Der Himmelsherold
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Der Himmelsherold

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Franz Faldum

« Eritricium nanum » heisst der Fachausdruck. 2 bis 5 cm hoch, lockere Polster bildend; kleiner als das Alpenvergiss-meinnicht, mit seidig glänzender Behaarung und höchstens 6 Blüten pro Stengel. Felsspalten und Felsschutt in den Zentralalpen zwischen 2500 und 3000 Meter ( alpin ) auf kalkarmem Gestein, ziemlich selten. Alpenpflanze ( nahverwandte Arten in den Karpaten und im Kaukasus ).

So steht 's im Büchlein « Unsere Alpenflora » von Elias Landolt, und auf der Rückseite des Umschlags heisst es weiter: « Die Alpenpflanzen werden dem Bergsteiger und Wanderer immer durch ihre Farbenpracht auffallen. Wer sich etwas Zeit nimmt, kann auch an der Mannigfaltigkeit der Formen sich begeistern und die Schönheit von manchen, scheinbar gewöhnlichen oder unscheinbaren Pflanzen entdecken. » So ist es mir genau mit dem « Himmelsherold » ergangen. Dass er unscheinbar ist, kann das « 2 bis 5 cm hoch » bekunden. Nicht umsonst weist der Fachausdruck « nanum » ( nanus = der Zwerg ) auf seine Bescheidenheit hin. Beim « ziemlich selten » aber sticht den Wanderer der « Gwunder », und beim Finden überströmt den Glücklichen ein wohliger Schauer, als ob er eine Goldmine entdeckt hätte. Es geht ihm wie beim « Schatz im Acker », den einer findet und durch den Kauf des Ackers sich die Kostbarkeit zu sichern sucht.

Thomas schützt und pflegt einen Alpengarten von etwa 600 verschiedenen Pflanzen; allein 60 Saxifragia sind dabei. Er ist für alles Schöne und Gute aufgeschlossen, und als Hobby kennt er auch die genauen Höhen unserer Viertausender. Er nahm es bei unserer Wanderung mit einem 16jährigen Burschen auf, der sich freute, mit gleicher Kenntnis den Wettstreit durchzuhalten. Thomas weiss in verschiedenen Wissensgebieten Bescheid, obwohl er nie die Bänke höherer Schulen gedrückt hat. Er spielt ebenfalls mit seinen in der Gärtnerarbeit strapazierten Fingern vortrefflich die Violine in Salon und Kirche, zu Hause und in Konzerten und wandert gerne durch die Höhen und Täler unserer lieben Heimat.

Mit ihm war es mir vergönnt, zur Piergiahütte aufzusteigen ( die Namen sind, im Unterschied zu den Tatsachen, aus Liebe zum « Himmelsherold » frei gewählt ).

Wer nun beim Aufstieg die Namen der einzelnen Blumen und vieler Gräser nennen konnte, und zwar mit den lateinischen Fachausdrücken, war Thomas. Mein Beitrag war hin und wieder die deutsche Übersetzung. Sogar « Familienge-heimnisse » der besuchten Pflanzen wusste er auszuplaudern oder dass sie nun kaum mehr zu entdecken seien, weil Höhe, Luft und Klima ihnen nicht mehr passten. Dafür tauchten andere « Alpine » auf, zitternd im Bergwind, aber solid verankert im zusagenden mineralgesättigten Erdreich. Ein Erdrutsch hat den Pfad passiert. Aber schon blüht wieder auf einer Scholle eine Siedlung « Campanula » im zarten Blau. Jeder Hauch lässt sie « läuten ». Sie scheint mit ihrem Dasein das weitere drohende Rutschen aufhalten zu wollen und zu läuten und zu warnen, wenn der Boden unter ihrer zarten Wurzel sich talwärts bewegen will.

Ich vergass die Mühe des Aufstieges. Oben grüssten die Viertausender, unten die Microkos-men, mich zwiespältig machend, wem der Siegespreis gehöre. Teile ihn beiden zu; du wirst dir glücklicher vorkommen; denn ein launenhafter Richter könnte leicht ein ungerechtes Urteil fällen.

Die Hütte kam in Sicht. Gewöhnlich kreisen die Gedanken um die Uhr: noch 15 Minuten, denen wir, gewitzigt, weitere io hinzufügen. Wir möchten uns vor leidigen Enttäuschungen schützen. Diesmal war uns die Schätzung gleichgültig. Wenige Meter vor der Hütte kniet mein Freund auf einmal mit johlenden Rufen auf den harten Boden nieder, vor einem Polster mit kleinen, blauen Blütchen dem « Himmelsherold !» Er lacht und weint vor Freude und kann sich kaum satt sehen an dieser kleinen Majestät. Etwas wie Anbetung bewegt seinen Körper. Zum erstenmal ist eine grosse Sehnsucht seines Lebens in Erfüllung gegangen. Ich stehe überrascht daneben, unfähig zu überlegen, ob ich stehen oder ebenfalls knien soll. Jedenfalls überkam mich damals etwas wie Ehrfurcht und Liebe zu diesem seltenen Bergbewohner in freier Natur - und dazu noch in nächster Nähe einer Hütte. Wir waren ebenfalls glücklich ob der unberührten Schönheit, da offenbar die meisten Gäste sie nicht kennen; sonst wäre wohl ihre Existenz bedroht. « Die Täler sind ihre Särge, dort muss sie schnell verblühn. » Die felsen- und charakterfesten Naturschützer werden mir diese Befürchtungen verzeihen. Und wieder führte eine Wanderung ins Bergtal hinauf. Wieder grüssten Firne herein und begleiteten mich die rauschenden Wasser des Bergbaches, die manchen Felsblock umspülten, der nicht gewillt war, ihrem Drohen zu weichen, getreu dem eidgenössischen Vorbild: « Stehn wir den Felsen gleich, nie vor Gefahren bleich, Schmerz uns ein Spott. » Was allerdings im Zeitalter der Pülverchen und Pillen leicht nostalgisch anmutet.

Dann führte der Pfad zum Pass hinauf. Die Lärchen blieben zurück. Ich wählte die « Gerade », eine mühsame Plackerei, stiess jedoch dabei auf manches « Alpine », das an der « Landstrasse » nicht mehr zu treffen war. Es schien, als ob meine Schweisstropfen manche Blume erst zum Erblühen brächten.

Endlich oben, lädt eine natürliche Felsbank zum Rasten ein. Die erkämpfte Aussicht ist herrlich, der schonende Bergwind köstlich, der Puls noch in Volldampf. Noch einige tiefe Schnaufer -dann wendet sich ein materialistisches Gelüsten dem Rucksack zu. « Spartanisch » war der Gesamteindruck. Immerhin ein ungefährlicher « Landjäger » nebst Begleitung stand zur Verfügung, das hungrige Interesse zu besänftigen. Gegen Ende des « Bankettes » prüfte ich auch meine nähere Umgebung, und - ein Bissen blieb mir im Halse stecken - da entdecke ich zu meiner Linken den « Himmelsherold ». Ein derart köstliches Dessert wurde mir meiner Lebtag nie aufgestellt. Offenbar verfolgt mich hin und wieder ein holdes Blumenglück. Gäbe es keine schlimmeren Verfolgungen! Im nahen, sehr bescheidenen Bergrestaurant befragte ich, neben andern, suppen-technischen Geschäften, die Wirtin, ob sie den « Himmelsherold » kenne und wisse, dass er in der Nähe zu finden sei. « Ja, ja, den kennen wir sehr gut und versuchten auch schon wiederholt, ihn zu verpflanzen, um ihn in unserem Alpengärtlein besonders zu behüten. Es ist jedesmal falliert. » — « Dann gebt ihr ihm wohl die Freiheit wieder? » — « Selbstverständlich! » — « Und werden seine engste Heimat nicht jedem Touristen verraten. » -«Selbstverständlich! » - Nach Jahren - so vieles hat sich unterdessen gründlich geändert — wagte ich es, mich schonend und vorsichtig nach meinem Sorgenkind zu erkundigen. « Kommen Sie, ich will es Ihnen zeigen. » Doch die Blütezeit war vorbei. Dafür beschrieb mir der Wirt ein anderes Heim des « He-rolds » in der Nähe, dessen Besuch ich auf später verschieben musste. Nach dem Aufstieg in eine andere Clubhütte reichte die Zeit zum Besuch eines in der Nähe aufragenden Aussichtspunktes. Ich wurde enttäuscht. Schon der Zugang über schwankende Moränenklötze war nicht besonders ergötzlich, vielleicht für gern turnende Bubenbeine, aber nicht für Knochenstengel, denen der Alte mit einem zweiten Paar Wadenstrümpfe zu einigem Ansehen verhelfen will. Immerhin: die Ruhe und Einsamkeit war genüsslich, samt der kühlenden Frische des Bergwindes und dem Rauschen der fer- nen Wasser, die nun eisigkalt den Gletschern allüberall entströmten, wie ein zur Sonne aufsteigender Gesang. Das Brummen eines Helikopters schaltete sich ein, der von irgendwoher zurückkehrte, diesmal mit einem tragbahrenähnlichen Bündel am herabhängenden Seil. Ein verunfallter Tourist? Deren es in jenem Sommer reichlich viele gab.

Die Sonne trat ins letzte Viertel. Auch schmerzte langsam ein gewisses Polster. Ein Aufstieg zu diesem bescheidenen Felsblock konnte noch vergnüglich sein. Man will doch im Leben so gerne oben sein, natürlich nicht so offenkundig. Hier lässt sich ungestört dieser Eitelkeit frönen. Ich glaube noch gesungen zu haben: « Da droben thront der Friede », wenigstens objektiv. Subjektiv darf man wohl nicht so leicht mit sich selbst « zu-Frieden » sein. Da bemerkte ich zu Füssen des Gesteins ein kleines, blaues Polster. « War'das ein Glück, zum drittenmal den ,Himmelsherold' entdecken zu dürfen !» Zu hastig erfolgte der Abstieg. Der Kratzer am Handrücken ist mir diesmal gleichgültig. Wahrhaftig: es stimmt mit dem Glück! Unbewusst kniete nun auch ich vor seiner Majestät, und es hätte noch manchmal geschehen müssen; denn die nähere Umgebung gab noch manchen Brüdern und Schwestern Grund und Boden, eine karge, aber nahrhafte Heimat. Ich besuchte sie im nächsten Jahr erneut. Und trotz der köstlichen Bilder in Alpenflorabüchern musste ich mir ein Bildchen knipsen. Denn das bildhafte Zeugnis spricht lebhafter vom Erlebten. Und wer 's nicht glauben will, dem kann ich 's farbig auf Weiss bezeugen, mit oder ohne das strahlende Licht des Projektors. « Wo sind die drei Fundstellen des Himmelsherolds? » Eine begreifliche Frage. Der Leser entschuldige, wenn ich sie nicht beantworte. Papa Schröter verschweigt in seinem grossen Werk der Alpenflora manchen Standort, so z.B. auch jenen der weissen Alpenrose, obwohl sein Werk in erster Linie für Fachleute bestimmt bleibt. Dem verständigen Freund gegenüber wird er gesprächiger gewesen sein. Wie jener Professor am Stallerberg.

Beim Aufstieg erkundigte sich mein Begleiter nach einer bestimmten Blume, deren Kenntnis ich nach einem nur flüchtigen Blick verneinte. Ich war damals noch jung an Jahren. Diese Unkenntnis aber erfüllte zwei alte Herren vor uns mit Entsetzen. Sie hatten uns offenbar beobachtet. Und jetzt ging die Strafpredigt los: « Was haben Sie vorhin gesagt? Sie kennen diese Blume nicht? Das ist die ,gentiana communis '. Sie kommt überall vor. Ich bin Universitätsprofessor, 83 Jahre alt, und habe ein Werk über die Alpenpflanzen verfasst. » Was sein Freund lebhaft bestätigte. Dies alles, sehr professoral vorgetragen, liess mich, wenigstens innerlich, zerknirscht zusammenbrechen, allerdings auch mit dem Gedanken: Welches Glück, bei diesem Professor kein Examen machen zu müssen.

Nun, wir fanden uns am gleichen Abend im gleichen Hotel, schlössen Frieden, auch innerlich, und begossen diese kostbare Blume mit sehr köstlichem Nass, sogar mit dem Versprechen eines Besuches, auch im Thomas-Alpengarten. Eines Besuches, der nicht mehr zustande kam.

Jahrzehnte sind seither verflossen. Vielleicht blüht auf dem Grab des Herrn Professor die « gentiana communis ».

« Verkündet Seine grossen Werke bei den Völkern und macht bekannt, dass hocherhaben ist Sein Name », Is. 12, 6.

Auch ein kleinstes Geschöpf kann Herold der Grosse Gottes und des blauen und metaphysischen Himmels sein.

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