Das Bergsteigen, ideell betrachtet
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Das Bergsteigen, ideell betrachtet

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON PAUL ULBER, ZÜRICH

Wenn wir müde und von der Sonne gebräunt von einer Bergfahrt heimkehren, tritt oftmals die Frage auf: Warum tun wir das? Warum nehmen wir die Strapazen auf uns? Wäre es nicht einfacher und gemütlicher, daheimzubleibenEs ist viel über diese Frage diskutiert und geschrieben worden. Man hat das Bergsteigen von der sportlichen Seite her betrachtet, von der Körperertüchtigung bis zum Leistungssport. Man hat es empfohlen als sinnvolle Freizeitgestaltung und vieles mehr. All diesen Betrachtungen ist in ihrer Richtigkeit nichts beizufügen. Es sind jedoch nur höchst angenehme Begleiterscheinungen, die aber vom Kern der Sache abweichen. Ich glaube, dass die oben angeführte Frage nicht im konkreten Sinne beantwortet werden kann. Deshalb werden auch meine Gedanken und Ausführungen über dieses Thema keine endgültig befriedigende Antwort sein. Sie sollen nur einen Weg weisen, auf den man vielleicht zum Wesenhaften der Bergsteigerei vordringen kann:

Wenn wir im Morgengrauen oder bei aufgehender Sonne im grossen Schweigen der Natur am Fusse eines Berges stehen und unsere Blicke über die schroffen Hänge und wildzerklüfteten Grate gleiten lassen, steil hinauf bis in den blanken Himmel, ist es da nicht, als würden wir einen gotischen Dom betrachten? Da beginnt tief in uns eine Kraft zu wirken, die sich im ungestümen Drang nach oben auslebt. Müssen nicht die Architekten, welche die berühmten gotischen Dome schufen, von denselben Gefühlen beseelt gewesen seinWenn wir nun, am Seil verbunden, über den Grat klettern und dem Gipfel zustreben, beginnt das gesunde Ausleben der Kräfte, die sich im Drang nach oben äussern, und schenkt uns tiefe Befriedigung! Und wenn wir dann auf dem Gipfel stehen, so sollte uns bewusst sein, dass in der Zeit des Aufstiegs in unserem innersten Seelenleben unendlich viel geschehen ist: Der Grat, die Wand oder der schwachausgeprägte Gemsenpfad wecken ja die mannigfaltigsten Gefühle in uns. Der Überhang am Einstieg machte uns grosse Freude, die aber schon wieder gedämpft wurde durch das darauffolgende nasse, schwarze Wändchen. Das schmale, abwärts geneigte Schuttband in senkrechter Wand, das traversiert werden musste, rief eine Gefühlsdepression hervor, die sich bis zur Furcht hätte steigern können. Die Befreiung aus dieser Depression war der nächste Gratturm, an dessen glatter Kante wir, mit wilder Freude erfüllt, hochhangelten. So haben wir also bis zum Gipfel hinauf, in unserem Innern, in unserer Gefühlsseele, einen zweiten Berg erbaut, einen Berg der verschiedenartigsten Gefühle und Empfindungen, im Gegensatz zum physischen Berge, durch den uns diese Empfindungen und Gefühle geschenkt wurden. Und somit ist ja fast ein Wunder geschehen: Diese scheinbar tote Materie, die wir unter dem Begriff « Berg » zusammenfassen, ist in ihrem Abbild in uns zu einem Leben verschiedenartigster Gefühle erwacht. Es wird viel von den Bergen geschrieben, und oftmals heisst es: « Der Berg ist nicht tote Materie. Der Berg lebt! » Nur müsste man weitergehen, müsste ergänzen und sagen: « Der Berg lebt durch uns! » Da nun aber der Überhang, den der eine leicht durchsteigt, für den anderen von ausserordentlicher Schwierigkeit sein kann und infolgedessen auch andere Gefühle wachruft, ist dieses Abbild ein subjektives. Mein « seelischer Berg » - um es so zu sagen - wird also ganz ein anderer sein als der meines Bergkameraden, obwohl beiden derselbe Ursprung zugrunde liegt. Er steht in seiner « Form », gebaut auf das subjektive Innenleben, einzig da und hat nicht seinesgleichen. Wir nehmen nun diesen « Gefühlsberg », der nicht zu trennen ist von der Materie, woraus er entsprang, mit uns. Ja, wir haben die Gabe, diesen « Berg der Gefühle » im Laufe der Zeit noch zu veredeln; denn die Furcht, die uns beim Durchsteigen der nassen, schwarzen Wand beherrschte, wird sich später in Befriedigung verwandeln und in Freude über unseren gesunden, leistungsfähigen Körper. So können wir zum Künstler werden, zum Architekten, indem wir in unserem Seelenleben reine und edle Formen schaffen. Nach diesem Veredlungsprozess nun prägt sich die Summe der Gefühle, der das Erlebnis am Berge zugrunde liegt, in konzentrierter Form wie ein Siegel fest in unsere Seele ein und geht uns nicht mehr verloren. Dank der Kraft, die wir « Erinnerung » nennen, können wir jederzeit in unsere Seele hinabschauen, und wann es uns beliebt, die dort gespeicherten Kräfte sinnvoll in unser Leben einsetzen. Und wenn wir es verstehen, mit diesen Kräften hauszuhalten, sie immerwieder im reinsten Wollen durch neue Bergerlebnisse zu vermehren, wird uns Bewusstsein über die Dinge geschenkt werden. Wir werden ein derart reales Verhältnis mit unserem Innenleben erlangen, dass uns der physische Berg nicht mehr als Ursprung, sondern nun als Abbild der Kraft entgegentritt, die uns - den Berg als Medium benutzend - mannigfaltigste Gefühle schenkt.So ist das Bergsteigen gesundes Ausleben und Wiederauffüllen innigster - ja, man darf das Wort brauchen, das heute ständig missbraucht wird - heiliger Triebe göttlichen Ursprungs und wird zum Gottesdienst! Und zu diesem Gottesdienste dürfen sich alle Religionen vereinen, und allen wird gleichviel geschenkt werden, wenn sie gewillt sind, mit offenem Herzen zu empfangen.

Und so möchte ich die oben angeführten Betrachtungen und Ideeen zum Bergsteigen mit den Worten des französischen Bergsteigers Gaston Rebuffat schliessen: « Der Drang zur Höhe und der damit verbundene Kampf um den Berg, der den vollen Einsatz der Person verlangt, muss reinstem Wollen entspringen und aus ehrlichem Herzen kommen, um des Berges und des Bergsteigens selbst willen, aus dem im Menschen wohnenden Drang nach oben, wo der empordringende Körper Ausdruck für den Höhenflug der Seele ist, die ihren Schöpfer sucht! »

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