Der Piz Valrhein (Rheinwaldhorn)
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Der Piz Valrhein (Rheinwaldhorn)

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Mit 1 Bild ( 35 ).

Von Hans Gertich.

Waren das einst Fahrten, da mich Lino Ramelli, Airoleser Skifahrer der Seniorenzeit, erstmals in seine Heimatberge führte! Am Griespass stand eben erst die kleine Baracke mit zerschmetterter Türe und bis ans Dach gefüllt mit Schnee und Eis. All' Aqua träumte im tiefsten Winterschlaf. Im alten Ospizio sassen wir bei Forni in der rußschwarzen Küche am Herd, neben uns einen Liter Glühwein und überm offenen Feuer jeder an einem Stäbchen einen mächtigen Brocken Piorakäse —, dann machte es uns nichts mehr aus, in stockfinsterer Nacht noch nach Airolo hinunter-zurasseln.

In jenen Jahren kamen wir einmal nach Olivone. Es war die Zeit der kürzesten Tage, anfangs Januar. Obwohl verspätet, stiegen wir ohne Eile die Steilhänge des östlichen Talufers hinan nach den Monti Compieto. Bis hieher war leidlich gebahnter Pfad. Die Hütten duckten sich tief im Schnee, ein alter Bauer mit einer Bürde Heu auf dem Rücken machte sich eben auf den Weg nach Olivone hinunter. Um die Schlucht der Cascata superiore ging es nun hinauf und in das Val Carasina hinein. Hinter uns schlössen sich die Berge. Mit einemmal waren wir wie abgeschnitten von aller Verbindung mit den Menschen, weltentrückt in die Stille und Einsamkeit des winterlichen Hochgebirges. Leise, wie von ferne, murmelte ab und zu der Bach, und nur Wildfährten kreuzend zogen wir unsere Spur talein. Mit Bresciana nahm jedoch das Schlendern brüsk ein Ende. Auf den steilen Hängen lag ein böser Harsch, die Felle griffen nicht mehr, und ohne Ski stiess der Fuss durch die Kruste, wir versanken bis an die Hüften in mehligem Pulver, und bald war es schwarze Nacht. Spät und mitgenommen langten wir bei der U. T. O. E. Hütte an und fanden diese bis ans Dach im Schnee.

Am Morgen waren Himmel und Berge griesgrämig überzogen. Auf dem Brescianagletscher begann es zu schneien, und immer dichter und toller wirbelten die Flocken. Nur dem Spürsinn folgend, wanden wir uns durch den Nebel, im Bogen gegen das Grauhorn ausholend, um nicht in die Abstürze zur Rechten zu geraten. Eintönig klapperten die Ski auf hartem, garstig verblasenem Schnee. Da tauchte ab und zu aus dem undurchdringlichen Grau der finstere Schlund einer Firnspalte, in schattenhaften Umrissen hoher Fels. Dann wurde es in der Luft unruhiger, irgendwoher pfiff der Wind, und auf einmal stand in wehenden Nebelfahnen die Gipfelpyramide des Valrheins unmittelbar vor uns. « Du spürst den Weg wie ein Jagdhund! » meinte Lino. Während Nebel und Schneegestöber aufs neue und wilder als je um den Gipfel fegten, rammten wir wenig unterhalb des Steinmannes die Ski in den Schnee.

Indessen hatte ein kurzer Ausblick ins Zapport verraten, dass das Wetter nicht so schlimm sei, wie es aussah. Da war der Plan gemacht. Über scharfkantige Windgängel ging es zunächst den breiten Rücken des Nordgrates hinab, dann rechts abschwenkend in die zum Rheinwaldfirn abfallende Flanke — verdammt, derselbe Schnee! Die Ski auf der Schulter querten wir mühsam die steilen Hänge unter den Gipfelfelsen hinunter gegen Punkt 2880, bald auf glashartem Harsch und gleich wieder tief einsinkend. Mit Verlassen des Grates waren wir jedoch endgültig aus der Nebelzone heraus, in blauer Tiefe leuchtete weite, wunderbare Winterpracht: Rheinwaldfirn, Zapport- und Paradiesgletscher. Fleckenlose, ungefurchte Felder lockten schon wieder zu sausendem Dahinfahren in stiebendem Schnee!

Einmal drunten, waren es dieselben holzigen, fusshohen Windgängel, und halb gerädert langten wir bei der Hütte am « Ursprung » an.

Die Zapporthütte steht in einem geradezu idealen Skigebiet, und ihre Lage ist wie geschaffen für eine Anzahl prächtiger Touren. Schlimmer steht es mit ihrem Zugang. Dieser wird allgemein als im Winter nicht praktikabel erklärt, und in der Tat könnten wir Gegenteiliges mit gutem Gewissen nicht behaupten. Oberhalb der Klamm des Rheins ging es abschüssige Bänder entlang. Zur Skibenützung war das Gelände zu steil und der Schnee zu hart; zu Fuss brachen wir ein, und mit dumpfem Krach rissen kleine Schneebretter los. In den Felsen hingen Eiszapfen jeder Grosse, Eistrümmer von Faustgrösse bis zu Baumdicke lagen allenthalben herum.

DER PIZ VALRHEIN ( RHEINWALDHORN ).

Immerhin kamen wir durch bis in die grosse Schlucht hinter dem Zapport-staffel, von der es im Tessiner Führer so treffend heisst: « Schwierig gestaltet sich in der Regel der Abstieg von der Zapporthütte nach Hinterrhein, hauptsächlich an der mit ,Hölle'bezeichneten Stelle. » Hier strotzte es von Eis. In allen Formen hing es an den Felsen, vom einzelnen Zapfen und abgestuften Orgelpfeifen bis zu haushohen Fassaden und erstarrten Wasserfällen. Ein solcher sperrte just an der schlimmsten Stelle unsern Weg, den Ausgang aus der Schlucht in die obersten Hänge des, Zapport-staffels. Unnütz, sich da zu versuchen. Baumdicke Zapfen hingen bereit, unter den Schlägen des Pickels auf den Kopf herabzuschmettern. So stiegen wir zum Rhein hinunter. Nunmehr wieder auf den Ski kamen wir immer tiefer in die Schlucht. Desto erdrückender schlugen über uns die Talufer zusammen. Ringsum türmten sich finstere Flühe und jähe Steilflanken zum Himmel auf. Bis in alle Höhen hinauf hing blau- und grünlichschillerndes Eis, in Planken und Bändern lauerte der Schnee, ein Bild der Schrecknis und wilder Schönheit zugleich. Wir versuchten, in der rechten Talseite durchzukommen, aber es zeigte sich bald, dass dort nichts zu erreichen war; denn der Schnee war von viel zu schlechter Beschaffenheit. Wir mussten wieder zum Bach hinab. Der Tag ging zur Neige. Auf trügerischen Schneebrücken zirkelten wir über das gurgelnde Wasser. Unter uns verengte sich die Schlucht zur Klamm. Dort war kein Ausgang. In die Enge get rieben, versuchten wir im linken Ufer der Sackgasse zu entkommen. Abschüssige Schrofen emporkletternd, gingen ganze Ladungen Schnee unter mir ab, auf Lino hinunter, und öfters schwirrten Eisstücke um seinen Kopf. Auf Seillänge wurden Ski und Säcke nachgeseilt, dann konnte auch Lino seine halberstarrten Glieder wieder in Bewegung setzen; nachdem wir dieses Manöver ein paarmal wiederholt, landeten wir in den hintersten Hängen des Zapportstaffels.

Inzwischen war es jedoch finstere Nacht geworden. Vorsichtig spurten wir steilem Gelände entlang. Ein ums andere Mal knallte das unheildrohende Reissen des Schnees, in der Finsternis doppelt unheimlich, zumal wir dicht unter uns die schauerliche Felsenklamm wussten. Schliesslich schien das Misslichste hinter uns zu sein. Unter einer Felswand stiessen wir auf eine Schäferhütte. Ermuntert liessen wir etwas freier laufen; wenig später entdeckten wir uns unmittelbar in den Abstürzen der Schlucht. Jetzt hatten wir genug und fanden: immer noch besser die Nacht in der Schäferhütte zubringen, als irgendwo in den Rhein hinabzufliegen oder zumindest in dem eisigen Wasser ein Bad zu erwischen!

« Glühwein und warmes Bett in Hinterrhein » war das nun freilich nicht! Die Hütte, dem Zerfall anheimgegeben, war nur ein kahles, offenes Gemäuer, kaum aus dem Schnee ragend, und die Temperatur stand um 12 bis 15 Grad unter Null. Bewegung war der einzige Schutz gegen die Kälte. Stampfend schritten wir auf und ab, hin und her, einer hinter dem andern den Wänden entlang. So wurde es 9 Uhr... 10 Uhr... 11 Uhr... 12 Uhr. Über dem Zapportgrat stieg die Mondsichel auf und warf ein gedämpftes Licht über die mitternachtstille, menschenferne Bergwelt. Abwechselnd versuchten wir ein wenig zu schlafen; aber die Kälte stellte jeden ganz von selbst wieder auf die Beine, und in sinn- und geisttötendem Einerlei schritten wir Runde um Runde ab. Endlich nahte der Morgen. In grauer Dämmerung zogen wir los gegen Hinterrhein hinab mit dem heiligen Vorsatz: « Nie wieder im Winter das Zapport versuchen! » An einem Winterabend sassen wir droben in Comprovasco in bodenständiger Stube auf der Bank um den mächtigen, altehrwürdigen Ofen bei einem Glas Nostrano und plauderten. Draussen lagerte schneidendkalte Januarnacht, Neumondschimmer blinkte verstohlen in die eisblumen-geschmückten Fenster, der Ofen summte, und von Zeit zu Zeit klang ein Schlagen der Wanduhr melodisch durch den Raum.

Alte Geschichten und Überlieferungen machten die Runde, von den Bergen einst und jetzt, von Pater Placidus a Spescha drüben im Bündner Oberland, der, wie kaum ein anderer, mittat, den Bann, der jahrhundertelang über dem Hochgebirge gelastet, endgültig zu brechen.

Noch vor der glorreichen Ersteigung des Mont Blanc durch de Saussure 1787 bestieg Pater Placidus a Spescha, vom Kloster Disentis ( 1752—1833 ), schon im Jahre 1782 den Scopi und Piz Cristallina und 1785 Piz del Ufiern. Auf einsamem Posten, auf sich selbst angewiesen, erstieg er Gipfel um Gipfel seines Bündner Oberlandes. Er zeichnete Karten, sammelte Mineralien, nahm Höhenmessungen vor, befasste sich mit Beobachtungen über Gletscher, Lawinen, Pflanzen- und Tierleben, mit allem und jedem. In der Folge regte er den Bau eines Bergsteiger- und Forscherheims auf dem Lukmanier an und einer Unterkunftshütte am Pontegliasgletscher, womit er in seiner Zeit wohl einzig dastand. Obwohl unfrei und bei seinen Vorgesetzten wenig Verständnis findend, trieben ihn Naturliebe und ein unbändiger Forschergeist immer wieder in die Berge. Wiederholt abgeschlagen, versuchte er 71jährig noch, den noch unerstiegenen Tödi zu bezwingen.

A Spescha amtete als Kaplan in verschiedenen Gemeinden des Bündner Oberlandes. Dort nahm er es hie und da mit seinen Pflichten nicht aufs äusserste genau und streifte manchmal in den Bergen umher, was ihm sowohl seine Pfarrkinder als seine Vorgesetzten sehr übel anrechneten. Doch sein Glaube war tief, seine Religion schlicht und wahr. Allem Äusserlichen abhold, wollte er nur das Gute, Grosse und für sich selbst am wenigsten. Ebenso wie die Berge der weitern Umgebung beschäftigte ihn seine engere Heimat. Grosszügige, gemeinnützige Bestrebungen hatte sie ihm zu verdanken; doch, seiner Zeit oft um vieles voraus, verkannt und missverstanden, bekam er es bitter zu spüren, dass ein Prophet nirgends weniger gilt als in seinem Vaterlande. In den schweren Kriegszeiten des 1798er Jahres setzte er in aufrechter Vaterlandsliebe alles ein für sein Bündner Oberland, seine Mitmenschen, sein Kloster. Sie brachte ihm den Verlust seiner Schriften und Sammlungen und ungerechte Deportierung nach Innsbruck. Aber kein Schlag, kein Unrecht vermochten ihn zu beugen, unerschütterlich ging er seinen Weg, treu seinen Idealen, seinem Volk, seiner Heimat.

A Speschas Name indessen war weit über die Grenzen seiner Bergheimat hinausgedrungen. Es kam nicht von ungefähr, dass im Sommer 1789 drei fremde Doktoren im Kloster Disentis vorsprachen und den Pater Placidus als Begleiter und Führer wünschten zu den Quellen des Hintern Rheins.

A Spescha führte die Doktoren in zwei Tagen durch das Somvixertal und über den Diesrutpass ins Lugnez, weiter nach Vals und über den Valserberg nach Hinterrhein. Am Diesrutpass überfiel sie ein wütender Sturm, der die Herren ganz entmutigte, und a Spescha vermochte sie nur damit wieder aufzurichten, indem er ihnen vorstellte: « Das seien nach gar keine bösen Winde, dass diese sonst Steine, Menschen, ja beladene Rosse, fort schleudern. » In Hinterrhein warben sie einen « Führer » an zu den Quellen des Rheins, einen Mann, der ihnen den Weg weisen sollte zum Gletscher im Talhintergrund, aus dessen blauem Tor der junge Rhein milchig schäumte «... und um das Weitere zu sehen », sagt a Spescha schlichthin. Auf der Zapportalp nahm er noch den dortigen Schafhirt mit. Kein Zweifel, für ihn war « das Weitere » jetzt schon der hinter dem Gletscher hochaufragende Berg. Die Karawane drang weiter den Gletscher hinan und stieg zur Lentahütte hinauf.

Angesichts der Abstürze des Lentagletschers verlor der als Führer mitgenommene Mann den Mut und war durch kein Versprechen zu bewegen, weiterzugehen. « Allein » — so erzählt a Spescha i«der beherzte Schafhirt ging voraus, ich ihm nach, und die Herren folgten. Bald ergriff mein Nachfolger meine Kutte und die andern die Röcke ihrer Vorgänger. Allein nach und nach kam es mir schwer vor, die drei Doktoren, welche von Zeit zu Zeit empfindliche Rückzüge sich erlaubten, aufzuhalten und nachzuziehen; ich hielt mich also sicherheitshalber selbst an dem Rockzipfel des Schäfers fest. So wanderten wir über den schmalen Schneerücken linienweise hinauf und mussten Bedacht nehmen, nicht auszuglitschen und keinen Fehltritt zu begehen. » Sie hatten kein Werkzeug, um Tritte auszuhauen. Einer der Herren kam ins Gleiten, a Spescha sprang ihm nach, konnte ihn packen «... und stellte ihn wieder in sein Glied; er wäre zwar nicht erfallen, denn die unten liegende Schneefläche hätte ihn aufgehalten, aber seine Haut und seine Kleider hätten verschleift ( verschürft ) werden können. Allein, dieser Zufall machte auf die Herren einen solchen Eindruck, dass sie die weitere Reise nicht fortsetzen wollten. » Schliesslich blieb gar der Schafhirt zurück, doch a Spescha hat für jeden eine Entschuldigung und sagt nur bescheiden, dass er den letzten Aufstieg allein machen musste.

Auf der Spitze des Rheinwaldhorns stand einsam eine gedrungene Gestalt im Mönchsgewand auf einen Hirtenstab gestützt, um und um schauend über ein Meer von Bergen und Gipfeln, die noch keines Menschen Fuss betreten hatte. In Ost und West, in Süd und Nord suchte er Namen heraus, selbst den Monte Viso, ohne Fernrohr 2 ), « denn die Schärfe meiner Augen versah damals den Gebrauch dieses Instruments ».

J ) « Pater Placidus a Spescha, sein Leben und seine Schriften. Ersteigung des Valrhein. » ) Bei der Bearbeitung seiner Schriften wurde angezweifelt, dass a Spescha den Monte Viso gesehen hätte, doch dieser ist bei klarem Wetter vom Rheinwaldhorn aus sehr wohl sichtbar.

Im Abstieg sammelte a Spescha seine Begleiter; erst den Schafhirt, dann die Doktoren. « Wir trafen die Herren Doktoren im Schnee sitzend an, so wie wir sie eingepflanzt hatten. Um keinen Schritt waren sie aus der angewiesenen Stelle gegangen, und der Schweiss, den sie bei der Ersteigung ausgedrückt hatten, war ganz verschwunden. » Glücklich und heil, ausgenommen teilweise schneeblind, langten sie wieder in Hinterrhein an. über den Berg, den er erstiegen hatte, schrieb a Spescha: « Er war seinem Namen nach den Hinterrheinern noch unbekannt, und sie wussten von keinem Menschen, der ihn erstiegen hatte, öfters hatte ich ihn aus der Ferne vorher gesehen, und weil ich bemerkte, er läge am Ende des Rheinwaldtales und hinter dem sogenannten Paradies, legte ich ihm den rätischen Namen ,Valrhein'bei — in romanischer Sprache heisst Rheinwald: Valrhein. » Blicken wir einmal zurück in die Zeit Placidus a Speschas: So fröhlich uns die kleine Kavalkade des Paters, seiner Doktoren und des Schafhirten auf dem Lentagrat auch anmuten mag, dürfen wir nicht die erste Ersteigung des Rheinwaldhorns vielleicht doch höher werten, als manchmal unsere heutigen, sogenannten erstklassigen Touren, auf die wir uns gar so gerne etwas zugute tun!

Und nun wandern wir an einem frischen, klaren Sommermorgen über die Brücke zurück nach Chiesa und hinauf in die Malvaglia hinein.

Verschlafen noch rauscht die Lorina aus ihrer Felsenklamm hervor. Durch Rebenlauben führt ein Steig bergan, noch träumt der Morgen in den grünen Blätterhallen, misstönend fast klingt der Tritt des Nagelschuhs. Der Weinstock bleibt zurück. Ein Bergweg nun biegt plötzlich um, unter weitausladendem Geäste unvermittelt in zerklüftete Wildnis. Aus tiefer Schlucht herauf grollt dumpfes Tosen, am Abgrundrand grüsst eine Kapelle, und im Buschwerk halb verborgen spannt eine alte Brücke ihren Bogen malerisch über unheimlich schwarzer Kluft. Jenseits steigt der Pfad im Zickzack Plattenschüsse und Rasenbänder hinan, verliert sich im Wald und biegt erst hoch oben über den Abstürzen der Schlucht einwärts in die Malvaglia.

Von dunstigem Morgenlicht durchflutet öffnet sich ein ernstes, stilles Hochtal. Dunkle Wälder steigen an steilen Flanken empor, über unzählige Wipfel schiessen eben blendend die Strahlen der Sonne, dass es bald hier, bald dort aufblitzt und glitzert wie Weihnachtsfunkeln. Hast und Getriebe sind hinter uns versunken, der letzte unruhvolle Laut verstummt. Aus der Tiefe herauf dringt kaum hörbar das Rauschen des Wildwassers, und in feierlicher Waldeinsamkeit zieht der Weg talein. Noch manchmal bin ich ihn gegangen!

Bei Ponte Cabbiera den Talweg links verlassend, gelangt man steil bergan aus dunklem Tann in weite Maiensässen. Tief drunten in schmalem Grund zwischen einem schäumenden Wasserfall und Wildbachbett die grauen Dächer des Sommerdörfchens Madra. In den offenen Hängen entwickelt die Sonne ihre ganze südliche Kraft, überall duftet frischgemähtes Heu, und ein Zirpen und Summen singt in den wundervollen Hochsommertag.

Über die Monti von Saltadoi und Foppa erreichte ich frühnachmittags den zweitobersten Staffel Pozzo und stieg noch bis an den Fuss des Simano an. Hier bietet sich der grossartigste Blick in den Abschluss der Malvaglia und auf den Piz Valrhein — die Adula des Tessins.

Erhebt sich das Rheinwaldhorn im Westen, Norden und Osten aus blinkenden Gletschern, so ist es von Süden ein formidabler Bau finsterer Wände und verwitterter Fassaden von 1300 Meter Höhe, aus dem schutt-und trümmerreichen Kessel der Guarnaroalp aufsteigend. Hier auch ist die grosse Route des Berges zu suchen. Dicht am Fusse dieser so unsagbar düsteren Klippen, auf hohem Vorsprung gänzlich verborgen, liegt ein zarter, frühlingsgrüner Weideboden. Ein Bach sprudelt murmelnd durch die kleine Ebene, zwischen kulissenartig sich voreinander schiebenden Steilufern entschwindend, und in dieser reizenden Abgeschiedenheit stehen am Hang ein paar dürftige Hütten, die Alp Guarnaro. Ein Gewitter zog auf. Trübselig duckten sich die Hüttlein an den steinigen Hang, Tür und Tor verriegelt. In einem baufälligen Stall fand ich Obdach. Vom nahen Bach holte ich mir Wasser, kochte Suppe und Tee und sass bis in den späten Abend vor der Hütte. Es hatte aufgehört zu regnen, aber grau und schwer hing der Nebel in den Bergen. Trostlose Verlassenheit lastete über der Alp, ab und zu löste sich aus den Flühen ein klagender Laut, wie der unheilverkündende Ruf des Käuzchens; dumpfer murmelte der Bach, schwarz und gewitterschwanger senkte sich die Nacht.Eine Stunde vielleicht, dass ich mich niedergelegt hatte, da brach es los, Schlag auf Schlag, Blitz uir Blitz. Ein Schein schlug den andern, oft leuchtete das Gemäuer anhaltend in grellem gespenstischem Licht. Dazu knallte und rollte der Donner, majestätisch in dem Felsenzirkus ringsum wiederhallend, dass die Erde erzitterte. Der Bach, der erst noch so friedlich durch sein Geröllbett plätscherte, fing an zu tosen, das Kollern und Schlagen der Steine drang bis zu mir herein. In wachem Träumen lauschte ich den gewaltigen Stimmen der Natur Erst nach Mitternacht legte sich das Gewitter. Fröstelnd drehte ich mich noch ein paarmal hin und her, eintönig klatschender Regen lullte mich schliesslich in tiefen Schlummer.

Ein andermal kamen mein alter Dauphinékamerad und ich vom Bernardino her auf dem Höhenweg nach der Zapporthütte. Ihm imponierten diese Berge nicht sonderlich, die grobklotzigen Schutthänge unter dem Zapportgletscher noch weniger, und unmissverständlich war im Murmeln von « eh... Höger » und « Damebärgli » zu vernehmen. In der Tat, ein ungemein sonniger Septembertag glänzte bis in die untersten Tiefen der Zapportschlucht, und ich bemühte mich vergeblich, sie mit ihrer winterlichen Wildheit in Einklang zu bringen.

Am folgenden Morgen verliessen wir die Hütte bei Tagesanbruch und langten um 9 Uhr auf dem Rheinquellhorn, 3200 m, an. Wolkenlos blaute der Himmel von Horizont zu Horizont. Über der Poebene schwamm ein Meer silberner Nebelflöcklein. Bernina und Berner Alpen schienen in greif- barer Nähe. Hinter dunklen Unterengadiner Bergen schimmerten die Gletscher der Ötztaler wie im Westen die Eishänge und Couloirs der Monte-Rosa-Ostwand. In fast unwirklicher Klarheit reichte die Sicht vom Schwarzwald bis zu den Gipfeln des Dauphiné und dem einsamen Monte Viso. Eine lange Zeit sassen wir in den warmen Gipfelfelsen. Dann führte uns unschwieriger, aber reizend luftiger Grat zum Vogelberg ( 3220 m ) hinüber, zur Linken streicht der Blick 1100 Meter hinunter in den kraterförmigen Kessel der Giumellaalp, und noch einmal 1000 Meter tiefer zieht, schmal und dunkel-waldig, in lichter Herbstsonne die Malvaglia. Den Rheinwaldfirn querend besuchten wir noch die Loggia ( 3077 m ), stiegen vom Passo del Cadabbi unter des Valrheins schwarzen Klüften ab bis auf die hohe Felsenbank ob der Alp Guarnaro, von da wieder hinauf zum Passo Guarnaro und erreichten über den Brescianagletscher im Einnachten die U. T. O. E. Hütte.

Am Morgen querten wir den Gletscher etwas höher zurück und gewannen durch vereiste Schuttrinnen den Westgrat des Rheinwaldhorns ( 3406 m ). Nach kurzen Klettereien blickten wir erstmals über lotrecht abbrechende Wände hinab in den Guarnarokessel. Das Weitere war einfach, ein Gang auf dem äussern Rand der Mauerkrone einer riesenhaften Ruine — über den zerklüfteten Abstürzen der Malvagliaflanke. Wie gestern auf dem Rheinquellhorn langten wir um 9 Uhr auf dem Gipfel an und blieben bis über Mittag. Die Luft war nicht ganz so durchsichtig klar, aber die Rundsicht eher noch prachtvoller. Da und dort lagerte leiser Dunst und liess einzelne Berge und Gruppen nur um so mächtiger hervortreten, so den Piz Linard, Tödi, in den Berner Alpen Finsteraarhorn und Schreckhorn. Über der blendend weissen Wölbung des Alphubels ragte der schwarze Kopf des Matterhorns auf. In den Tälern wiegten sich sonnendurchtränkte Nebelmeere, wie vielästige Fjorde zwischen Bergketten hinziehend. Dazu Ausschnitte wie die Umrahmung des Bondascagletschers und die blitzend, isoliert in die Luft schneidende Disgrazia. An solchen Tagen fragt man nicht mehr: « Warum steigen wir in die Berge ?! » Den Abstieg nehmen wir nach Norden. Die Felsen der Lentalücke, in der vorgerückten Jahreszeit der Sonne ohnehin nicht mehr zugänglich, waren von einem Unwetter her hochwinterlich von Eis und Schnee bedeckt. Mein Freund sprach nicht mehr von Högern und Damenbärgli.

Ich war wiederholt vergeblich in den einsamen Talschluss der Malvaglia gekommen. Doch endlich nahte die Erfüllung. Vertraut war mir jetzt der heisse Weg von Pontei nach Dagro hinauf, mit seinem weiten Luginsland und seinem einzigen armen Wässerlein. Es lohnt die Mühe wohl! einmal auf Trosa, ist es ein wunderbares Wandern, hoch an steiler Tallehne hin, durch Wald, über grüne Triften, in Alpenrosenfeldern. An den Bergen gegenüber rieseln und springen silberne Bäche. Hinter Tannenwipfeln zieht versonnen die Senke des herbernsten Tales. Irgendwo singt ein Wasserfall sein uraltes Lied, leise schwingend durch die Luft getragen, wie fernher klingender Harfenton. Wie sagte doch Andreas Fischer einmal: « 0 Friede der Alpenwelt, wer dich mitnehmen könnte zu Tal! » Guarnaro war diesmal ein kleines Paradies. Auf dem sammetgrünen Almboden erklang trauliches Herdengebimmel, munter sprudelte der Bach an den Hüttlein vorüber in die Schlucht hinunter, es gab Milch, zum Lager würziges Bergheu, und, nicht zuletzt: das Wetter war diesmal ausgezeichnet. Im Tagesgrauen befand ich mich denn auch bereits hoch oben in den Malvagliaabstürzen des Rheinwaldhorns, gespannt auf die Geheimnisse dieser so verrufenen Seite des Berges. Der Bündnerführer Band II sagt noch 1918, die Route L. Darmstädters über die Südwestwand vom Jahr 1892 sei nicht mehr wiederholt worden, und der Tessinerführer von 1931 schliesst sich dem an: « Die sehr interessante, aber durch Steinschlag gefährdete Route von Dr. L. Darmstädter über die Südwestwand wurde nur noch einmal wiederholt. » In der Tat, ein sehr steiles Couloir zieht die phantastisch zerrissene Südwestwand, « von Guarnaro gesehen in der Mitte » 1 ), zum Brescianagletscher hinauf, wohl der Weg Darmstädters. Östlich davon, von derselben Stelle ausgehend in spitzen Winkel, zieht jedoch ein anderes grosses Couloir direkt zum höchsten Punkt der Wand empor. Die Wahl war nicht schwer, und es wollte mir scheinen, man habe zu Unrecht diese schönste Seite des Rheinwaldhorns so abseits gelassen. Gewiss, auch dieses Couloir ist steinschlaggefährlich, und schreckhaft genug sieht die Umgebung aus, in der man klettert; es ist aber jedenfalls ungefährlicher als das westliche Couloir und bei guten Verhältnissen nicht schlimmer als manch andere oft begangene Route. In mühelosem Ausstieg gelangt man auf den Südgrat und über diesen « ohne wieder Gletscher zu betreten 1 ) » leicht und rasch zum Gipfel.

Ein Ziel war erreicht, ein Wunsch erfüllt, mit leisem Bedauern schier blickte ich zurück in den herben, stein- und schutterfüllten Guarnarokessel. Indessen glänzten Fels und Firn in der Morgensonne, und frohgemut schwang ich mich von Block zu Block dem Gipfel zu.

Beim wohlvertrauten Steinmann sass ich lange Stunden. Einsame Stille weit und breit, nur ab und zu einer Dohle bergfrisc her Ruf. Zuweilen strichen Schatten über den Gipfel, aber gross und weit leuchtete die Firnenwelt. In den Tälern mochten jetzt die Sonntagsglocken klingen. In ruhiger Schönheit feierten die Berge der Adula und des Bündner Oberlandes — die Berge, zu denen einst Placidus a Spescha suchend und einsam gewandert, schlicht, die Güte selber, aber stark und gross, aufrecht de Wettern trotzend wie die Tannen seiner Heimat. Und wie es zu seinen und zu allen Zeiten war — unmerklich wie die Schatten kamen, glitten sie von dannen, aufs neue nahte der Sonne goldenes Licht, und unbekümmert zogen Wolken ihre Bahn.

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