Der Claridenfirn
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Der Claridenfirn

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Rudolf Streiff.

Während einige Gletscher im Wallis und Berner Oberland schon am Ende des 14. Jahrhunderts gelegentlich in Chroniken Erwähnung fanden, wurden im übrigen die ungastlichen Gebiete der Hochgebirge zu jenen Zeiten kaum erwähnt und ängstlich gemieden. Wohl einer der Ersten war G. S. Gruner, der in seinem Werke « Die Eisgebirge des Schweizerlandes », Bern 1760, die Gletscher beschrieb und in guten Kupferstichen das Aussehen einiger Gletscher zu jenen Zeiten festhielt. So sehen wir dort den Rhonegletscher als dicken Eiskuchen im Talgrunde von Gletsch liegen, und auch auf dem Bild des Morteratschgletschers lässt die stark konvex gezeichnete Eiszunge auf damaligen hohen Eisstand schliessen. Unser Claridengebiet muss auf Gruner einen besonders starken Eindruck gemacht haben, denn er schreibt auf Seite 55: « ...so wird diese schweizerische Gegend eben so unbekannt bleiben, als wenn sie inmitten Grönlands gelegen wäre. » — An anderer Stelle gibt er vom Claridenstock folgende naive Beschreibung: « Die Gletscher schimmern mit einer seladon-grünen Farbe ungemein schön, und es ist sehr glaublich, dass diese Berge vollkommene Eisberge seien, mithin in ihrem ganzen Stoffe aus einem ununterbrochenen Eise bestehen und keine Felsen zum Grunde haben. » Sechzig Jahre später bereiste der berühmte Zürcher Forscher Johann Hegetschweiler das Glarnerland und betrat bei seinen zähen, aber vergeblichen Versuchen, den gewaltigen Tödi zu besteigen, den Claridenfirn wenigstens in seinen Randgebieten. Er beschreibt in seinem Werke « Reisen im Gebirgsstock zwischen Glarus und Graubünden, Zürich 1825 » den Anblick des Geissbützifirns von der Obersandalp aus und sagt auf Seite 43: «... der Firnsioss von 1818 liegt kaum 10 Schritte vom Oberslaffelbach entfernt und gibt von nun an einen sicheren Masstab für Zu- oder Abnahme. » Noch Ende der 60er Jahre sandte der Ostlappen des Firns einen Eislawinenkegel bis zur Sandalp hinunter, wie eine mir freundlich zur Verfügung gestellte Zeichnung von Albert Heim deutlich zeigt. Heutzutage ist der Eisrand viele hundert Meter weiter oben und berührt jene schöne Seitenmoräne nicht mehr, welche sich vom Geissbützistock in südlicher Richtung gegen Obersand hinabschwingt. Hegetschweiler hat den Claridenfirn auch von der Ostseite her angegangen und schreibt entzückt, wie ihm schon von Altenorenoberstaffel aus « das Ende des Claridenfirns in schönstem Blau entgegenschaute ». An anderer Stelle schreibt er: «.. .nach kurzem Gang gelangt man zum Zutreibislock, der breit und zweinackig dem Firn entsteigt. » So gab Hegetschweiler mit grosser Sorgfalt den Stand der von ihm besuchten Gletscher an, was uns heute erlaubt, die zurückgelassenen Moränen zeitlich zu datieren. Der schöne Moränenwall südwestlich vom Geissbützistock, die Moränen südlich vom Beckistöckli, am Rande des oberen Gemsalpeli und der äussere Moränenbogen im obersten Walenbachtal dürfen somit sicher als dem Gletscherstand von 1818/20 zugerechnet werden. Analog anderen Gletschergebieten sollten noch weiter unten Moränen des grössten historisch beglaubigten Gletscherstandes von 1620 vorhanden sein. In unserem Gebiet sind sie durch die Lawinen der hier schon breiteren Talhänge weggefegt. Erst weit unten, im sogenannten Kinzen, treten wieder schön erhaltene diluviale Moränen auf 1 ).

Wenige Jahre vor der Gründung des Schweizer Alpenclub überquerte Melchior Ulrich aus Zürich wohl als Erster den Claridenfirn in seiner ganzen Länge vom Maderanertal aus über Pianura nach Linthal. Im Neujahrsblatt der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 1860 ist dieser Übergang geschildert. Vorher, im August des Jahres 1858, machte er gleichsam zur Erkundigung mit Joh. Madutz von Matt, dem Führer des Naturforschers Oswald Heer, und mit dem Gemsjäger Thomas Thut, einem der ersten Tödibesteiger, eine Ersteigung vom Urnerboden her. Sie gingen über den Kammerstock zur Bärenbodenalp, wo sie übernachteten. Am 10. August erreichten sie über den Langfirn den Gipfel des Gemsfayrenstockes ( damals noch Oberorthaldenstock genannt ), 4 Jahre nach dessen Erstbesteigung durch Gottlieb Studer. Der Abstieg erfolgte über die Gemsfayrenfurkel gegen den Geissbützi- und Beckistock in das obere Gemsalpeli. Von dort drangen sie nördlich über die Lücke zwischen Gemsistock und Altenorenstock vor und erreichten dem sogenannten schwarzen Band entlang den Walenbach nach ihrer Beschreibung dort, « wo auf der Südseite des Oberorthaldenstockes eine Gletscherzunge in den Hintergrund der Schlucht sich herabzog ». Damit ist sicher erwiesen, dass der innere Bogen der Moräne im oberen Walenbachtal dem Gletscherhochstand um 1855 angehört. Die Abbildung 1 ist die Wiedergabe ( mit den nötigen Abänderungen in den Gipfelnamen ) einer Zeichnung von G. Studer vom 16. August 1854, veröffentlicht im erwähnten Neujahrsblatt 1860. Sie lässt deutlich erkennen, dass zu jener Zeit die Eiszunge noch gegen das Altenorental hinabfloss, dass die Felsen westlich der heutigen Clubhütte, über welche der Weg zum Claridenstock führt, damals noch hoch vom Eis überflutet waren und dass über die Furkel zwischen Geissbützistock und Beckistöckli ein muschelförmiger Eislappen gegen die Beckenen hinüber quoll. Dieser Eislappen bestand noch in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, wie die Abbildung 2 beweist. Diese ist die Wiedergabe einer Zeichnung von J. Weber vom 24. August 1873 ( vom Beckistöckli aus ) veröffentlicht in « Neue Alpenpost », Jahrgang 1877, Seite 42, mit Text von Albert Heim. Sie gibt ein anschauliches Bild des damaligen hohen Eisstandes und zeigt auch sonst schön die Struktur des Eises und die radiale Zerspaltung einer frei sich ausbreitenden Gletscherzunge. In der beigefügten Karte versuchte der Verfasser nach all diesen historischen Daten den Eisrand des Claridenfirns zu Anfang des letzten Jahrhunderts zu rekonstruieren.

Wer heute von Altenoren aus zur Clubhütte der Sektion Bachtel hinansteigt, sieht das Walenbachtal oben durch einen Felsriegel gegen oben abgesperrt. Etwa 300 m unterhalb dieser Talstufe überwindet der Weg im Zickzack nacheinander zwei deutlich erkennbare Moränenwälle, welche am Bachbett beginnen, nordwestlich ausbiegen und in der Mitte der Schutthalde an der Südwand des Gemsfayren sich verlieren. Es sind die Reste der Stirnmoränen von 1818 und 1854. Um den Felssporn westlich bei der Clubhütte windet sich ein gleichaltriger Moränenrand und breitet sich in mehreren konzentrischen Bögen dort aus, wo heute das feste Schneepegel steht. Betritt man die Höhe der vorerwähnten Talstufe im Walenbachtal, so hat man einen schüsseiförmigen Gletscherboden vor sich. Vor 10 Jahren noch musste man hier den Gletscher überschreiten, ehe man die Felsen erreichte, wo das Drahtseil zur Clubhütte hinaufleitet. Heute liegt der Gletscher ganz im Hintergrund als dünne konkave Eisschale. Die Mulde ist mit breiiger Grundmoräne erfüllt, in welche der Gletscherbach bereits wieder metertiefe Rinnen ausgefressen hat. Inselgleich überragen rundgeschliffene Felsen die Breimasse, siehe Tiefdruckbild. Am Abhang des Drahtseilfelsens fliessen träge Schutt- massen abwärts und stauen sich am Grunde zu dicken Wülsten. Im frischen, wasserdurchtränkten Zustand ist die Grundmoräne kaum zu überschreiten, nach ihrem allmählichen Austrocknen wird sie steinhart werden. Etwas anders ist der Rückzug des Gemsalpelilappens verlaufen, den M. Ulrich 1858 noch « unter den Wänden des Zutreibistockes » sah. Vor 15 Jahren blieb ein mit viel Moränenschutt ganz überdecktes Stück als sogenannter toter Gletscher zurück. Über diesen hinweg führte das Weglein zur Beckilücke nach Obersandalp. Wenige Turisten wussten, dass sie über Eis hinwegschritten. Erst der heisse Sommer 1921 hat das verraten, indem quer zum Weg Figur 2.

mitten im Schutt tiefe Spalten mit grünen Eiswänden auftraten. Im Herbst 1932 war die Hälfte des breiten Moränenhügels in schuttbedeckte Eisblöcke zerfallen, und eine ca. 6 Meter hohe Eiswand spiegelte sich in einem Seelein. Ein « toter Gletscher » kann da entstehen, wo eine im Rückzug begriffene Eiszunge eine starke Schuttbedeckung aufweist, wegen ausserordentlich starker Obermoräne oder infolge eines grösseren Felssturzes auf den Gletscher. Oberhalb, wo blankeres Eis den Sonnenstrahlen ausgesetzt ist, wird der Gletscher quer durchschmolzen, unterhalb bleibt das Gletschereis im Schutze der dicken Schutthülle zuweilen Jahrzehnte, unter günstigen Umständen selbst Jahrhunderte lang bestehen und ist dann nur dem geübten Auge sichtbar.

Der Claridenfirn nimmt unter den Alpengletschern eine besondere Stellung ein. Wir unterscheiden bekanntlich drei Arten von Gletschern:

1. Inlandeis-Typus, den Polarzonen angehörend, von der Form eines flachen Schildes ohne bedeutend überragende Gipfel und mit breiten Abflüssen oft direkt zum Meere.

2. Alpiner Typus, den steilen Hochgebirgen angehörend. Das Sammelgebiet hat die Form einer Mulde, umrahmt von steilen Gipfeln und Gratwänden. Der Abfluss bildet einen Eisstrom in einem mehr oder weniger engen und steilen Tale.

3. Skandinavischer Typus. Dieser Typus nimmt eine Mittelstellung zwischen den beiden vorgenannten ein und kommt, wie sein Name andeutet, hauptsächlich in Skandinavien vor.

In der Schweiz sind fast alle Gletscher vom alpinen Typus, nur wenige kommen dem skandinavischen nahe, so z.B. unser Claridenfirn, welcher von dem Kulminationspunkt Pianura aus Abflüsse nach allen Himmelsrichtungen sendet. Nur beim westlichen Abfluss, dem Hüfigletscher, kommt es zur Ausbildung einer reinen Gletscherzunge. Die südlichen Abflüsse, d.h. der Spitzalpeli- und Geissbützifirn, sind wilde Gletscherbrüche. Der Ostabfluss bildete nur bis Mitte des letzten Jahrhunderts eine typische Eiszunge gegen das Walenbachtal hinunter. Infolge des starken Rückzuges sind auf dieser Seite heute nur zwei konkave Zungen, der Altenoren- und Gemsalpelilappen, als Reste der einstigen stolzen Gletscherzunge verblieben.

Die Zürcher Gletscherkommission sucht durch ihre Messungen den Ursachen des Gletscherschwundes auf die Spur zu kommen, indem sie die Niederschlagsmengen im Firngebiet feststellt, den jährlichen Firnüberschuss am Ende der Schmelzperioden in verschiedenen Meereshöhen misst, die Bewegung der Gletscherränder überwacht und nebenbei für alle Erscheinungen, die mit dem Gletscher in Beziehung stehen, ein wachsames Interesse hat. Sie arbeitet in engster Fühlung mit der Gletscherkommission der Schweizer Naturforschenden Gesellschaft. In Figur 3 ist die Arbeit von 16 Jahren in graphischer Darstellung zusammengefasst.

Die Niederschläge werden im Totalisator auf dem Geissbützistock, 2720 m über Meer, gesammelt. ( Tiefdruckbild. ) Der Niederschlag eines hydrographischen Jahres, von Mitte September bis Mitte September, beträgt im Mittel 3520 mm, während gleichzeitig bei der Talstation Auen-Linthal, in 750 m Höhe, nur 1638 mm gesammelt werden. Abgesehen vom extremen Jahr 1921 zeigen die Niederschlagshöhen ein ziemlich gleichförmiges Bild. Viel stärkeren Schwankungen, bis über 100 %, sind dagegen die Mittelwerte der Sommertemperaturen Juni bis September unterworfen. In unserer Tabelle sind die Werte vom Säntis angegeben, weil keine kontinuierlichen Messungen vom Claridengebiet vorliegen. Die Verhältnisse werden jedoch ähnliche sein. Der Säntis ist zwar niedriger, aber als isolierter Gipfel wird er ebenso kalt sein als das höhere Claridengebiet, das dafür auf einer Massenerhebung liegt. Den stärksten Schwankungen ist der Firnüberschuss ausgesetzt, den wir jeweilen bei den Fixpunkten in 2700 m, respektive 2900 m Meereshöhe messen. Bringen wir nun die beiden Faktoren Niederschlag und Sommertemperatur zum Firnzuwachs in Beziehung, so erkennen wir leicht, dass der Verlauf der Sommertemperaturen von viel ausschlaggebenderem Einfluss ist als der Niederschlag, wie es schon R. Bülwiller in den Annalen der Meteorischen Zentralanstalt 1930 klar nachgewiesen hat. Das gilt zwar in unseren Alpen nur für die Höhenlagen unterhalb ca. 3300 m, wo die Gesamtfläche der Firne und Gletscher zugleich am grössten ist. In den Höhen über 3300 m spielt die Sommerwänne nur noch eine geringe Rolle, hier ist die jährliche Niederschlagsmenge von grosserer Bedeutung, dagegen ist hier die Akkumulationsfläche dafür kleiner. Für das Gletscherwachstum sind beide Faktoren, Temperatur und Niederschlag, von Bedeutung. Beim Nieder- schlag ist die Wirkung sehr verschieden bei gleicher Menge, je nachdem er in einzelnen, aber grossen Massen falle mit längeren sonnenreichen Pausen oder in vielen kleinen Mengen verteilt über viele starkbewölkte, daher kühle Tage. Aus unserer Tabelle Figur 4 sei ein Beispiel herausgegriffen: Anno 1925 war der Niederschlag sehr klein, der Firnzuwachs dennoch 93 cm bei der unteren Boje in 2700 m und 3,22 m bei der oberen Boje in 2900 m Höhe, weil die Temperatur im Mittel nur -f- 3 Grad betrug. Im Jahr 1928 war dagegen der Niederschlag grösser, dennoch bei beiden Bojen je ein Defizit im Firnhaushalt zu konstatieren, weil die Sommertemperatur die höchste der 16 Beobachtungsjahre war. Die Tabelle zeigt auch, dass wir uns in 2700 m nur wenig oberhalb der klimatischen Schneegrenze befinden, weil von 16 Jahren schon 5 Defizitjahre sind, während bei 2900 m Meereshöhe die Akkumu- lation nur in Ausnahme jähren unterbrochen wird. Der Mittelwert des Firnzuwachses ergibt bei 2700 m nur 0,90 m, bei 2900 m aber schon 3,32 m pro Jahr. Das ist scheinbar eine respektable Menge, und dennoch haben wir den klaren Beweis, dass sie nicht genügt, um die Gletscher vor dem Schwund zu bewahren. Das Kurvenbild in Figur 3, nach P.L. Mercanton, « Les Variations périodiques des Glaciers des Alpes Suisses » gezeichnet, veranschaulicht die Bewegung einiger Gletscherzungenenden im gleichen Zeitraum. Es scheint dem eben Gesagten zu widersprechen, weil mit Ausnahme des grossen Aletschgletschers alle anderen mehr oder weniger auf dem Ausgangspunkt des Jahres 1915 ( Periode des Vorrückens ) wieder angelangt sind oder gar noch darüber hinausstehen, wie der AUalin z.B. Dem ist nicht so, denn im Jahre 1915 waren die Gletscherzungen konvexgewölbte, dicke Eismassen, zum Teil umrahmt von Wülsten frisch aufgepflügter Moränen. Am Fusse der Eisbrüche breiteten sich starke Eislawinenkegel aus. Ende 1932 sahen die gleichen Gletscher, obwohl mit ihrem Ende am gleichen Ort stehend, ganz verändert aus! Sie sind eingesunken, vielfach sogar konkav, lassen oft tote Gletscherstücke zurück. Die Oberfläche der Firnböden hat sich gesenkt, was wir an der Veränderung der Überdeckungen ( Visierlinien ) bei den Fixpunkten erkennen können. Die einst dicken Firnkissen in hohen Lagen sind auch dünner geworden, und früher niegesehene Felsen treten als Inseln aus der Firnfläche heraus. Dem gelegentlichen Bergsteiger fallen diese langsam fortschreitenden Rückbildungen nicht auf. Erst beim aufmerksamen Vergleich alter Photographien mit neuzeitlichen, sofern diese vom genau gleichen Standpunkt aufgenommen sind, zeigen sich die Veränderungen. Wenn Bilder wissenschaftlichen Wert haben sollen, müssen sie örtlich leicht fixier-bar sein und das genaue Datum der Aufnahme enthalten. Das neue photogrammetrische Verfahren erfasst die Veränderungen in viel genauerem Masse, und zwar nicht nur in bezug auf die Umrandung, sondern auch auf die Volumen der Gletscher.

Im Gletscherhaushalt haben Lage, Form und Gefälle der Firnsammelbecken verschiedenen Einfluss auf die Beweglichkeit der Zungenenden. Diese reagieren auf die Niederschlagsmengen, welche oberhalb fallen, nach ungleichen Zeiten, gerade wie nach einem Gewitter über einem Gebirgsstock die Hoch-fluten der Bäche zu ungleichen Zeiten im Talgrund ankommen. Wir haben in Figur 3 neben dem grössten Gletscher der Alpen die Kurven solcher Gletscher gewählt, welche ein ungefähr gleich grosses Einzugsgebiet haben, jedoch verschiedene Himmelsrichtungen. Der Aletschgletscher scheint ein Eigenbrödeler zu sein; denn zur Zeit, da seine Kollegen vorrückten, gefiel ihm das Zurückweichen, da nun die anderen zurückgehen, macht er Miene zum Stillstand! Der verschiedene Verlauf der vier anderen Kurven lässt erkennen, dass die Bewegungsänderung der Zungenenden allein keine eindeutigen Schlüsse über Klimaschwankungen erlaubt, noch weniger ein richtiges Bild des Wasserhaushaltes der Gletscherbäche ergibt, sondern dass zu diesem Zwecke in weitgehender Weise die Masse, das Volumen des ganzen Gletscherkörpers herangezogen werden muss, was nun in neuerer Zeit geschieht.

Die Karte, welche unter Benutzung des T. A. vom Verfasser umgezeichnet wurde, zeigt die Lage der beiden Fixpunkte, an welchen wir die jährlichen Messungen des Firnüberschusses vornehmen. Wir stellen in diesen Punkten geeichte Holzstangen auf, streuen Ocker in bestimmter Richtung und Entfernung. Im Winter und Frühling fällt Schnee darauf, der Sommer und Herbst schmilzt diesen ganz oder teilweise weg. An den Stangen können wir von der Spitze bis zur Firnoberfläche ablesen, wie viel Zentimeter herausragen, und da wir wissen, wieviel die Stange beim Einpflanzen über den Firn emporragte, ist der Firnüberschuss durch Subtraktion bestimmt. Zur Kontrolle wird nach dem letztjährigen Ocker gebohrt oder gegraben ( Figur 4 ). Der Fixpunkt ist jeweilen durch die Visierlinien ( Überdeckungen ) genau bestimmbar, die Abwanderung der Boje mit dem fliessenden Firn vom Fixpunkt kann direkt gemessen werden. Es ist ja bekannt, dass sowohl der Firn wie das Gletschereis fliessen. Am Punkt 2900 m beträgt die jährliche Wanderung durchschnittlich 14 m in der mittleren Richtung N 65 o E. Der mutmassliche Weg dieser Boje geht längs der Bock-tschingelwand bis zum Punkt, wo der Firnzufluss vom Bocktschingel selbst einmündet. Die Richtung wird von hier ab gegen den Firnabbruch des Geissbützi allmählich eine südliche werden und nach Ablauf von rund 100 Jahren wird die erste Boje im Eisbruch ob der Geissbützi erscheinen. Beim unteren Fixpunkt 2700 m über Meer ist die Bewegungsrichtung weniger konstant. Die jährliche Wanderung variiert zwischen 3 und 5 Metern, hat im allgemeinen eine südliche Richtung mit stark östlichen und westlichen Abweichungen in einzelnen Jahren. Wir stehen halt hier in einem Mittelpunkt von verschiedenen Eisströmungen, welche ihren ungleichen Einfluss geltend machen. Diese Boje wird vielleicht in ca. 150 Jahren in den Seraks des Geissbützifirns erscheinen.

Kalte und trockene Witterungsperioden werden wenig Schwankung in der Höhe der Firnoberfläche hervorrufen. Bei Schneefall hebt sich selbstredend das Niveau, umgekehrt senkt es sich bei Sonnenschein, warmem Regen und Wind oder leichter Bedeckung. Häufige Ablesungen an den Bojen werden Klarheit bringen über die Stärke des Einflusses eines jeden der erwähnten Wettertypen. Wir empfehlen deshalb unsere Firnbojen dem Schutze der Alpinisten, und wir sind jedem dankbar, der eine Bojen-ablesung besorgt und uns mitteilt. ( An Dr. Billwiller, Meteorologische Zentralanstalt, Zürich. ) Zu den Zeiten eines Hegetschweiler und Ulrich war das alpine Landschaftsbild von eindrucksvoller Grösse. Unsere Generation bedauert, dass ihr die Entdeckerfreude der Pioniere des Alpinismus zum Teil genommen ist, da kein jungfräulicher Gipfel, ja kaum eine unerstiegene « Nordwand » in den Alpen verblieben ist, und dass nun auch an die Stelle der blaugrünen, zerrissenen Gletscher langweilige Schneefelder oder gar öde Steinwüsten treten sollen. Könnte uns da nicht um den Alpinismus bange werden? Mit nichten! Noch bleibt uns viel zu tun übrig. Auch der schwindende Gletscher hinterlässt interessante Spuren, denen zu folgen viel Freude macht, und mancher Bergsteiger wird das Werden der nachrückenden Pflanzendecke mit Spannung verfolgen.

Es herrscht ein ewiger Wechsel in der Natur. So kann einst eine Zeit kommen, da die Eislawinen wieder häufiger donnern, der Gletscher schwillt und Land erobert, so dass dann der Ursprung alter Sagen, wonach der zürnende Berggeist blühende Alpen zur Strafe für menschlichen Übermut durch Gletscher vernichten liess, in vielleicht unheimlicher Weise verständlich wird.

PS. Dieser Aulsatz war schon gedruckt, als mir im Hause des Dr. J. Mercier in Glarus ein kolorierter Stich zu Gesicht kam: " Sand Alp contre le glacier du Spitz Alpt, Dessiné après Nature et gravé par H. Thomann, 1788.

Auf diesem sehr naturwahren Bild sieht man den Geissbützifirn bis auf den Alpboden herab gezeichnet in Übereinstimmung mit der späteren Schilderung von Hegetschweiler.

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