Der Hügelberg
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Der Hügelberg

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Max Oechslin, Altdorf

Neben den klingenden Namen, wie Piz Bernina, Tödi und Glärnisch, Titlis, Basodino, Jungfrau, Matterhorn und Dents du Midi, um nur einige wenige im herrlichen Geviert unserer Schweizer Alpen zu nennen, verschwindet derjenige des Hügelberges gleichsam ins Unbekannte.

Und doch hat mit ihm schon mancher grosse Bergsteiger und weltweite Bergwanderer, ja selbst schon mancher unsterbliche Wissenschafter der Alpenkunde seine Laufbahn begonnen und diesen als Erstbesteigung in sein Fahrtenbuch eingetragen, nachträglich, denn als er den Hügelberg beging, dachte er noch nicht daran, über solcherlei Buch zu führen.

Und das geschieht so:

Da steht ein Junge in einem engen oder weiten Talboden, schaut vom Dachbodenfenster oder vom Dorfrand aus hinüber zu den aufwärtsstrebenden Hängen, die sich in der Höhe verlieren, oder hinaus, hinab ins Tal, wo sich dieses in grüner Weite breitet oder gar von einem See gesäumt wird; er schaut hinauf zum Himmel, wo ihn am Tag die Sonne blendet, so er in sie hineinschauen will, und des Nachts die Sterne flimmern und ab und zu einer gar hurtig wie eine winzig kleine Feuerkugel vorüber-huscht. Und wenn er so ringsum Ausschau hält, dann ahnt er, dass es ausserhalb seines Dorfes und Tales noch andere Dörfer und Täler geben muss, hinter dem Hügelzug, ennet dem Talausgang und See - und vielleicht noch hinter dem hohen Bergrand zuoberst im Tal. Und der Knabe sinnt in sich, behütet alles wie ein Geheimnis - das vom Hügelberg nämlich. Denn da steht diese Anhöhe mit dem steilansteigenden Waldhang, Hunderte von Metern höher hinauf als Hausdach und Kirchturm, tausendmal grosser als er, den man noch vor wenigen Wochen den « Dreikäsehoch » geheissen, als er ein Fragen nach diesem Hügelberg über den Mund brachte. Und er sieht, wie oben, zuoberst auf dem Hügelberg, kein Wald mehr ist, wie dort eine Wiese sich breitet und ein Haus darin steht. Ob das die Märchenweide ist, von der er eines Nachts geträumt hat?

Was Wunder, dass der Junge eines Tages in stiller Morgenstunde ausreisst, nicht ahnend, welche Aufregung dies ins Haus bringt, nicht daran denkend, wie damit im Dorf ein Hin und Her sich ergibt, bis er am Abend zurückkommt und die Seinen es nicht recht verstehen wollen, dass in des Knaben Augen ein wundersames Leuchten ruht, das sagt: Ich war auf dem Hügelberg und habe eine weite, weite Welt gesehen!

Zum Dorf hinaus war er gewandert, fast mehr gelaufen als geschritten, hatte bemerkt, wie in des Nachbars Stall der Knecht schon beim Melken sass, sah, wie Ammans Ruedi mit seinem Rückenkorb, in welchem er allerlei Ver-käufliches mittrug, auf die Strasse ging, um rechtzeitig im Nachbarstädtchen zu sein, und traf halbwegs den Försterhans mit der langen Säge unterm Arm, an der Schnur über die Schulter, und dem verwetterten Hut auf dem Kopf. Und dieser gab ihm frohen Morgengruss und fragte ihn gar nach dem Wohin. Und da sagte er ihm, fast zaghaft: « Dort hinauf- auf den Hügelberg. » Kostbar war des Försters Antwort, dass sie so ein Stück weit selbander gehen könnten, da auch sein Weg halbwegs den Waldhang hinaufführe. Ei, war das ein fröhliches Wandern durchs Wiesenfeld, in welchem eine Drossel ihr wechselreiches Lied sang, ab und zu unterbrochen von einem « Zipp, Zipp », das ihm der grosse Mann als Fluchtruf deutete. Und kurz darauf gewahrte er, wie der braunrückige Vogel aufflog und zum Waldrand flüchtete. Auf gutem Holzkarrweg stiegen sie den Hang hinauf. Laubwald stand da, mit stämmigen Buchen und rauhborkigen Eschen. Je höher sie stiegen, um so mehr mischten sich Tannenbäume darunter. Als sie, halbwegs, die Holzerhütte erreichten, standen sie mitten im Nadelholzwald.

« So, nun geh nur dem Weg nach weiter. Du kannst ihn nicht verfehlen, und dann kommst du zur Buckelwiese. » Der Förster blieb zurück bei zwei Holzhackern, die schon da waren. Der Knabe stieg weiter, kaute an einem Stück Brot, das er zu Hause noch in den Sack gesteckt hatte, stieg höher und höher, wohl schon an die zwei Stunden lang. Er verspürte die frische Waldluft - trank sie in sich hinein. Sah einen Hasen davonlaufen; der glich den Kaninchen, die der Hanspeter im Ställchen in seinem Garten hielt. Vögel aller Art waren zu hören und huschten durchs Astwerk der hohen Bäume oder durch das Niederholz der Büsche. Ein Eichhörnchen turnte von einem Ast zum andern; er erkannte es, denn es glich genau dem Bilde in seinem Büchlein.

Und dann hörte der Wald auf.

Er stand am Fuss der Wiese, durch das ein schmales Weglein höher führte. Wie geradeaus in den wolkenlosen Himmel hinein. Fast zaghaft folgte er ihm. Seltsam kam es über ihn. Er wusste nicht recht, ob es das Gefühl von Hunger war? Von Durst? Von etwas ihm ganz FremdemNur eine Viertelstunde weit musste er hinauf. Und dann hörte die Wiese auf. Er stand auf dem Buckel des Hügelberges -und hinter diesem ging die Wiesenfläche wieder abwärts, auch in einen Wald hinein, der sich hinabsenkte zu einem andern Tal.

Und da stand nun der Knabe auf der Höhe des Hügelberges und sah von ihr aus in die Weite, rundum: Täler neben Tälern, Hügel hinter Hügeln, Dörfer, Häuser, Strassen und Flüsse, hinter sich den See seines Tales, aus dem er aufgestiegen war, weiter einen andern, kleinern See und weitweg noch einen, zu dem ein silbernes Flussband sich hinzog. Und sonnenwärts erkannte er einen Saum von Bergen. Wirkliche Berge mit glänzenden, weissen Firnen. Es hatte kein Ende. Alles war wie ein Märchen. Wie in den Märchen, denn vom einen wie vom andern war etwas zu sehen. Immer wieder etwas. Er wusste nicht mehr recht, wo die Dinge alle hingehörten.

So sah der Knabe zum erstenmal die Weite seines Landes, seines Tal- und Berglandes. Vom Hügelberg aus!

Es war später Nachmittag, als er zurückkehrte. Da gab 's Fragen aller Art. Das Warum und Wozu fehlten nicht. Auch dass es etwas ganz Unartiges sei, was er getan, und dass er das nicht mehr tun dürfe. Hungrig war er. Aber er musste schon früh am Abend zu Bett, ohne Nachtessen. Weshalb eigentlich? Er hatte doch nichts Böses getanAls dann aber die Sandmännlein sein Bett umstellt hatten, da träumte er ein wundergleiches Märchen, das nur diejenigen Menschen zu erleben und zu verstehen mögen, die Bergsteiger werden und Bergsteiger sind und Bergsteiger bleiben.

Und der Knabe wurde ein Bergsteiger. Schrittweise. Jahr um Jahr immer etwas mehr; gemessen, behutsam, aber in sicherer Schulung. Und er blieb es während Jahren und Jahrzehnten. Er traf Kameraden und Freunde, die von einer gleichen Glut erfasst waren, stieg mit ihnen zu den Bergen mit Schnee und Eis hinauf, in die weiten Einsamkeiten, in denen die Stille zur Predigt wird, die irgendwie ein Tönen und Vertonen in das Herz und in den ganzen Menschen legt, dieses Predigen, das unerschöpflich dableibt im Leben eines Menschen, als ein Nachtönen wie das Klingen eines Glockenspie-les, das am Sonntag im Tal die Menschen zur Kirche ruft, um zu hören des Herren Wort.

Immer wieder sah er die Weite der Bergwelt, ihre Endlosigkeit, die aber in allen Fernen unabdingbar Erde und Himmel sich die Hand geben lässt, in diesem Saum der Ferne, die immer wieder hinabführt in die Täler und zu den Menschen und Mitmenschen zurück, damit man ihnen vom Geschauten und Erlebten etwas mitbringe. Ungezählt sind die Erlebnisse, welche der Jüngling, der Jungmann, der Vater dann mit Frau und Kindern, der starke Kamerad in der Seilschaft von Freunden erlebte: auf Wanderungen, im Fels, im Gletscherbruch, auf Firnen und auf den freien Gipfelhöhen, an leuchtenden Sonnentagen und in hellen Sternennächten und wieder in Sturm und Regen, zur Sommerszeit und im Winter. Die Fahrten gingen dahin und dorthin, durch den ganzen weiten Alpenbogen, von den Seealpen mit dem Mont Caenia, den zaubervollen Bergen des Dauphiné mit der Meije, dem Weissen Berg, den ein Einheimischer einmal La Pointe de la Neige genannt hat, sie führten ihn durch das Massiv des Mont Blanc, die Walliser und die Berner Gipfel, rund um den Gotthard, den der Kupferstecher Mechel vor rund zwei Jahrhunderten als das höchste Gebirge Europas bezeichnete, und weiter durch die Berge Graubündens in die Ostalpen mit dem Grossglockner. Und wie sonnig waren die Tage in den Julischen Alpen, im Hohen Norden mit den stahlblauen Fjorden! Und wohin die Fahrten auch immer wieder führten, bis hinüber in die nordafrikanischen Berge, immer öffnete sich ihm die gewaltige Bergnatur, endlos und unaufhörlich neu. Und was brachte er alles mit nach Hause, an Gesteinen und Mineralien, an Pflanzen und allerlei Dingen, dass sich Kästen und Truhen füllten und unterm eigenen Dach eine eigenartige Welt zu leben begann, unerschöpflich an Erinnerungen. Kein Ende in allem!

Einmal führte ihn die Seilschaft durch nackten Fels. Steil ging es durch die Flanke des Berges. Fast übersteil. Da ein Haken - dort eine Sicherung. Er zuerst voraus, jeden Griff findend, guten Stand erfühlend. Immer höher, als gelte es, eine Himmelsleiter hinanzusteigen. Und da verspürte er, wie nicht mehr die Kraft der Muskeln und das Erspähen der Route mit den Augen massgebend waren, sondern etwas anderes, in ihm. Ein kurzes Halten. Überlegen. Nachgeben - und dem Kameraden zurufen: Ich sichere; komm nach und geh voran! Und mit einer Eleganz sondergleichen tat er es und führte zum Gipfel. Da ergab sich der Handschlag des Freundes, von ihm - zu ihm.

Oder, damals, im Eisbruch der Gletscherwand. Es krachte im Blaueis, wie ein Mahnen. Sorgsam hackte der Gefährte die Stufen; kein Hieb zuviel, keiner zuwenig, gerade so kräftig, dass die Tritte heraussplitterten und ein Sprühen von Kristallen in der Sonne glänzte. Sie kamen durch, ruhten über dem Schrund aus - und mussten zusehen, wie kurz nach ihrem Durchstieg ein Eisbruch niederfuhr, wie eine Lawine hinab in die Tiefe. Etwas hatte sie bewahrt...

Und wieder der Abend in der Hütte. Zwei fremde Seilschaften, Österreicher, ihrer drei; Italiener, eine Zweierpartie; ein Engländer, Alleingänger. Und vier Kameraden aus dem SAC. Alle waren von Fahrten müde, aber ihre Augen hatten einen glücklichenGlanz. Man kochte zusammen, als sei man eine Gemeinschaft, plauderte in den verschiedensten Sprachen, sogar mit Zeichen und Skizzen. Das war so köstlich. Und man verstand einander. Am andern Tag fuhren Sturm und Regen um die Hütte. So blieb man unterm schützenden Dach und fand sich noch freundschaftlicher zusammen. Sogar zum gemeinsamen Abstieg, weil in der andern Nacht ein Frühschneefall alle Hochtouren unterband. Nur der Engländer blieb zurück, um weiter - oder wieder - allein zu sein. Er sandte nach drei Wochen einen Kartengruss, der meldete, dass er glücklich ins Inselreich zurückgekehrt sei.

Sieben Jahrzehnte später.

Und wieder stand der « Junge von damals », nun ein weisshäuptiger Mann, auf dem Hügelberg und schaute hinaus in die Täler. Er sah, wie die Dörfer zu Städten sich breiteten, wie einst grüngelbe Seeufer, die vor vielen, vielen Jahren noch jedermann offengestanden, von einem Menschenkreis erfasst und überbaut worden waren, wie Strassen und wieder Strassen durch all die Ebenen und Talschaften sich zogen und die Siedelungen sich in Berghänge hinaufnagten bis an die Ränder des Waldes, dessen Zonen geschützt zu sein scheinen... Und er traf auf seinem Hügelberg gar oft ein buntes Menschengemenge. Die Wiese war Tummelplatz geworden. Immer schwerer wurde es, die Tage und Wege zu finden, die noch ein stilles und beschauliches Wandern erlaubten, ein Mit-sich-selbst-zur-Höhe-Gehen und ein Anhalten, ein Ausruhen.

Aber trotzdem: Immer wieder stieg der Mann gemessenen Schrittes zu seinem Hügelberg hinauf, wissend, dass auch von andern Dörfern und Städten aus seine Kameraden zu ihrem ersten Berg hinaufwanderten, Seilgefährten, die noch im Leben stehen und noch bei festem Atem und gutem Herzschlag sind. Sich Zeit lassen, dann geht 's noch. Aber, da und dort ist schon mancher Kamerad weitergegangen.

Nun weisst du, geneigter Leser, was das für ein Berg ist, der Hügelberg, was das für Berge sind, diese Hügelberge. Denn überall stehen sie an den Aussenflanken des Alpenwalles und im Jura, und oft sogar mitten in ihnen. Da stehen der Gäbris und der Hohe Kasten, drüben im Appenzellerland, der Bachtel und der Hoch Etzel zu beiden Seiten des obern Zürichsees und der Uetli nahe unserer Weltstadt. Vergessen wir auch die Lägern nicht, den Sonnenberg hinter Balsthal und den Weissenstein, den Chasserai und den Mont Chasseron, diese Jura-Hügel-berge, von denen aus wir unser weites und so vielfältiges Mittelland überschauen können und die Sicht frei haben in den weiten Kranz unserer Berge, vom Säntis bis hinüber zum Mont Blanc. Da haben wir den Rossberg, den Rigi, den Napf, das Brienzer Rothorn und alle die vielen Berghügel im hintern Freiburgischen und der obern Waadt, von denen aus überall das Ringsum zu sehen ist und die hinüberschauen lassen ins Hochland und ins Voralpengebiet davor. Oder wandert im Ennetbirgischen hinauf zum Poncione di Trosa oder auch nur zu seinen Terrassen, zum Monte Tamaro oder dem Monte Bar! Überall sind sie, diese Hügelberge, in endloser Zahl, sogar mitten in den Hochtälern unseres lieben Vaterlandes, damit wir, wie als Knabe, auch in den Tagen des Alters immer noch Bergwanderer sein können, um die Berge zu erleben. Manchmal so herrlich und gross, hinter geschlossenen Lidern.

Und dann verstehen wir, was Johann Rudolf Wyss, der bernische Schriftsteller ( i 782-1830 ), in die zwei ehernen Zeilen gefasst hat:

« Alpensteigen ist von Art eine halbe Himmelfahrt. »

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