Crast' agüzza. Erste Besteigung am 17. Juli 1865
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Crast' agüzza. Erste Besteigung am 17. Juli 1865

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Erste Besteigung am 17. Juli 1865.Von J. J. Weilenmann.

Es ist ein Schauspiel von wunderbarer Pracht und ergreifender Wirkung, wenn man von Alp Nova heraufgestiegen ist und plötzlich in des Tales Hintergrund die Schar silberstrahlender Gipfel vor sich entfaltet sieht. Wir waren längst an den Spuren ehemaliger Kohlenmeiler und den dachartig zusammengefallenen Granitblöcken vorbei, der Abhang wurde wilder, unwegsamer — doch immer wollte die Hütte noch nicht erscheinen, welche Führer und Wirte von Pontresina als Nachtstation für Turisten kürzlich dahinten errichtet haben und die uns zuerst als Obdach dienen sollte. War sie vielleicht höher am Abhang, als wir gingen, oder sind wir schon daran vorbei, ohne sie zu gewahren? Die Sache fängt deshalb an, etwas bedenklich zu werden, weil der Himmel mit jedem Moment dunkler wird und ein Gewitter drohend über den Bernina naht. Über dem immer riesiger vor uns aufwachsenden Eiswall, der erst noch in blendender Reinheit, in scharfen Umrissen am blauen Himmel sich zeichnete, hat sich ein unheimlich Düster gelagert, das beklemmend auch uns beschleicht. Seine Kuppen heben sich kaum mehr vom Bleigrau des Himmels ab, schon senken sich da und dort leise Nebelschleier darüber herunter.

Ich hielt unter solchen Umständen den langsamen Schritt unserer ziemlich beladenen Führer nicht länger aus und eilte voran, um möglichst schnell ins reine zu kommen wegen der Hütte. Ein hoher Vorsprung, dem Gletscher zu in jähen Felsen abfallend, erhob sich vor uns. Eine steinige Bemerkung: Die Teilnehmer an dieser für jene Zeiten sehr kühnen Bergfahrt waren: J. J. Weilenmann ( St. Gallen ) und J. A. Specht ( Wien ) mit den Tiroler Führern Franz Pöll ( Galthür ) und Jakob Pfitschner ( Passeyer ). Weilenmanns heute kaum noch bekannte Schilderung ist dem 5. Jahrbuch des S.A.C. ( 1869 ) entnommen. Die Einleitung und die Darstellung des Abstieges über die FestungFortezza auf dem T. A. ) wurden aus Platzmangel weggelassen, ebenso einige Stellen im übrigen Texte. Weilenmann nennt den Berg Cresta güzza; sein schnakenfroher Führer Pöll verdrehte unterwegs den Namen unfreiwillig zu Kratz a Gizzi, « ohne entfernt das reizende Wortspiel zu ahnen».E. J.

Rinne führte daran empor. Ich klimme durch die Rinne hinan und jage oben auf dem deutlicher wieder sich zeigenden Pfade den Weidhang entlang. Donnerschläge krachten und hallten dröhnend durch die dämmernde Wildnis, schwere Tropfen fielen, das Ärgste jedoch entlud sich drüben über den Berninaseen, wo dichte Regengüsse die Gegend in dunkles Grau hüllten. Jetzt kommt eine Strecke Abhang, wo mit dem Spaten der Weg verbessert wurde, ein Bach sprudelt herab, einige Schritte weiter liegen frische Holzspäne, es geht zwischen Geklippe hindurch, die Talwand fällt plötzlich ab, tritt weit zurück, zu Füssen öffnet sich eine mit Felstrümmern bedeckte Ausbuchtung, dicht unter dir aber, an gut geschützter Stelle, erblickst du überrascht das Dach der ersehnten Hütte.

Ich lese auf der Türe: Hôtel Colani, finde eintretend einen ganz anständig grossen, vor Wind und Wetter gut geschützten Raum und eine mit feinem Bergheu reichlich gefüllte Pritsche, auf der im Notfall ein Dutzend gefügiger Leute Platz finden mögen.

Der Graswuchs geht hier zu Ende, man ist an der Pforte ewigen Winters.

Als wir alle beisammen waren und nachdem man ein Feuer angezündet und die nassen Kleider darum her gehängt hatte, berieten wir den in der Frühe einzuschlagenden Weg. Unser nächstes Ziel ist, wie bei Besteigung des Piz Bernina, der Crast'agüzza-Sattel: die tiefe Einsenkung zwischen den beiden Höhen, über die man nach dem Scerscengletscher und nach Lanzada hinab gelangt. Noch im Momente des Aufbruches von Pontresina hatte Herr Saratz uns mitgeteilt, er habe sich erkundigt, wie es dermalen dahinten auf dem Gletscher aussehe, und habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass es heuer der ausserordentlichen Zerklüftung wegen nicht ratsam, ja nahezu unmöglich sein dürfte, den geradesten Weg mitten durch das Labyrinth von Eisklippen hinauf einzuschlagen. Bekanntlich hat Johann Coaz bei seiner Besteigung des Piz Bernina im Jahre 1850 zuerst den Weg gemacht. Dann im Jahre 1863 gingen ihn Enderlin, Serardi und Padrutt bei der Besteigung des Piz Zupo zum zweitenmal. Ob er seitdem abermals versucht wurde, hat nicht verlautet. Dagegen meinte Saratz, über die FestungFortezza ), also über den Morteratsch- und Persgletscher trennenden Kamm sollten wir emporsteigen, um dann über die leicht zu begehenden Schneeterrassen von Bellavista in westlicher Richtung dem Crast'agüzza-Sattel uns zuzuwenden.

Um nichts versäumt zu haben und womöglich sich die Sache näher anzusehen, gehen die Führer über das Trümmerfeld und den Gletscher etwa eine halbe Stunde weiter talein. Wieder zurück, berichten sie, wie zu erwarten war, dass man nichts Gewisses sagen könne, dass es aber mitten über den Absturz hinauf vielleicht doch gehen könne.

Leider etwas spät, um 3 Uhr erst — der 17. Juli war es — wurde aufgebrochen. Was uns gleich anfangs bedenklich vorkommt, ist, dass es nicht kalt ist — da dies auf ungünstige Beschaffenheit des Schnees und auf baldigen Witterungswechsel schliessen lässt. Auch hatten wir kaum die ebene Eisfläche verlassen und begonnen, den Abhang unter dem Gletschergewirre zu ersteigen, als die eine Befürchtung sich erwahrte. Schon mussten wir uns ans Seil binden. Freund Specht war dabei, vermöge seiner grösseren Schwere, am meisten im Nachteil und sank jetzt schon öfters ein. Der Eishang dicht unter dem Klippenchaos nahm eine Steilheit an, wie man sie von unten nicht ahnte. In erschreckender Wilde, grausig schön, türmten sich uns zu Häupten die hellblauen Zacken und Kämme. Da heisst es, sich erst an den Anblick gewöhnen, um nicht vom furchtbaren Ernst dieser gewaltigen Gletschernatur überwältigt zu werden.

Jetzt sind wir zwischen den ersten Klippen drin, sind erdrückt fast von ihrer Wucht. Eine in Dunkel sich verlierende Kluft, deren jenseitige Wand hoch vor uns aufstarrt, versperrt den Weg. Wie ganz anders, wie viel wilder sich alles gestaltet als von unten! So hatte sich 's keiner gedacht! Wo durch dieses Chaos den Durchpass findenUnten hatten wir uns den Weg so ziemlich zurecht gemacht. Erst da, dann dort, nun so: sagten wir uns. Und jetzt — beim ersten Tritt dahinein schon jede Fährte verlorenWäre uns wenigstens eine Orientierung möglich!... Aber die nächsten Klippen benehmen ja jeden Blick hinauf!

Schwindligen Eisgesimsen entlang, über freiragende Kämme, die lotrecht zu beiden Seiten abstürzen, und wieder durch tiefe kleine Schluchten, beständig auf und ab, drangen wir vor, den Abhängen des Bernina entgegen. Es war ein Gang voll intensivsten Genusses, ergreifend in seiner Schönheit, in seinen Schrecken, wie selten einer. In der Höhe entfalteten sich allmählich in blendendem Sonnenglanze — ein Bild von wunderbarer Pracht und Klarheit — die Terrassen und Kuppen des Zupò. Fast jeden Schritt erzwingend, haben wir endlich den Abhang des Bernina gewonnen, steigen an ihm hinan und gehen in geringer Höhe ihm entlang, bald tief watend, bald plötzlich wieder auf Eis. Mir will scheinen, wir gehen zu hoch — um so mehr, als zu Füssen das Geklüfte abnimmt und allmählich in welligen Firn übergeht. Pöll war es namentlich, der auf dieser Richtung beharrte. Doch war er dermalen sicherlich auf dem Holzwege und hatte auch bald die allgemeine Meinung gegen sich. Hinab ging es wieder über den mühsam errungenen Abhang, und ohne besondere Mühe wurden die Klüfte am Fuss überwunden und der innere zahme Firn betreten.

Es war hohe Zeit, dass wir endlich auf besseres Terrain kamen, da eine unerquickliche Stimmung allmählich unter uns sich eingeschlichen. Dieser hatte jenem, jener diesem was vorzuwerfen. Man war unwirsch über nutzlos getane Schritte. Der Passeirer allein hatte seinen herrlichen Gleichmut noch nicht verloren — nur grösserer Ernst war an ihm sichtbar.

Ein wahres Noli me tangere, starrt jetzt die Crast'agüzza vor uns auf. Von Osten und Norden her mag sie nahezu uneinnehmbar sein. Ihr zur Rechten öffnet sich allmählich vielversprechend, ahnungsvoll die Einsattelung, die sie vom Piz Bernina trennt.

War auch jetzt der grosse Eissturz hinter uns, so bedurfte es der verborgenen Schründe wegen dennoch grosser Vorsicht. Mein Gefährte sank einmal ums andere ein. Und plötzlich, voll Unmut, wirft er mir den Vorwurf zu: « Sie gehen sehr rücksichtslos voran! » « Da kommen Sie mir eben recht! » erwiderte ich, dem es längst zum Über-sieden kochte. « Sie haben nur vergessen, sich einen Augenblick in meine Lage zu versetzen. Aus Jux sinken Sie nicht so oft ein, das weiss ich schon... Sie können nichts dafür. Mir aber versetzen Sie mit ihrem Sturz jedesmal einen gewaltigen Ruck, während der Passeirer, der vor mir seinen ausholenden Schritt geht und nichts davon merkt, mich nach vorn reisst. So schnüren Sie beide mir Leib und Seel zusammen, pressen mir fast den Atem aus. Eine wahre Hiobsgeduld brauchte es, um nur so lange stillschweigend es zu ertragenWäre übrigens das Seil regelrecht geknüpft gewesen, es wäre dies, in solchem Grade wenigstens, nicht vorgekommen. » Nachdem so beide ihr Sicherheitsventil geöffnet, ging es bald über vollkommen glatten, harmlosen Firn hinan. Unvermerkt zog wieder Friede ein in die erregten Gemüter, und als wir die weitgedehnte Einsattelung betraten, war auch der Schatten von Gereiztheit entflohen. Es war 9 Uhr. Sechs Stunden hatten wir es ausgehalten, ohne einen Bissen zu uns zu nehmen, nur die kleine Kirschflasche, die jeder bei sich trug, wurde zuweilen zu Rate gezogen.

Während wir, auf dem Schnee gelagert, am Proviant uns erlabten und den Blick über die weite Flanke, über den wilden Grat der Crast'agüzza schweifen liessen, die jetzt zu einem ganz respektablen Burschen herangewachsen war, überraschte mich Specht mit den Worten: « Was meinen Sie, mein lieber Weilenmann, ist 's eigentlich nicht fast lächerlich, dass wir, so nahe dem stolzesten Gipfel der Ostschweiz, durch nichtige Beweggründe uns verleiten lassen, seinem unbedeutendern Nachbarn den Vorzug zu gebenÜbrigens sei es ganz Ihnen überlassen, zu entscheiden. » Ich erwiderte, ich sei dafür, dass wir bei dem bleiben, was wir ausgemacht. Führen nicht wir es aus, rauben nicht wir dem Berge einen seiner Hauptreize, so werde er demnächst den stürmischen Bewerbungen John Bulls erliegen. Damit war die Sache abgetan.

Nach halbstündiger Rast und nachdem wir alles, was irgend die freie Bewegung hindern konnte und zu entbehren war, ja selbst den Proviant auf einen Haufen gelegt hatten, stiegen wir über den sanften Westhang des Sattels hinab, als gälte es dem Scerscengletscher, in der Tat aber, um über den westwärts absteigenden Kamm die Ersteigung der Crast'agüzza zu versuchen. Während von ihrem kulminierenden Punkte der Grat ostwärts sich nicht weit erstreckt, sehr zerklüftet erscheint und in bedeutender Höhe schon rasch abzustürzen beginnt, ist er hier zahm, steigt langsam ab, kommt tiefer erst zum Absturz auf den Scerscengletscher. Diesen Absturz übersehen wir nicht — wir vermuten ihn nur, sehen ihn kommen.

Ins Unendliche sich verlierend, ein Meer von Glanz und Wilde, tut sich jetzt der Westen auf. Von der Crast'agüzza und dem Piz Roseg eingerahmt, zeigt uns das Bild den majestätischen Monte della Disgrazia und die Berninakette, wie sie, Spitze an Spitze aufwerfend, von funkelnden Gletschern umlagert nach Südwesten zieht.

Während Specht, an den Passeirer gebunden, noch mit dem Anschnallen der Steigeisen beschäftigt war, schritten Pöll und ich, den Schneehang des Sattels verlassend, der darauf ausgehenden hochaufstrebenden Wand der Crast'aguzza entlang. Kaum noch sanft absteigend, nahm sie bald stärkeren Fall an, was aber, da genug tauender Schnee lag, nichts zu bedeuten hatte.

Dann jedoch, ehe wir es uns versahen, nahm der Schnee ab, und wir standen an einer Eiswand, die mit jedem Schritt steiler, glatter, härter wurde, so dass Pöll trotz Steigeisen Tritte hauen musste.

Unterdessen sind unsere Gefährten auch nachgekommen, sind aber, gewahrend, wie der Eishang uns zu schaffen gibt, wie langsam wir vorrücken, weiter hinabgegangen, bis dort, wo der Geschiebebord beginnt, über den sie leicht und sicher hinwegschreiten, so dass sie schnell dicht unter uns sind.

Sie haben den bessern Teil erwählt! dachte ich, das hast du wieder einmal Pölls gottsträflicher Manie zu verdanken, immer den kürzesten Weg zu gehen, und dir selber, der du allzu gläubig ihm dich anvertrauest, statt selbst die Augen aufzutun!

Für die Untenstehenden, die uns nicht helfen konnten, war es ein beängstigender Anblick, wie wir an der schreckhaft abschüssigen Wand klebten. Specht, in hohem Grade um uns besorgt, mahnt uns dringend, das vermessene Beginnen aufzugeben und umzukehren — leichter gesagt als getan. Um sich nicht zu sehr zu ermüden, hat Pöll die Tritte möglichst weit auseinander gemacht. Mit beiden Füssen am gleichen Fleck aufzutreten, war nicht möglich. Gab es einen Halt, so war es entweder auf einem Fuss oder mit weit gespreizten Beinen, mit der fast erstarrten Linken an einem Loch sich klammernd, das Pöll jeweilen bei der Haltstelle hieb. Hier sich umwenden, wo die Stockspitze beim ersten Ansetzen nur absprang von dem ungewöhnlich harten Eis und der Körper keine sichere Stütze hatte, hiess soviel als das Gleichgewicht verlieren, einer den andern mitreissen, mit Blitzesschnelle hinabgleiten — denn das schmale Geschiebeband konnte einen nicht aufhalten — und tief nach dem Scerscengletscher hinabstürzen. Das fühle ich und scheint auch Pöll zu fühlen. Standhaft auszufechten, was wir begonnen, ist daher alles, was uns zu tun bleibt. So bange war uns übrigens nicht. Wir waren schon etwas an die Sache gewöhnt, Mut und Ausdauer waren noch nicht erschöpft. Wie bisher hieb Pöll ein halbes Dutzend Tritte, nahm festen Stand und wartete, bis ich nachgekommen war und Posto gefasst hatte, um wieder vorzugehen. Sachte, mit Bedacht geschah jede Bewegung. Was mich am meisten gefährdete und ich verwünschte, war das zuweilen unversehens um meine Beine sich schlingende Seil. Doch bissen wir uns heraus und dankten dem Himmel, als wir, momentan etwas matt, die steile Schutthalde erreichten.

Auf Schutt und Felsen zu klimmen, und wäre es noch so steil, ist immer eine grosse Erholung nach solchem die Knie arg mitnehmenden Gange. Wohltuend sprach zum Auge in dieser Winteröde eine Flechte mit grauweisser, lederartiger, zuweilen schwarzbetupfter Oberseite — diese Tupfen sind die Früchte — und pelziger, schwach weinrot gefärbter, dem Rand zu in Schwarz übergehender Unterseite. Sie gedieh hier in grosser Menge.

Wir streben nicht direkt dem Grate zu, sondern gehen in östlicher Richtung, dicht darunter, über Schnee und Eis, oder umklettern ihn auf schmalem Gesimse. Das Gestein ist sehr brüchig, bietet beim ersten Auftreten oder Anklammern selten einen sichern Halt. Es gibt Stellen, die etwas an den Grat zwischen Hugisattel und Finsteraarhorngipfel mahnen, doch ist das Gestein dort fester, sind die Schneehänge nicht so abschüssig. Den Grat betretend, sehen wir überrascht über die schnee- und eislose, wildverwitterte, jäh abstürzende Südwand hinab, sehen den Scerscengletscher zu Füssen flimmern, schwelgen im Anblick der in Duftbläue verlorenen Tiefen von Val Lanterna und Val Malenco, ihrer golden glänzenden Weideterrassen, der Gipfelschar des Veitlins. Über den trümmerbedeckten Kamm und zuweilen auch dicht darunter an der Südseite ging es eine Strecke weit leicht hinan. Dann wurde der Kamm wieder zerklüftet, streckenweise war man wieder auf seine schwindligtief abstürzende Nordseite angewiesen, hatte missliche Schritte zu tun. Um 12 Uhr, nach 21/2stündigem rastlosen Klettern sahen wir freudig erregt, triumphierend, jubelnd, den immer schwindliger durch die Lüfte führenden Grat ostwärts absteigen, hatten das Ziel unserer Wünsche erobert.

Trotz der Höhe war die Temperatur fast warm. Wind ging nicht mehr als eben angenehm; die Sonne beschien uns unausgesetzt mit ihrem milden Strahl — nur die Ausschau liess viel zu wünschen. Was über der Val Lanterna hinaus liegt, was jenseits des Monte della Disgrazia und der Bergelleralpen steht, steckt in Dunst und Dunkel. Unheimlich grell funkeln in dieser Richtung die Schneegipfel auf dem schwarzen Wolkengrund. Weitaus der freieste Ausblick öffnet sich gen Norden und Nordosten.

Ungleich grösseres Interesse als alles, was der entferntere Horizont uns bietet, hat für uns die noch ganz klar sich gebende nächste Umgebung in ihrer erhabenen Szenerie, in ihrer ergreifenden Wilde, in ihren überraschenden Kontrasten, in ihrer Neuheit. Längst war es unser Wunsch, einmal einen Überblick vom südlichen Abfall des Roseg und Bernina zu gewinnen, da wir uns weder vom Tremoggia, noch vom nördlichen Roseggipfel einen richtigen Begriff davon hatten verschaffen können. Nun liegt er übersichtlich vor uns und gestaltet sich viel einfacher, als wir es uns dachten. Beide, jene Höhen und die Lücke zwischen ihnen stürzen rasch und wild auf den Scerscengletscher ab. Den majestätischen Anblick, den sie von Norden bieten, gewähren sie entfernt nicht, der Piz Bernina zumal, der uns seine zugänglichste Seite weist, welche eben, wie leicht erklärlich, selten auch die schönste ist.

Indes wir behaglich auf dem luftigen First thronen, gucken sie sich auf dem Languard die Augen aus, uns auf dem Piz Bernina zu entdecken. Die beiden Tiroler errichten aus dem abondanten Gestein ein Mannli. An das junge Tännchen genagelt, das wir in der Tiefe gehauen, flattert die Fahne lustig in die Welt hinaus. Eine kleine Flasche mit Zettel wird ins Steinmannli gesteckt, zur Erbauung der Nachwelt.

Um 11/2 Uhr traten wir den Rückweg an.

An der Südseite des Kammes fanden wir einen winzigen Wasserfaden, über den wir gierig herfielen, da brennender Durst uns verzehrte. Es war das erste, aber auch das letztemal, dass ich aus Pölls Hutkrempe trank. Dieser Filz ist die Konzentration von Schweiss, Almhüttenqualm, Kneipendunst und andern Übeln Gerüchen. Durch das Bindemittel Wasser — Pöll hat es nämlich im Brauch, so zu trinken — ist der Hut vollkommen mit diesen Ingredienzen gesättigt, und da er selten trocken wird, teilt sich die Essenz schnell dem Wasser mit.

Mühsam und vorsichtig wie hinauf ging es auch hinab, und um 3 1/2 Uhr sahen wir uns glücklich wieder auf dem Sattel unten.

Seit wir in der Frühe das Gletscherchaos hinter uns hatten, war es unter uns ausgemacht: da hinunter gehen wir nimmermehr! Jetzt, nachdem die Sonne unsere Tritte an den Eishängen weggeleckt, jetzt, wo alles aufgelockert, zum Einsturz reif war, den Gang tun, hiesse wahrlich Gott versucht. Eine harte Nuss ist 's zwar auch: der Umweg über die hohen Terrassen und die Festung hinab nach Boval.

Gleich anfangs schon gab uns das Einsinken viel zu schaffen; wir fanden uns oft veranlasst, der Länge nach hingestreckt über verdächtige Stellen zu kriechen. Eine Strecke weit ging es ziemlich hoch an den Abhängen des Zupò entlang. Die Crast'agüzza erschien uns jetzt im Rückblick in ganz anderem Charakter wie bisher, als kühne, scharf zugespitzte Felsnadel, die schwarz zum glanzvollen Nachmittagshimmel aufstrebte. Mit Befriedigung sahen wir das Steinmannli noch höher in den Himmel ragen, sahen wie lebendig das purpurne Tuch in den Lüften funkelte und flatterte.

Auf der vortretenden Ecke der Terrassen von Bellavista setzen wir uns in den Schnee, um uns mit Musse an dem grossartig sich entwickelnden, wechselreichen, in hohem Grade malerischen Bilde vor uns zu weiden, das von Moment zu Moment, je tiefer die Sonne geht, an Farbe reicher und intensiver wird. Es ist jenes überschwängliche Farbenprangen, wie es vor einem nachhaltigen Witterungsumschlag gesehen wird. Über dem verlassenen Sattel, wo erst noch eine finstere Wolkenwand den Blick in die Ferne schloss, offenbart sich jetzt endlos der lichtverklärte Westen, bricht eine Flut von Glanz und Glorie herein. Das Auge haftet entzückt am Matterhorn, wie es alles beherrschend, einem ätherischen Gebilde gleich, dem Lichtmeer enttaucht. Es wandelt über die immer riesiger sich entfaltenden, in bläuliche Schatten sich hüllenden Wände des Bernina, versenkt sich nach den in Ungewissem Abenddüster liegenden Eisgründen von Morteratsch, nach der dunkelblauen Taltiefe weiter draussen, schwelgt im Schauen der von rosigem Duft umflossenen, in feuriger Glut lohenden Felshäupter, die das Engadin umstehen.

Zu gerne hätten wir uns recht satt gesehen an all der Pracht, die uns umgab! Die Zeit aber drängte, der Abend rückte unerbittlich heran.

Überglücklich, allem entronnen, endlich geborgen zu sein, betraten wir gegen 11 Uhr nachts nach etwa 20 Stunden wieder die Hütte.

Soll ich die Stimmung bezeichnen, in der wir waren, dem Behagen Ausdruck geben, das uns durchströmte, ich kann es nicht besser als mit den Worten Goethes:

« Uns ist ganz kannibalisch wohl, als wie fünfhundert Säuen! »

Feedback