Der Misti bei Arequipa
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Der Misti bei Arequipa

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Friedrich Ahlfeld.

Ob wohl viele der Weltenbummler, die auf dem flachen Dache der « Quinta Bates » in der Morgensonne behaglich und bedächtig ihren Kaffee schlürfen, hinaufschauend zu dem Kegel des Misti, der in göttlicher Ruhe über allem schwebt, den Wunsch haben, einmal dort oben zu stehen? Kaum. Die Sonne geht über Arequipa Tag um Tag in gleicher Pracht auf, nie ist es zu heiss und nie zu kalt. Die Bäume sind immer grün um das Haus, immer duften die Blumen und murmeln die klaren Wasser in den Strassen. Die Luft lädt ein zu beschaulichem Leben. Ein Ritt zu den Bädern von Tingo, ein Stündchen Tennis, ein Cocktail in den kühlen Räumen des Klubs, nach dem Lunch die übliche Siesta in den Schaukelstühlen des Parks, wie rasch ist so ein Tag verflogen! Und morgen ist wieder ein Tag, ebenso strahlend wie heute. Warum dort oben in 5000 Meter Höhe ein ungemütlich kaltes Freilager über sich ergehen lassen, wenn man warme Betten hat?

Zwar finden sich alle paar Jahre einmal ein paar « gringos chiflados » ( verdrehte Fremde ), die einen grossen Tumult machen, die Pension auf den Kopf stellen, um auf den Misti hinaufzuklettern. Meist sind es Deutsche. Dann liest man jedesmal lange Artikel in den Zeitungen. All die Leiden der Unglücklichen werden gebührend breit geschildert. Mein Gott, warum das alles? Der Arequipener echten Geblüts steigt nicht auf den Misti; es sei denn, dass der Bischof dazu auffordert, wie damals, als das eiserne Kreuz auf dem Gipfel geweiht werden sollte. In einer Sänfte, von 8 Indios getragen, Hess sich der hohe Herr zum Gipfel tragen, und Hunderte folgten ihm, Frauen und Kinder darunter. Ja, das war etwas anderes.

Von meinem ersten Tage in Arequipa Hess mir der Misti keine Ruhe. Seit jenem Tage, an dem mich vom Pazifik her die Bahn hinaufbrachte, als plötzlich über der gelben Wüstentafel in unendlicher Höhe eine hauchfeine Linie sich aus dem Abenddunst herausschälte, so hoch und erhaben, dass es schien, als schwebe sie frei über der Erde.Von rechts und links löste sie sich leicht und elegant von der Wirrnis der Vorberge, lief über die vielgipflichen, zackigen Vulkane Pichu Pichu und Chachani mit ihren Schneefeldern, senkte sich dann wieder, um genau in der Mitte des Bildes sich in dem zierlichen Konus des Misti zu höchster Höhe aufzuschwingen. Die Eiskalotte seines Gipfels leuchtete in mattem Rosa, als wenn die Flanken des Berges aus Glas seien und das Feuer seines Inneren hindurchschimmere. Genau so pflegen die Japaner ihren Fudjijama in zarten Pastellfarben darzustellen.

Ein Jahr verging. Ich sah den Misti schneefrei, grau und hässlich und dann wieder mit tausend Rillen, bis zum Fuss verschneit, riesengross. Manchmal schien es mir, als steige eine weisse Wolke aus seinem Krater. Endlich war ich so weit. Es war zwar Winter, und alle Welt warnte mich. Aber die Zeit drängte mit einem Male, ich musste fort. All die vielen Vorbereitungen, die Beschaffung bergtüchtiger Maultiere, das Suchen nach einem Führer, nach Sätteln, Schlafsäcken und all den anderen notwendigen Dingen, die zu der « Expedition » gehörten, doppelt schwierig in dem Lande des ewigen « manana » ( morgen ), waren beendet. Der Photograph Mandila, dreimaliger Sieger über den Berg, wurde als Begleiter gewonnen, und unsere Karawane verliess in der Frühe des 3. Juli 1926 Arequipa.

Der Anstieg scheint seit Generationen festgelegt. Kein Führer, kein Maultiertreiber würde sich dazu hergeben, einen anderen Weg zu versuchen. In mächtigem Bogen umkreist er den Berg gegen Süden. Hinter den letzten Häusern der Stadt beginnt die « Wüste »: schwarzes vulkanisches Gestein, in das starke Regengüsse zahllose Canons mit senkrechten Wänden eingegraben haben. Riesenkakteen und allerhand stachliges, unerfreuliches Strauchwerk. Kein Wasser, kein Haus, keine grüne Oase. So geht es einen ganzen Tag bergauf, bergab, und es schien mir, als rücke die Masse des Berges um keinen Meter näher. Doch täuschte der Augenschein; denn als unser Pfad den Sattel zwischen Misti und Pichu Pichu erklommen hatte, stieg der Kegel unseres Berges zu unserer Seite steil empor. Es war Abend geworden, und als wir die auf der Südostseite liegende Übernachtungsstation erreicht hatten, war im Augenblick die Dunkelheit da. Uns zu Füssen dehnte sich, hundert Kilometer weit, bis an die Ufer des Titicacasees die öde Steppe der Westanden.

Der Punkt, wo wir die Nacht verbringen sollten, heisst Monte Bianco, vielleicht deshalb, weil er sich genau in der Höhenlage des Mont-Blanc-Gipfels befindet. Der Führer hatte von einer Art Schutzhütte gesprochen. Hier hatten einst die Forscher des amerikanischen Observatoriums in Arequipa gewohnt, wenn sie Erdbebenbeobachtungen anstellten. Doch wir fanden nur ein elendes Mauerwerk, wie es Indianer für ihre Alphütten aufzuschichten pflegen, zum Teil von einem grasbedeckten Dache überdeckt. Der Rest des Daches war wohl verfeuert worden. Überall blies der kalte Nachtwind durch die Ritzen der Steine.

Unsere Mulas wurden in der Nähe angepflockt. Sie standen untätig, die harte, stachlige « Paja brava » schien ihnen gar nicht zu gefallen. Die Schlafsäcke wurden in der geschütztesten Nische entrollt, und bald flackerte ein lustiges Feuerchen auf. Schon glaubten wir uns vor der Kälte der gefürchteten Winternacht leidlich geborgen, da knatterte es plötzlich uns zu Häupten: der elende Rest des Daches hatte Feuer gefangen. Wie es gekommen war wusste keiner. Jemand musste zuviel von dem trockenen Gras unter den Kessel geschoben haben. Alle Löschversuche erwiesen sich als vergeblich. Rasch die Sättel und Schlafsäcke und die wertvollen Proviantkörbe heraus! Denn schon brannte auch das Gras am Boden der Hütte. Stumm und traurig standen wir abseits, jeder in Gedanken versunken, das aufprasselnde und schnell verlöschende Feuer betrachtend. Über uns wölbte sich hoch und unendlich klar der südliche Himmel. Um uns lag schweigend die Nacht. Hier und da im Gemäuer flammte es noch einmal rot auf, dann wurde es doppelt finster, und die Kälte der Nacht senkte sich auf unser Lager. Jeder suchte sich ein leidlich geschütztes Plätzchen und verkroch sich in seinen Decken. Ein paar Flüche noch, ein träge hinfliessendes Gespräch unserer Burschen, dann verstummte alles. Die Sterne funkelten und blitzten, und ich schlief herrlich in dem Sack aus gelbem, seidenweichem Vicunafell.

Als der Morgen graute, gab es eine Sensation. Einer der Deutschen suchte seine Jacke. Sie war fort. Am Abend hatte er sie auf die Mauer gelegt, er erinnerte sich genau daran. Nach langem Suchen brachte jemand einen schwarzen, verkohlten Fetzen an. Das Feuer hatte die Nacht über in dem trockenen Moos, das in die Ritzen des Mauerwerks gestopft war, anscheinend Nahrung gefunden und schliesslich das wichtige Kleidungsstück ergriffen. Aus der einen Tasche zog der unglückliche Eigentümer einen Haufen verkohlter Pfundnoten, aus der anderen ein schwarzes Etwas, das sich als seine Uhr entpuppte.

Doch über der Steppe erhob sich leuchtend die Sonne, und es blieb keine Zeit zum Trauern um Verlorenes. Alle schälten sich unendlich langsam und halb erstarrt aus ihren Decken. Unser Photograph, der « dreifache Sieger über den Misti », sah aus wie eine gerade aus dem Ei geschlüpfte Fliege, die von einem verspäteten Winterfrost überrascht wurde. Mancher leise Fluch entlud sich damals auf die verrückten Gringos, die alles besser wissen und ausgerechnet mitten im Winter dem Misti zu Leibe gehen wollten. Ein Schluck des starken peruanischen Weins liess die Stimmung wieder aufleben. Statt, wie beschlossen, um 6, sassen wir um 9 Uhr alle glücklich im Sattel. Mandila, der Photograph, der zu faul war, wie die anderen auf dem harten Leder des Sattels zu sitzen, schwang sich auf ein Tragtier, liess sich einige Kissen unterschieben und verbarg seine Füsse in den Körben, die unsere Lebensmittel enthielten. Ein kleiner Junge trieb mit Rutenhieben und aufmunternden Flüchen sein Maultier an. So wankte er im langsamsten Tempo hinter der Kolonne her.

Der Reitweg zum Gipfel windet sich um die Ostflanke des Berges herum. Die Tiere fanden in der feinen, losen Asche keinen Halt und rutschten bei jedem Schritt wieder zurück. Stunde um Stunde verfloss, und immer noch reckten sich uns zur Seite schwarze Aschenhalden hoch. Schon dehnte sich die Hochsteppe tausend Meter unter uns, und die Sonne stand hoch am Himmel. Unsere Ungeduld wuchs, es hielt uns nicht länger im Sattel. Wir dachten auch an unsere armen Mulas, die bis zu den Knien in der Asche versanken und immer längere Pausen machen mussten. Besser, die Tiere ruhen lassen und zu Fuss hinauf! Das Barometer zeigte 5400 Meter, nur 400 Meter fehlten bis zum Kraterrand. Steiler wölbte sich der Kegel, rote Felsen traten aus den Tuff-halden hervor. Wir drei Deutschen klommen das letzte, sehr steile Stück direkt empor. Die Spannung liess uns rascher klettern, als die Höhe es gebot. So sassen wir bald um Atem ringend und keuchend da, während die Indianer unten sich hochbeglückt auf unsere ledigen Mulas schwangen.

Endlich, nach fünfstündiger Schinderei, standen wir an der niedrigsten Stelle des Kraterrandes, schauten wortlos in die Tiefe. Das war freilich ein Anblick, so gewaltig, wie wir ihn nicht erwartet hatten. Zwei Krater sind ineinander geschachtelt wie am Vesuv, aber mit weit erhabeneren Ausmassen. Der äussere mochte 1 Kilometer Durchmesser haben. Sein wild zerklüfteter Rand, von vielen Zinnen gekrönt, deren höchste das Kreuz trägt, fällt in senkrechten Wänden gegen das Innere ab. Dort unten hebt sich ein Wall aus feinster, grauer Asche, der sich gegen den inneren, jungen Krater senkt. Dessen Boden blieb uns verborgen. Mit leuchtend roten und schwefelgelben Wänden fällt er ins Bodenlose.

Doch rasch die letzten hundert Meter auf dem Kraterrand hinan zum Kreuz! Alle Atemnot ist vorbei, wie auch das Herz pocht. Der Eindruck dessen, was wir sehen, lässt alle körperlichen Beschwerden vergessen. Fast heiss ist 's in der Sonne des Gipfels. Am Fusse des Kreuzes lagernd gönnen wir uns lange den Anblick des Kraters und der bunten Wüstenlandschaft. Man kann sich von der Weite des Blickes keine Vorstellung machen, er umfasst zweihundert Kilometer in der Runde. Unendlich klar ist die trockene Luft, sie verbirgt nichts. Die Grenze des Sehfeldes liegt dort, wo die Krümmung der Erde weiteren Blick verbietet. Ich kam mir vor wie auf einem fremden Stern. Nichts Liebliches zeigt sich, kein frohes Grün, nur graue, rote und gelbe leuchtende Töne vulkanischen Gesteins. Wie Scherenschnitte stehen die Berge messerscharf gegen den wolkenlosen Himmel. Ganz nah im Süden und Norden die Trabanten des Misti, Pichu Pichu und der noch nie erstiegene Chachani, 6080 m, mit seinen Firnfeldern über rotem Fels. Dahinter im Norden, weisse Wolken am Horizont, die Riesen Südperus: Ambato, 6300 m; Coropuna, 6600 m, und Sara Sara. Im Süden, ganz klein, der schneefreie Modellvulkan des Ubinas, 4700 m. Und dort über den unendlichen Steppen im Osten hauchzart die lange Eiskette der Cordillera Real. All meine Getreuen erkenne ich mit dem Fernglas, vom Ananea, 5900 m, bis zu dem fernsten und höchsten, dem Illampu, 6400 m, tief in Bolivien.

Doch wo ist unsere Sonnenstadt Arequipa? Die ganze grosse Oase ist zusammengeschrumpft zu einem winzigen, schmutziggrünen Etwas. Die Stadt mit ihren 50,000 Einwohnern sieht aus wie ein Indianerdorf. Dort sitzen sie jetzt in den Klubs, schlürfen eisgekühlte Limonaden, und irgend jemand macht vielleicht gerade einen Witz über die dummen Deutschen, die am Sonntag zu ihrem Vergnügen da oben im Schnee hocken.

Inzwischen sind die anderen hoch zu Ross angekommen und verjagen die Stimmung durch ihr Geschrei. Die Mulas sind ganz brav, sie zittern nur ein wenig. Eine, der das Blut aus den Nüstern tropft, bekommt ein Riechfläschchen unter die Nase gehalten, und bald hat sie sich wieder erholt.

Erst als die Sonne bedenklich tief stand, rissen wir uns los und rutschten, in riesige Staubwolken gehüllt, den Aschenkegel hinab gen Monte Bianco. In wenigen Minuten war es Nacht, und wir irrten noch in 4000 m Höhe an den Flanken des Misti herum. Unser für teures Geld gedungener Führer erklärte plötzlich, den Weg verloren zu haben. Wie viele Stunden wir in steile Canons hinab und auf der anderen Seite wieder emporgeklettert sind, wie lange wir im Kakteengebüsch nach Spuren suchend uns Hände und Beine blutig gerissen haben, weiss ich nicht. Endlich gaben wir 's auf, buddelten uns, um der schlimmsten Kälte zu entfliehen, bis zum Kopf in den lockeren Sand ein und beschlossen, den Morgen in dieser wenig angenehmen Lage zu erwarten. Zu allem Überfluss waren wir auch noch von unseren Tragtieren mit den Schlafsäcken und Weinflaschen, die wir gut hätten gebrauchen können, abgekommen. Dort, ganz nahe, blitzte das Lichtermeer von Arequipa auf. Die dort unten hatten jetzt gut lachen.

Doch das Schicksal half uns zur rechten Zeit aus der Klemme. Im Halbschlummer vernahm ich fernen Hufschlag. Wir wühlten uns aus dem Sande und gingen in der Richtung der Laute. Gott sei Dank, es waren unsere Tiere, die auf dem richtigen Wege den Berg herunterkamen. Um 4 Uhr morgens hielten wir unseren Einzug in der schlafenden Stadt.

Ich hatte gerade noch Zeit, eine kalte Dusche zu nehmen und meine Sachen zu packen. Um 8 Uhr sagte ich der Sonnenstadt Lebwohl und sass im Zuge nach Puno. Der Konus des Misti stiess in das lichte Blau des wolkenlosen Himmels.

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