald in der Scharte, wo nicht die geringste Vegetation das Auge erfreut, weil dort Schnee und Felsen dominieren. Heute jedoch sah man nicht einmal davon allzuviel, sondern Nebel, Nebel - nichts als Nebel. Chris jedoch schien auch an dieser steinigen Gegend Gefallen zu finden, weil man sich hier hauptsächlich nur mehr kraxelnderweise vorwärtsbewegen kann. Dabei legte er Wert darauf, unsere Vorderleute zu überholen, um sich dadurch Genugtuung zu verschaffen.

Hin und wieder sah es aus, als unternehme der Wind den Versuch, die zähen Wolkenschwaden auseinanderzureissen, so dass man glaubte, einen flüchtigen Blick in die Tiefe des Hombachtals zu erhaschen. Aber das war wohl nur eine Halluzination - oder, besser gesagt, der schemenhafte Umriss eines nahen Felsbrockens.

Nach Überkletterung eines Vorsprungs waren wir auf der »Schnur », der luftigen und bei klarem Wetter ungemein eindrucksvollen Passage entlang der Hochvogelschulter. Weiter querten wir bei hartnäckiger Nebelsuppe die Runse am Endpunkt der gewaltigen Jochbachschlucht, wo grobkörnige Altschneereste sehnsüchtig des kommenden Winters harrten. Dann folgte der faszinierend-ste Teil des Aufstiegs: der Gang über den vollkommensten Schutthaufen, den ich je erlebt habe. Die majestätische Berggestalt des Hochvogels, das Wahrzeichen der Allgäuer Berge, wie man ihn aus allen Himmelsrichtungen kennt, zu einem Schutthaufen degradiert! Aber so ist es oftmals im Leben. Aus der Distanz beurteilt man den Charakter einer Person auch häufig wesent- 7Venediger-Gruppe: der Eichhamstock oberhalb der Bonn-Matreier-Hütte ( 2750 m ). Von l. n. r.: die Kuhhaut ( jigom ), der Hohe Eichham ( 3371 m ) und die Sailspitze ( 3137 m ) 8Goldberg-Gruppe: der mineralienreiche Silberpfennig ( 2600 m ), von der Pochkarscharte aus ( 2226 m ) Photos Hasso Lutz Gehrman lich günstiger als aus nächster Nähe. Und trotzdem - auch Schutt und Geröll können ihre Anziehungskraft ausüben. Da - eine schemenhafte Silhouette, ein längerer, senkrechter Balken, ein etwas kürzerer quer: das mächtige Gipfelkreuz des Hochvogels, der Kulminationspunkt. Der Gipfel des formschönsten Berges der Nördlichen Kalkalpen, dessen Besteigung für jeden Alpinisten eine Verpflichtung darstellen sollte.

Chris, der Achtjährige, fühlte die Blicke der Grossen, die ihn anerkennend musterten, vernahm allenthalben Worte der Bewunderung, dass so ein kleiner Wicht einen solch stolzen Berg bezwang: « Grossartige alpinistische Leistung. Unfassbar! » staunte einer der Bewunderer, was ich dadurch abzuschwächen versuchte, dass dies für ihn nichts Besonderes sei, da er eben einen Alpinisten zum Vater habe. Jedenfalls wirkt sich eine solche « Eloge » auf das Wohlbefinden eines Menschen aus, und sei er noch so jugendlich.

Nachdem die Sonne sich vergeblich bemüht hatte, uns und die Umgebung zu erleuchten, indem sie hin und wieder den Versuch unternahm, ihre Scheibe durch die Nebelwand hindurchzu-schmelzen, verliessen wir den Gipfel. Nein, es sollte nicht sein! Der Blick in die Weite zu den Lechtalern, zu den fernen schneeblinkenden Zentralalpen blieb uns versagt. Es herrschten dieselben Verhältnisse wie zwanzig Jahre zuvor, als ich gemeinsam mit meinem guten Vater hier oben gestanden hatte.Vielleicht musste das so sein. Vielleicht war die Person meines alten Herrn in der jugendlichen Gestalt von Chris zurückgekehrt, und das Ganze war nur eine Rekapitulation - eine Wiederkehr längst vergangener Taten und Zeiten...

Es war Mittag geworden. Wir sassen im Luitpoldhaus, und Chris durfte sich « à la carte » wie ein Grosser was zu essen bestellen. « Echt bajuwa-rischer Schweinebraten mit Knödel », war seine exquisite Wahl. Wenig später wurden Bergstei-gerportionen herangefahren, dass man sich gegenüber den anderen Tischgenossen genierte. Die Blicke aller ruhten wohlwollend auf Chris. Er hatte sie sich ja schliesslich verdient, diese Riesenportion, nach seiner eindrucksvollen Leistung.

Danach war er nicht mehr zu bremsen, auf schnellstem Wege ins Tal zu gelangen, denn seine Gedanken beschäftigten sich nicht mehr mit dem Berg, der Herkunft der Flechten am Fels, sondern einzig und allein mit dem Gefälle des vielgewundenen Bergsträsschens da unten im Ostrachtal, das er zwei Stunden später per Fahrrad hinunter-zurasen beabsichtigte. Ob er wohl mit seinem Rad die Höchstgeschwindigkeit erreichen würde, die er sich immer erträumt? Das Maximum, das sein Tacho herzugeben imstande war? Das allein waren seine Gedanken. Dann standen wir wieder am Bärgündelefall, dessen Wasser weiss gischtend und tosend in den Gumpen stürzen, nicht anders als vor zwanzig Jahren, als ich mit meinem Vater hier verweilt hatte.

Bald waren wir beim Drahteseldepot, und Chris konnte es kaum erwarten, sich auf sein Fahrrad zu schwingen; denn so eine abschüssige Strasse hat man als Radler nicht alle Tage. Wobei ich nicht umhin konnte, ihn vor den Gefahren, die ein solches Gefälle in sich birgt, zu warnen. Bald fuhren wir erhaben an den armen Fussgängern vorbei, die den weiten Weg bis nach Hinterstein hinauslatschen mussten, sofern sie nicht am Giebelhaus den Zubringerbus benützen. Eine halbe Stunde später waren wir wieder am Parkplatz in Hinterstein; ich verstaute Räder und Gepäck im Wagen, und dann ging 's schnurstracks nach Hindelang ins gähnend leere, aber angenehm geheizte Schwimmbad, wo Chris und ich unserem nassen Hobby frönten, um wie neugeboren vor Sauberkeit wieder fahrenderweise der Hier flussabwärts zu folgen, bis dorthin, wo sie sich bekanntermassen mit der Donau vereint...

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