Der Akademikerweg am Bifertenstock
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Der Akademikerweg am Bifertenstock

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Alfred Amsfad

( Zürich, Sektion Uto ).

Der Akademikerweg x ) am Bifertenstock hat im Kreise der Alpinisten einen guten Klang. Es ist die klassische Route, welche durch die Nordwestwand des Berges von der Glarner Seite her zu P. 3063 emporführt.

Wie ein längst verklungenes Märchen, das der alte Senn am knisternden Herdfeuer erzählte, so entsteigt die erste Erinnerung an den Bifertenstock meinem Gedächtnis. Wir Kinder sassen mit angezogenen Beinen auf niedrigen Hockern. Das Gruseln strich uns eiszapfenkalt über den Rücken, und unsere Augen leuchteten vor Spannung, während wir andächtig lauschten:... Es war einmal bei wolkenlosem Himmel. Die Diamanten der Nacht funkelten. Zwei lustige Zwerglein ( vielleicht sind es Göpfi, mein Freund, und ich gewesen !) stapften dem « Akademiker » zu. Die böse Berghexe hatte sie trotz der Dunkelheit erspäht und lockte sie schon in den ersten Felsen, gerade über dem Einstieg, auf falsche Fährte. Bald krabbelten die beiden Kobolde auf scheusslich brüchigem Fels. Wie mussten sie aufpassen! Sie merkten nicht einmal, wie die Hexe auf ihrem Besenstiel mit brausender Windeseile von Westen über den Piz Urlaun daherfegte und eine wuchtige WolkenwandDie Bezeichnung « Akademikerweg » stammt von der ersten Begehung, welche von Fynn, Brüderlin und W. A. Keller, alles Mitglieder des Akademischen Alpenklubs Zürich, ausgeführt wurde.

ù»-k- über die Bergkämme hetzte. Urplötzlich schüttete sie mit Kübeln Wasser über die Wand. Steine lösten sich und schössen pfeifend zur Tiefe. Da und dort zerspritzte einer auf einem Felsvorsprung in unzählige Stücklein. Die Zwerglein kauerten voller Angst an der Wand und glaubten sich verloren; doch die gütige weisse Fee hatte wohl auf sie achtgegeben und sie unmerklich geleitet. Mit fester Hand hielt sie einen Überhang über ihre Schützlinge. Hei, wie die kleinen Kerle froren und schlotterten! Pudelnass guckten sie unter ihrem tropfenden Felsen hervor und glaubten die Hexe zu sehen, wie sie auf grossen Wolkenbarren über den Selbsanft davonfauchte. Später blinzelte ein Flecklein blauer Morgenhimmel schelmisch in die Wand herab. Noch tropfte und rieselte es über Platten und Steine. Die Zwerglein flüchteten, und husch, husch ging 's im Eilschritt die unterste Schneerinne hinab. Die gute Fee hielt ihren dichten weissen Schleier, einem Bergnebel gleich, hoch oben über die Rinne und fing die Steingeschosse des Berges auf, so dass die Zwerglein heil davonkamen. Sie liefen über den Gletscher zu Tal und weil sie noch nicht gestorben sind, so...

Seither blickten wir mit mehr Ehrfurcht zur Bifertenwand empor. Bei abendelangem Pläneschmieden war stets auch vom « Biferten » die Rede. Jahr für Jahr stand er auf dem Programm. Jahr für Jahr musste ein neuer Versuch zurückgestellt werden.

Am Ende eines Sommers, der uns reichen Bergsegen gebracht, war mein Freund Göpfi nicht mehr zu halten. Da er für eine so lange und ernste Bergfahrt keinen passenden Gefährten fand — seine guten Kameraden waren abwesend —, durchstieg er die Wand allein; dazu war er ein genügend sicherer und ausdauernder Gänger. Wenn wir heute wieder beisammensitzen, so kramt er seine Erinnerungen an den « Bifertensteiss » aus und erzählt vom Langlauf den Bändern nach, vom Abstieg in Nacht, Nebel und Regen über Kistenpass und Muttsee, von seinem Ärger mit einer halbdefekten Taschenlampe. Erst am Montagmittag kehrte er zur Arbeit zurück. Und wenn er das lange, sehr lange Gesicht seines Patrons beschreibt, dann füllt sein frohes Lachen die Hüttenstube. Doch all das erzählt er nur unter uns!

Nun liess auch mir der « Biferten » keine Ruhe mehr. Viele Wochen und Monate fiel aber noch mancher Zettel vom Kalender. Fast tagtäglich beschäftigte ich mich mit dieser Bergfahrt. Wohl ist der Akademikerweg nach der Auffassung bergtüchtiger Gänger keineswegs problematisch, und bei günstigen Verhältnissen hat man kaum mit Steinschlag zu rechnen. Zum Problem wird diese Bergfahrt erst als Eintagestour. Das musste auch Göpfi erfahren. Rechnet man nämlich die Zeitangaben des Glarner Führers zusammen, so kommt man für Auf- und Abstieg ungefähr auf ein 24stündiges Tagespensum. Um diese Fahrt trotzdem an einem Tag mit rechtzeitiger Rückkehr durchführen zu können, entwickelten mein Freund Flex und ich die Theorie, dass die Zeitangaben des Klubführers um ein Drittel zu kürzen seien, und zwar durch Ersetzen des Abstieges durch eine Skiabfahrt und Wählen idealer Steigverhältnisse in der Wand bei Schneebelag im Frühsommer. Wird die Wand mein langjähriges Warten belohnen?

Anfangs Juni. Ein Tag mit langer Lichtdauer soll unser Unternehmen begünstigen. Das Morgenessen in der Fridolinshütte fällt sehr reichlich aus.

Beim kärglichen Flackern einer Kerze verschwindet ein ganzes Pfund Hafer-flocken-Porridge... Wahrscheinlich sind wir dabei andern Hütteninsassen als nicht « salonfähige » Gäste erschienen; aber sie hatten noch genügend Zeit, sich wieder zu beruhigen, da wir um 1 Uhr 45 die Hütte schon verliessen.

Ein frischer Wind schlägt uns ins Gesicht. Emsig klappern unsere Bretter auf dem hartgefrorenen Schnee der Einstiegsrinne entgegen. Dort beginnt die Arbeitsteilung, um das Gelingen der Fahrt sicherzustellen. Mein Freund opfert sich, auf seinem Rucksack unsere beiden Paar Sommerskis durch die Wand emporzutragen. Meine Parole heisst: mit leichtem Sack voran, schnell steigen und den schwerbeladenen Freund zuverlässig sichern.

Angst vor Steinschlag? Noch nicht, trotzdem die ferne Erinnerung an das erlebte Unwetter diese Furcht schürt. Wir wissen wohl, dass die Sonne, sobald sie die obersten Schneehänge der Wand erreicht, unweigerlich den Feuerbefehl für Stein- und Eisgeschosse erteilen wird. Jetzt ist es totenstill in der Wand. Kein Stein fällt. Nur der eiserne Beschlag kratzt auf dem Fels, und es knirscht, wenn der Schuh die gefrorene Schicht im steilen Schnee durchschlägt. Noch ist die Natur kalt und leblos, noch fehlt der beseligende Glanz des Sonnenlichtes. Alles scheint hart und ernst. Da, ein zartes Rot am Himmel! Schweigend bemerke ich es, während ich mich irgendwo mit aller Bereitschaft zum Sichern verstemme. Die Fackel des Tages streifte die Kuppe des Tödi und lässt sie feurig aufglühen, und wenn ich später meinen Blick wieder hebe vom Schneehang und vom Stufenschlagen, so ist die Sonne schon weitergeeilt, von Spitze zu Spitze, von den höchsten zu den niedrigeren. Immer mehr Licht strömt von Osten über die Berge, rieselt über die Bergflanken und verscheucht die Dunkelheit auch aus dem hintersten Winkelchen der Täler. All das ist für uns das wortlose Signal zu noch grösserer Eile. Eine vereiste Rinne im obern Wandteil kostet mehr Zeit als vorgesehen; aber unaufhaltsam drängen wir höher, und um 7 Uhr stellt mein Freund seine Last beim Signal von P. 3063 ab. Mein kräftiger Händedruck zollt ihm Anerkennung zu seiner Leistung. Hinter uns lässt die Sonne immer häufiger fallende Blöcke durch die widerhallenden Galerien der Wand poltern...

Um 8 Uhr nehmen wir die Gipfelflanke in Angriff. Wir holen nach links aus. Auch hier oben sind die Steigverhältnisse gut. Einige Stufen werden geschlagen. Eisfunken sprühen im Sonnenlicht.

Schlagartig gewinnt die Rundsicht an Weite, wie wir den Gipfelkamm betreten. Wenn das ein Nichtbergsteiger sähe! Er würde im Innersten seiner Seele Hans Morgenthalers Worte verstehen: « Das Erlebnis der Hoch-gebirgswunder hebt den Menschen mit einem einzigen, gewaltigen Ruck aus seiner faden Lebenssphäre in die Regionen eines geadelten Daseins empor. » Um 10 Uhr lassen wir uns auf den sonnenwarmen Blöcken des Gipfels nieder. Er bekommt übrigens seinen ersten Besuch im Jahr. Ein allerwelts-froher Juchzer schnellt in Riesensätzen über den Grat hinab zum Bündnertödi, wo eine Zweierpartie rastet. Sonst stört nichts den grossen Frieden. Wortlos saugen wir die sonnige Pracht der Heimat in unsere Herzen. Die ständige Rast zerfliesst wie ein Augenblick entweichenden Glückes! Ganz entrinnen lassen wir es allerdings nicht. Die Erinnerung bleibt, jenes Gefühl, das uns immerfort zu tatkräftiger Bergfahrt anspornt, zu neuer körperlicher und geistiger Aufrichtung.

Was schert es uns heute, dass der Abstieg durch die Flanke zu P. 3063 bei aufgeweichtem Neuschnee auf glattem Eis heikel und zeitraubend war? Die zermürbenden Gegensteigungen beim Kistenpass und vor Muttsee, scheinen sie uns heute noch so mühevoll? Das wiederholte, lästige An-und Abschnallen der Bretter, ist es nicht fast in Vergessenheit geraten? Denken wir noch an die vom Tauwasser aufgeweichte Erde, in die wir knöcheltief hineinsackten, um die Schuhe gluchzend herauszuziehen? Ist nicht der Ärger unserer Kameraden, die im Thierfehd mit dem Auto zwei Stunden auf uns warteten, schon längst verraucht? War überhaupt die Mühe und der tagelang andauernde Durst unnütz, dumm gewesen?

Nein und nochmals nein! Zu eindrucksvoll war der Morgen in der Wand, zu andächtig die Gipfelstunde, zu berauschend die Skiabfahrten im raschelnden Sulz. Die Erinnerung siebt eben von selbst das Unliebsame aus, giesst das Schöne und Erbauende um so tiefer in unsere Herzen, und darum höre ich die Stimme des « Biferten » schon längst von neuem lockend rufen: Wann kommt ihr wieder?

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