Dammagrat
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Dammagrat

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Tony Müller, Luzern

Eine Überschreitung des Dammagrates bei schwersten Wetterverhältnissen mit einem unvergesslichen Bergkameraden Ich hatt'einen Kameraden, bessern findst du nicht.

An dieses alte, immer wieder zu Herzen gehende Soldatenlied muss ich denken, wenn ich an meinen unvergesslichen Bergkameraden erinnert werde.

Nicht auf dem Schlachtfelde, das wir verwöhnte Schweizer dank göttlicher Fügung nur aus Kriegsberichten kennen, sondern auf unsern gemeinsamen Bergfahrten hat sich mein treuer Begleiter für die letzte Strecke meines Lebensweges in meinem Herzen ein unauslöschliches Andenken gesichert; besass der uneigennützige Franz doch alle guten Eigenschaften, die ein senkrechter Mensch besitzen sollte: Er war treu, mutig, bescheiden und jederzeit hilfsbereit. Was das für ein beglückendes Gefühl ist, mit einem solchen Menschen durch ein rettendes Seil verbunden zu sein, besonders wenn während einer mittelschweren Tour ein fürchterliches Unwetter losbricht und eine sonst ergötzliche Seilfahrt zur Hölle wird, kann man nur in einer solch heiklen Situation so richtig begreifen und schätzen!

An einem herrlichen Herbstnachmittag wanderten wir zwei von Göschenen aus auf dem alten Weglein, welches sich der schäumenden Dammareuss entlang in die Höhe windet, der romantischen Göschener Alp entgegen. Kleine Schönwet-terwölklein zogen über die Dammakette hinweg, beständiges Wetter anzeigend. Ein erhebender, unvergesslicher Anblick! Trotz der vielen Schweisstropfen, für die unsere schweren Säcke verantwortlich waren, blieben unsere Herzen leicht und froh.

Zwischen Gwüest und Jäntelboden grüsste uns von der Göschener Alp das liebliche Kirchlein, um das sich die Hütten wie eine Schar hilfesu-chender Schäflein scharen. Ein friedliches Bild. Als wir um fünf Uhr beim Kirchlein vorbeiwanderten, zeigte mein Kamerad mit dem Pickel nach der Sonnenuhr, die unter dem Glockentürmchen jahrzehntelang die Sonnenstunden aufzeichnete, und meinte: « Tony, mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heiteren Stunden nur! » Wie recht hatte er, mein lieber Bergkamerad!

Nun mussten wir uns beeilen, wollten wir noch unser heimeliges Dammahüttchen erreichen, bevor die Nacht hereinbrach. Der Mosstock glühte, von den letzten Sonnenstrahlen beschienen, als wir beim altersschwachen Hotel Dammagletscher den steilen Hüttenweg in Angriff nahmen. Verträumt, wie in einem Märchen, lag das kleine Alpdörfchen unter uns. Da und dort brannten schon die Petrollampen in den bescheidenen Hüt-tenstuben. Wie eine alte Dampfmaschine keuchte ich hinter meinem Kameraden die letzten Keh- ren unterhalb der Hütte hinauf. Begreiflich, war ich doch nicht mehr jung genug, um ein solches Tempo wie mein ßojähriger « Führer » durchzustehen, ohne dabei in Atemnot zu kommen! Immer wieder erlebt man das gleiche, herrliche Gefühl, wenn man endlich vor der ersehnten Hüttentüre steht und nur den Schieberiegel zurück-stossen muss, um in die heimelige, schützende Stube zu gelangen.

Hoffentlich gelingt es unseren führenden Alpenclub-Persönlichkeiten, dafür zu sorgen, dass unsere heimeligen Clubhütten nicht zu Hotels vergrössert werden und die Seilbahnen nicht durch unselige Gewinnsucht auf jeden Berg gebaut werden!

Franz, bei unsern Bergkameraden als tüchtiger « Chuchitiger » bekannt, fachte fachgemäss in dem kleinen Herd ein lustiges Feuerchen an, und nach kurzer Zeit stand eine würzige Suppe auf dem Tisch. Ein « gluschtiger » Kaffee liess nicht lange auf sich warten, der von meinem treuen Koch mit hochgradigem « Feuerwasser » kräftig getauft wurde. Unter dem behaglichen Schein der Petrolfunzel liessen wir noch einige schmackhafte Pfeifchen abbrennen und frischten alte Bergerlebnisse auf, was nach meiner Ansicht zu einem gemütlichen Hüttenleben gehört.

Plötzlich wurde unsere gesellige Plauderei von heftigen Windstössen zum Schweigen gebracht. Wir traten vor das Hüttchen und mussten die seltene Feststellung machen, dass trotz sternenüber-sätem Himmel ein wütender Sturm vom Dammagletscher herunterfegte. Unsere verheissungsvolle Hüttenstimmung wurde dadurch bedenklich gedämpft, und enttäuscht krochen wir unter die Wolldecken, fielen aber trotzdem bald in tiefen Schlaf.

Morgens um zwei Uhr rasselte der alte, stelz-beinige Wecker und trieb uns schonungslos auf die Beine. Kein Lüftchen wehte mehr, und unzählige Sterne blinkten uns freundlich entgegen. Auch das alte Schiffsbarometer stimmte uns optimistisch, stieg doch die Nadel bei mehrmaligem Klopfen eindeutig nach oben! Hilfsbereit wie immer zauberte mein lieber Koch in kurzer Zeit einen duftenden Kaffee unter meine Nase und sorgte mütterlich für eine tadellose Hüttenordnung. Wir sagten unserem lieben, gastfreundlichen Hüttchen auf Wiedersehen und stapften noch etwas steifbeinig zur alten Wasserstelle, dem Gletscher entgegen. Schwarz, fast unheimlich stach der Mosstockgrat vom weissen, körnigen Eis ab. In gleichmässigem Takt griffen unsere scharf geschliffenen Steigeisen in den harten Grund und gaben uns Sicherheit und guten Stand. Unentwegt und gewissenhaft sorgte Franz für das Straff-halten des Seils. Nach verhältnismässig kurzer Zeit befanden wir uns am Fusse der Damma-wand, wo wir über bucklige Eiswulste und kleine Spalten nach links querten, unserem Ziel, dem Damma-Couloir, entgegen. Langsam wich die helle Nacht einer zartfarbenen Morgendämmerung - nur zu schön, um wahr zu sein, wie mein Seilgefährte meinte. Und er sollte noch recht bekommen!

Weil mir der Schweiss von der Nasenspitze tropfte und ich von einem kleinen « Ast » befallen wurde, legte mir Franz begütigend die Hand auf die Schulter und redete mir wohlwollend zu, einen ausgiebigen Halt einzuschalten. Er reichte mir seine Flasche mit stark gesüsstem Münzentee — aber ohne « Feuerwasser » -, der meine erlahmenden Lebensgeister wieder herrlich auffrischte. Nach kurzem Weitermarsch standen wir am Fusse des berühmten Couloirs, von dem ich schon als Bub geträumt hatte. Ungeheure Mengen Altschnee bäumten sich vor uns auf, als wollten sie uns den Durchstieg verwehren. Der kalte Vorsommer hatte dafür gesorgt, dass hier oben die Schneeschmelze nur zaghaft einsetzte.Voll jugendlicher Energie wühlte sich mein Kamerad durch die steile Schneemasse hinauf, immer wieder bis zu den Hüften einsinkend, während ich unten auf gesichertem Stand Seil nachgab. Nach abgelaufener Seillänge kam ich an die Reihe, und in diesem Rhythmus wiederholte sich die Kraxelei, bis uns nach einer guten Stunde eine riesige Schneewächte die Überschreitung des Passes ver- barrikadierte. Eine Umgehung kam nicht in Frage, da links und rechts die Wächten noch weiter hinausragten. Ohne lange zu zaudern, machte sich Franz an die Riesenarbeit, ein Loch in diesen steinharten Schnee zu hauen. Von kleinen Verschnaufpausen unterbrochen, dauerte diese Maulwurfsarbeit volle zwei Stunden, wobei ich den bedeutendkleinerenTeil leistete. Schweissgebadet ruhten wir uns ein wenig aus und genossen den wunderbaren Münzentee bis zum letzten Tropfen.

Als mein Kamerad durch das Loch auf die Walliser Seite kletterte, musste er eine unangenehme Entdeckung machen: Ein wütender Sturm umtobte ihn, von dem wir auf der Urner Seite, im Windschatten der riesigen Wächte, nicht das geringste gemerkt hatten. Eine unheimliche graubraune Nebelwand staute sich dem Grenzgrat entlang, vom « ältesten Urner », dem Föhn, aufgehalten. Franz machte mir den Vorschlag, sofort wieder umzukehren. Statt seinen einzig richtigen Ratschlag zu befolgen, drängte ich zum Weitermarsch, unserem anfänglichen Ziel, der Trifthütte, entgegen. Da inzwischen der Föhn der anstürmenden Wetterwand nicht mehr standhalten konnte, brauste der Sturm mit ungebrochener Wucht über den Grat hinweg, die dunkle Nebelbrühe vor sich herschiebend. Das Couloir, das wir bei schönstem Wetter durchstiegen hatten, glich einem undurchsichtigen Hexenkessel. Ein unglaublicher Wechsel! Ohne lange zu überlegen, tasteten wir uns vorsichtig den jähen Firnhang hinunter in Richtung oberer Rhonegletscher. Dabei passierte uns das unverzeihliche Missgeschick, von der eingeschlagenen Richtung stark nach links abzuweichen. Nach etwa halbstündigem Umherirren - der Nebel war so dicht, dass wir nur noch einige Meter Sicht hatten - waren wir ringsum von tiefen, teilweise breiten Spalten umgeben, so dass an ein Weiterkommen gar nicht mehr zu denken war. Zu allem Unglück prasselten Eisnadeln wie Geschosse auf uns nieder!

Wir entschlossen uns, ein Biwak herzurichten, und schlugen mit unsern Eispickeln eine kleine Höhle in den steilen, nach oben leicht überhän- genden Firnwulst. Mit den Kochgeschirrdeckeln scharrten wir das pulverisierte Eis aus dem Loch, und in knapp zwei Stunden war unser Unterstand fertig. « Und ist die Hütte noch so klein, wir können trotzdem glücklich sein! » - Durchnässt bis auf die Haut und schlotternd vor Kälte, schlüpften wir unter das schützende « Dach » - und waren restlos glücklich! Mit steifgefrorenen Händen packten wir unsere Kochgeschirre aus und füllten sie mit Eisbrocken. Dabei träumten wir von heissem Tee, der eine Ewigkeit auf sich warten liess. Starker Sturmdruck und die Höhe von zirka 3400 Meter liessen die spärlichen Flämmchen nur kärglich züngeln; doch was lange währt, wird endlich gut. Geniesserisch, aber unendlich vorsichtig schlürften wir das köstliche Getränk und dankten dem lieben Gott für dieses Geschenk.

Da wir nur in gebückter Haltung stehen konnten, schafften wir uns wie die fleissigen Murmeltierchen noch weiter unter die Eisdecke. Zu guter Letzt schabten wir eine bequeme Sitznische heraus und betrachteten stolz unser « Eigenheim »! Nun waren wir fast gänzlich vor dem tobenden Sturm geschützt, was in Anbetracht unserer durchnässten Kleider von grösster Wichtigkeit war. Franz zündete eine dicke Kerze an, die immer zu seiner eisernen Rucksack-Reserve gehört, und stellte sie in eine windgeschützte Nische, als Wärmespender, wie er meinte. Das leicht flackernde Flämmchen strahlte ein beruhigendes, heimeliges Licht aus; dabei war es erst nachmittags vier Uhr und fast völlig dunkel. Ein knurren-der Magen mahnte uns ungestüm daran, dass wir seit morgens zwei Uhr nichts mehr gegessen hatten. Unglaublich, wasder gute Franz für eine grossartige Verpflegung aus seiner alten, verbeulten « Chochi » mit Liebe und Geduld hervorlockte: vorbereitete Kartoffelrösti, garniert mit Speck-würfeli! Dazu stellte er eine Flasche Burgunder auf das Eisbänklein! Mein Herz, was willst du noch mehr! Ein heisser, stark getaufter Kaffee folgte, der nicht nur unsere Bäuche, sondern auch die gefrorenen Füsse aufwärmte. Ein herrliches Gefühl, das man nicht in Worte fassen kann!

Morgens um vier Uhr: eine sorgenvergessene Stimmung; aber es sollten noch andere Zeiten kommen! Der Sturm tobte noch mit ungebrochener Gewalt um unser Eishüttchen. Auf den nassen Säcken sitzend, waren wir wiederholt für eine Weile eingeschlafen; aber die zunehmende Kälte rüttelte uns immer wieder schonungslos in die Wirklichkeit zurück.

Der Eisregen war schon längst in Schneefall übergegangen, und wild wirbelten die Flocken in unsere dürftige Behausung. « Tony, in einer Stunde nehmen wir das Henkersmahl ein; dabei geht der letzte Tropfen Sprit zum Teufel! » Eine dicke Hafersuppe und ein Stück Vollkornbrot sollten für 13 Stunden die letzte Mahlzeit sein! Morgens um acht Uhr waren wir immer noch von völliger Dunkelheit umschlossen, und die Kälte drang unangenehm durch unsere nur schlecht trocknenden Kleider. « Wenn für uns das letzte Stündlein geschlagen hat, trifft es uns in diesem Eisloch genau so sicher wie auf dem Marsch. » Mit dieser Betrachtung hatte mein Seilgefährte die einzig richtige Entscheidung gefallt: !'Raus aus dem Haus! In fieberhafter Eile packten wir unsere nassen, halb steifgefrorenen Säcke, beteten noch ein Vaterunser und zwängten uns aus dem Biwak. Wie ein wütendes Ungeheuer sprang uns der Sturm an und drohte uns aus dem Stand zu reissen. Breitbeinig und mühsam stapften wir den Eishang hinauf, in der gleichen Richtung, wo wir tags zuvor heruntergekommen waren. Von unserer alten Spur war allerdings nichts mehr zu sehen. Nach einer Stunde standen wir keuchend vor unserem Wächtendurchschlupf, der unterdessen vom kalten Eisregen zu einem faustgrossen Loch geworden war. Noch einmal versuchte mein treuer Kamerad mit gütigen Worten mich zu überzeugen, durch das Couloir zum Dammahütt-chen abzusteigen. Aber ein Blick in die brodelnde Tiefe liess mich leicht erschauern! « Wir werden heute abend in der Trifthütte schlafen; darauf kannst du dich verlassen! » gab ich mit nicht ganz überzeugter Stimme, aber bestimmt zur Antwort. « Diesmal werden wir nicht mehr den gleichen Fehler machen, der uns tags zuvor zum Linksab-biegen verleitet hat, sondern schräg nach rechts halten, wie es im Urnerführer steht! » Ohne eine Antwort, aber mir freundlich zunickend, trippelte Franz, das steifgefrorene Seil hinter sich herziehend, langsam, mit äusserster Vorsicht schräg nach rechts den steilen Hang hinunter. Nach etwa 10 Meter war er im Nebel verschwunden.

Nun regte sich mein schlechtes Gewissen, und eine leise Angst beschlich mich. Ich musste mir selbst eingestehen, dass mich nur das von oben überhängend scheinende Couloir davor zurückgeschreckt hatte, auf den vernünftigen Vorschlag meines Kameraden einzugehen. Das sollte ich noch büssen müssen, und leider auch mein bescheidener, selbstloser Seilgefährte. Der Sturm nahm fühlbar an Stärke zu, und immer rauher liess er seinen schaurigen Choral ertönen. Rings um uns tanzten die dunklen Nebelfetzen wie böse Geister, immer im Kreis herum. Wie klein fühlst du dich, grossmauliges Menschlein, hier oben, umgeben von einer entfesselten Natur! Ich dachte an meine liebe Frau und meine drei Kinder, die beiden Lausbuben und Hannely, die Älteste. Sie kommt immer mit einem glänzenden Schulzeug-nis nach Hause; kein Wunder, sie möchte Lehrerin werden...

Wann legt sich diese Urgewalt endlich einmal zur Ruhe? Schritt für Schritt ging es hinunter, den eiskalten Kopf vornüber geneigt. Ein energisches Zupfen am Seil riss mich aus meinen Träumen. Ich beschleunigte, so gut ich konnte, meine schlarpenden Schritte. Dabei gab ich mir alle Mühe, das harte Seil aufzurollen. Franz tauchte wie ein Gespenst aus dem Nebel, seine gefrorenen Haarsträhnen unter die nasse Kutte streichend. Vor ihm gähnte eine tiefe, etwa sechs Meter breite Spalte, die von einer etwas beängstigend eingesattelten Schneebrücke überspannt war. Links und rechts verwehrte ein ganzes Spal-ten-Labyrinth ein Ausweichen. Waren wir doch wieder zuviel nach links abgewichen? Dabei hielt Franz gewissenhaft und mit feiner Spürnase die Richtung am gespannten Seil ein, die wir oben am Dammapass eingeschlagen hatten. Wenn nur diese verfluchte Nebel brühe sich auflöste, nur ioo Meter Sicht freigeben würdeEin frommer WunschDer Wahrheit zuliebe muss ich auch bekennen, dass ich den unersetzlichen Kompass zu Hause gelassen hatte, und zwar nicht das erste Mal! Mein Gewissen wurde immer schwärzer. Um die eingeschlagene Richtung nicht zu verlieren, rutschte Franz auf allen vieren als erster über das schmale Schneeband und zog mich nachher, wie einen Pudel an der Leine, zu sich heran. Wegen der ungeheuren Sturmböen hatten wir es nicht riskieren dürfen, aufrechten Ganges über die Brücke zu schreiten. Weiter taumelten wir abwärts. Mit Erleichterung stellte ich fest, dass die Steilheit allmählich abnahm, ein sicheres Zeichen, dass wir uns dem Gletscher näherten. Dafür sanken wir immer mehr im weicher werdenden Schnee ein, der uns die letzte Reserve aus den zit-terigen Beinen zog. Wie sollte das noch enden?

Niedergeschlagen folgte ich meinem Gefährten, immer langsamer meine erschlafften Beine aus der tiefen,, nassen Schneemasse ziehend. Mit Schrecken stellte ich auch fest, dass meine Zunge immer schwerer wurde, und ein dumpfes, gleichgültiges Gefühl überfiel mich. Ich wollte meinem Kameraden rufen, brachte aber keinen Laut über meine gefühllosen Lippen...

Da ertönte dieser gequälte, krächzende Laut, den ich mein Leben lang nie mehr vergessen werde... Starr wie eine Säule stand ich da, angestrengt lauschend. Doch nur das nervenzermür-bende Sturmkonzert traktierte meine eiskalten Ohren. Da - das bekannte Zupfen am Seil, das zugleich langsam eingezogen wurde. Mit letzter Kraft schleppte ich mich vorwärts, mich fest ans Seil klammernd, und stand auf unsicheren Beinen vor meinem Kameraden. Er deutete auf einen Steinblock, der einige Meter von uns entfernt aus dem Eis ragte. « Tony, wir haben wieder ein Dach über dem Kopf », lallte er kaum verständlich. Also auch eine schwere Zunge, ein sicheres Zeichen gefährlicher Unterkühlung! Das gequälte Gekrächze hätte also ein Freudenjauchzer sein sollen, dachte ich bei mir und betrachtete mit unsagbarem Mitleid das kalkweisse Gesicht, das mit Eishauch überzogen war...

Wir setzten uns auf unsere Säcke, ganz dicht an die windgeschützte Seite des Steinblocks. War das ein befreiendes Gefühl, von diesem eiskalten, hartnäckigen Begleiter nicht mehr angeblasen zu werden! So dösten wir nebeneinander, ohne ein Wort über die Lippen zu bringen. Zuerst fing es mich an zu schütteln, dann packte es auch Franz, als ob ich ihn angesteckt hätte - der Schüttelfrost! « Dem muss schnell abgeholfen werden », fuhr es mir durch meinen nasskalten Schädel, und mit gefühllosen Fingern stöberte ich umständlich mein « Schnapswänteli » hervor und setzte es Franz an die Lippen. Nach einem kräftigen Schluck wirkte der « 3Ogrädige » fast verheerend! Der arme Franz wurde hin- und hergeschüttelt und pustete wie ein altes Rigi-Lokeli. Trotz meines erbärmlichen Zustandes musste ich aus vollem Halse lachen. Ich drängte ihn noch zu einem weiteren Schluck, den er schon besser verdaute! Dann winkte er mit beiden Händen ab. Nun goss ich mir das edle « Feuerwasser » hinter die Binde, was mir als altem Geniesser ohne Nebengeräusche gelang! Plötzlich entsann ich mich, dass mir meine Frau immer auf grosse Bergtouren ein zwei Quadratmeter grosses, hauchdünnes Plastiktuch mitgab, das sie sorgfältig zusammenlegte und in die innere Reissverschlusstasche des Rucksackes versorgte. War das ein wertvoller Fund! Bald kauerten wir unter dem schützenden Tuch. « Vormittag, die elfte Stunde », stellte ich mit einiger Mühe mit Hilfe der Taschenlampe fest, denn das Uhrenglas war stark angelaufen. Eng aneinandergeschmiegt wie ein verliebtes Pärchen, fielen wir bald in einen bleiernen Schlaf, der fast zu ausgiebig ausfiel... Nachmittags um fünf Uhr nahmen wir in überstürzter Eile von dem steinernen Schützling Abschied und marschierten, noch etwas langsam und steifbeinig, in ungefährer Richtung obere Limmi. Zu unserer grossen Freude hatte das Unwetter stark nachgelassen, und die leidigen Nebel lichteten sich zusehends.

Die Steigung nahm wieder stark zu, und der ausgiebig gefallene Neuschnee presste sich, da er sehr nass war, klumpig an unsere Steigeisen. Aber das machte uns keinen Kummer. Mit hoffnungsfro-hem Herzen und neuer Kraft strebten wir vorwärts! Nur kleine Schneeflocken fielen noch vereinzelt vom immer heller werdenden Himmel, und mittlerweile war der Nebel gänzlich verschwunden. Nun standen wir auf der Oberen Triftlimmi; es konnte keinen Zweifel mehr geben. So gut es die lahmen Beine erlaubten, watschelten wir wie alte Enten den Triftgletscher hinunter, hie und da kleinen Spalten ausweichend.

Und nun die glückselige Überraschung! In der zunehmenden Abenddämmerung, nur undeutlich feststellbar, zeichneten sich die Umrisse der Trifthütte ab, eine Erscheinung, die mir nie mehr aus dem Gedächnis entschwinden wirdSchweigend, fast andächtig schob ich die Türrie-gel zurück — und wir traten ein, unter das rettende Dach!

Seither sind viele Jahre verflossen. Andere Stürme, die Stürme des Lebens, haben mein schwarzes Haar gebleicht. Mein treuer, selbstloser Kamerad Franz liegt schon lange in geweihter Erde, draussen im Friedental. Auf der Fahrt in seine lieben Berge verunglückte er mit seinem Motorrad, ohne von seiner lieben Frau, den Kindern und mir altem Bergkameraden Abschied zu nehmen. Für uns Bergkameraden bedeutete der Verlust dieses wertvollen Menschen einen schweren Schlag. Seiner trauernden Familie und seinem verzweifelten Mütterchen schrieb ich im Namen meiner Bergkameraden anstelle einer üblichen Kondolation das Gedicht:

An unsern toten Bergkameraden Still, wie Du warst, bist Du von uns gegangen. Kein Händedruck, kein letztes Abschiedswort war uns gegönnt, uns alten Kameraden. Doch unter uns lebst Du im Geiste fort!

Ein jeder wird Dich treu im Herzen tragen, und jedem von uns sollst Du Vorbild sein.

wie man mit Mut und Kraft das Leben meistertUnd doch warst Du im Alltag so bescheiden, klein.

In unsre lieben Berge wirst Du uns begleiten als Schutzpatron, stets treu um uns besorgt, und flüsternd wird der Bergwind uns erzählen manch kleinen Scherz von Dir, manch gutgemeintes Wort.

Und tobt der Sturm mit Urgewalt um Grat und Flanken, und mahnt uns Steinschlag an Vergänglichkeit, dann wirst Du schützend Deine Hand uns reichen, so wie Du immer warst — zur Hilf bereit.

Und sind wir einst des vielen Wanderns müde, und steht für uns der Lebenszeiger still, dann wirst Du grüssend an der Himmelspforte winken uns alten Kameraden — so Gott es will!

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