Corno di Campo (Südostgrat)
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Corno di Campo (Südostgrat)

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

SüdostgratVon Eugen Wenzel

Mit 1 Bild ( 107Zürich ) Unter den wuchtig aufragenden Felshäuptern, welche den grünen Talgrund des Val di Campo umschliessen, nimmt der Corno di Campo insofern eine besondere Stellung ein, als sein Gipfelstock zufolge einer orographischen Eigentümlichkeit auf seiner Nordseite gesamthaft auf Schweizerboden steht. Über alle andern das Tal umringenden Berge verläuft die Landesgrenze gegen Italien. Doch dieser Umstand allein wird kaum der Grund dafür sein, dass der Corno di Campo vielleicht der meistbesuchte Gipfel des Gebietes ist. Viel eher wird seine imponierende Gestalt und vor allem seine gegen das Tal vorspringende Lage Anlass geben, das Augenmerk gerade auf ihn zu richten.

So galt ja auch unser erster Besuch in diesem entlegenen Teil Graubündens, einer Winterfahrt im Jahre 1939, dem Corno di Campo. Viel später, als nach einer zweiten Winterbesteigung des Berges im Februar 1950 der Wunsch wach wurde, einmal zur Sommerszeit eine rassige Klettertour in diesem Puschlaver Hochtal zu unternehmen, da fiel die Wahl neuerdings auf den gleichen Berg. Sein langer, vielfach gezackter Südostgrat versprach eine abwechslungsreiche, schöne Kletterei. Laut Eintrag im Hüttenbuch war sie im gleichen Sommer schon zweimal ausgeführt worden. Als das Wetter nach ein paar erlebnisreichen Wandertagen durch die sommerliche Pracht der Val di Campo weiterhin Gutes verhiess, rüsteten auch wir zur Kletterfahrt.

Im Dämmerschein der sechsten Morgenstunde verliessen wir das Rifugio Saoseo und stiegen auf schmalem Strässchen gegen die Alp Campo an. Der Bach aus dem Val Mera war mit dem Abtransport des Schmelzwassers vom Vortag noch nicht fertig geworden und rauschte als reissender Wildbach in seinem fast zu engen Bett durch die grünen Matten talauswärts. Bei der Alp Campo schwenkten wir nach Osten ab, verfolgten noch ein kurzes Stück weit den Violapassweg und stiegen dann über den bewaldeten Rücken nordwärts dem Ausläufer des Südostgrates entgegen. Wandte man den Blick jetzt rückwärts, so war man augenblicklich vom eigenartigen Bild des aus hellem Lärchengrün heraus leuchtenden, blaugrünen Saoseosees gefesselt. Während die hochsommerliche Blumenpracht bereits vorüber war, erfreute uns der zahlreich und üppig auftretende Hauswurz. Es erforderte besondere Aufmerksamkeit, die schönen Gebilde nicht zu zertreten, und als wir so beschäftigt und nichts ahnend ein kleines Geröllfeld querten, preschten wild flatternd ein paar Schneehühner unter den Blöcken hervor, uns ebenso erschreckend, wie sie selbst es durch unser lautloses Herannahen auf Vibramsohlen geworden waren. Nach knapp zweistündigem Aufstieg überschritten wir Punkt 2701 m und banden uns bald darauf ans Seil.

Der sich von hier aus noch über einen Kilometer Horizontaldistanz hinziehende und über 500 Meter Höhenunterschied aufweisende Südostgrat kann in drei Abschnitte eingeteilt werden. Der erste ist der flachste, der, von etwas losem Gestein abgesehen, keine Schwierigkeiten aufweist. Im mittleren bäumt sich der Grat mehrmals steil auf, und dort findet man einige hübsche Kletterstellen. Im obersten Teil wird er am steilsten, doch sind keine grossen Hindernisse mehr zu überwinden.

Wir legten uns von Anfang an mächtig ins Zeug und turnten im Überschwang, wieder einmal Felsen anpacken zu können, fast zu hastig über den scharfen Grat. Als ich einen grossen, absolute Festigkeit vortäuschenden Block belastete, erwies es sich, dass er, im labilen Gleichgewicht ruhend, nur darauf gewartet hatte, einem nichtsahnenden Kletterer den Finger einzuklemmen. Da mir kein Platz zu einem Freudentanz zur Verfügung stand, blieb keine andere Wahl, als winselnd den Weg nach oben fortzusetzen. In der bald darauf sich zeigenden ersten Gratsenke schalteten wir eine Rast ein. Noch mit der Pflege des gequetschten Fingers beschäftigt, gewahrten wir plötzlich im Geröllhang auf der Ostseite unseres Grates zwei Gemsen. Dieses wahrlich seltene Ereignis in diesem Gebiet liess uns für einige Zeit alles andere vergessen.

Der nun folgende zweite Abschnitt brachte uns die gesuchten Kletterfreuden. In einer gutgestuften Plattenwand wurde man vorerst nach links hinausgedrängt, konnte aber über eine Blockrippe den Grat wieder erreichen. Die Kletterei war jetzt sehr genussreich. Schmale Hahnenkämme wechselten mit steilen Stufen und abschüssigen Platten. Der Blick fiel beidseitig in zerrissene Flanken, doch im tieferen Tal leuchteten die blauen und grünen Seelein, an welchen das Auge wieder wohltuende Ruhe fand. Über zum Teil brüchige Kletterstellen gelangten wir dann in die zweite obere Gratsenke, wo eine, wie uns schien, wenig empfehlenswerte Route von Nordosten auf den Grat mündet.

Nach kurzem Verweilen wandten wir uns dem dritten und letzten Abschnitt des Grates zu. Auch hier waren wieder abwechslungsreiche Stellen zu überwinden. Von ernsthaften Schwierigkeiten kann jedoch nicht gesprochen werden. Es wäre auch mehrmals möglich, nach links auszuweichen und schräg ansteigend direkt zum Hauptgipfel zu gelangen. Wir blieben dem Südostgrat treu, dessen Schlusswand im Ostgipfel, P. 3216 m, ausmündet. Die letzten Gratpartien vermittelten uns einen schönen Ausblick auf den noch etwas höheren Nachbargipfel des Piz Paradisino. Vom östlichen Kulminationspunkt hatten wir noch den Verbindungsgrat zu meistern, der uns in die Senke vor dem Gipfelstock führte. Über loses Blockgeröll erreichten wir schliesslich den höchsten Punkt.

Strahlendes Sommerwetter bot uns Gelegenheit das uns vom Winter her vertraute Bild des Val di Campo nun auch im schönsten Sommerschmuck zu geniessen. Auf unseren Streifen in den vorangegangenen Tagen hatten wir die offenen und versteckten Schönheiten des Tales kennengelernt. Um so genussreicher war jetzt der Gesamtüberblick, welcher sich uns vom freistehenden Gipfel des Corno di Campo darbot.

Als Abstieg wählten wir die uns vom Winter bekannte Nordwandroute. Die Geröllhalde des Gipfelstocks und das zum Gletscher hinableitende Couloir waren mühsamer und gefährlicher zu begehen als zur Winterszeit. Am unteren Ende der vom Steinschlag bedrohten Runse standen wir mit langen Gesichtern vor einer zwölf Meter hohen Eiswand. Da wir dummerweise den Pickel als überflüssig zu Hause gelassen hatten, waren die Aussichten gering, Kerben für eine Abseilschlinge in die Eiszunge schlagen zu können. Zum Glück fand sich ein Felsen, um dessen Rauhigkeit sich eine Schlinge zur Not legen liess. Das Abseilmanöver musste, aber ohne das gestreckte Seil auch nur einen Augenblick auszulassen, vollzogen werden, da die Schlinge beim geringsten Nachlassen aus der fragwürdigen Sicherung gehüpft wäre. Wir waren herzlich froh, uns nach geglücktem Abseilen möglichst rasch aus der Gefahrenzone der Gipfelwand davonmachen zu können. Der weitere Abstieg vollzog sich über den ausgeaperten Gletscher zum Passo Val Mera hinab.

Wie auf der Nordseite des Passes war die Eintönigkeit des Hochtälchens auch hier durch ein Bergseelein unterbrochen, welches uns in seiner tiefen Bläue einen prächtigen Anblick bot. Über eine zweite Talstufe kamen wir auf den flachen Boden des Pian di Val Mera hinunter, wo wir an den Ufern des vom Schmelzwasser angeschwollenen Gletscherbaches grosse, wie im Neuschnee leuchtende Wollgraswiesen vorfanden. Von den Abhängen erscholl heimeliges Herdengeläut, und als wir unter einem von Kumuluswolken besetzten Himmel fröhlich talwärts wandernd einem Hirtenknaben begegneten, glaubten wir in dessen lachendem Gesicht unsere eigene Zufriedenheit widerspiegelt zu sehen.

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