Der Sessagit
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Der Sessagit

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Hans Bernhard.

Wenn man diese elegante Felssäule zum ersten Male erblickt, so möchte man glauben, eine Guglia oder einen Campanile aus den Dolomiten vor sich zu haben; denn der Sessagit zeigt sowohl in der Gesteinsart als auch im Aufbau grosse Ähnlichkeit mit jenen berühmten Kletterbergen. Glücklicherweise muss man aber diesmal nicht so weit gehen, um seinen « Kletterdrang » zu stillen. Dieses Felsgebilde befindet sich nämlich auf gut schweizerischem Boden in Graubünden, westlich des Kunkelspasses, der den Übergang von Reichenau nach Vättis vermittelt. Ausgangspunkt für diese Besteigung ist die hübsche und saubere Unterkunft der S.A.C.-Sektion Raetia auf der Grossalp, die man von Reichenau aus in 3 Stunden über die Kunkelspasshöhe erreicht.

Schon während des Aufstieges auf den Kunkels erblickt man zeitweilig den schlanken Felsturm des Sessagit hoch über den dunkeln Tannen. Doch er wirkt erst mit seiner ganzen Wucht, wenn man auf der Passhöhe steht, da er sich erst jetzt recht von der senkrecht nach Süden abfallenden Kalkwand des Sennensteins abhebt, von deren Fuss er sich kühn gegen den Himmel emporreckt. Dieses Bild ist sehr gut in einer Photographie festgehalten, die im 51. Jahrbuch des S.A.C. erschienen ist in Verbindung mit einer Abhandlung von F. W. Sprecher über die ethymologische Entstehung der verschiedenen Benennungen dieses Felsturmes. Denn bei den Einheimischen wird der Sessagit auch « Turm » oder « Türgg » genannt. Auch die Bezeichnung « Obelisk » kann man auf einer älteren Karte des T. A. finden. Vorherrschend ist jedoch die romanische Bezeichnung « Sessagit », die mir auch als die treffendste und ursprünglichste Benennung erscheint: heisst doch Sessagit auf Deutsch « spitzer Fels ».

Die entstehungsgeschichtliche Erklärung F. W. Sprechers in eben jenem erwähnten Aufsatz für die Benennung « Türgg », die er auf einen Verlegenheitsausdruck eines Spassvogels zurückführen will, kann mir jedoch nicht recht einleuchten. Ich glaube vielmehr, dass die Bezeichnung « Türgg » von der grossen Ähnlichkeit dieses Felsturmes mit einem Maiskolben herrührt, der in der hiesigen Mundart allgemein « Türggazapfa » genannt wird.

Doch wie dem auch sei, die Benennung ändert nichts an der stolzen Gestalt des Sessagit, und das Herz eines jeden zünftigen Kletterers beginnt bei dessen Anblick höher zu schlagen.

Früher galt der Sessagit allgemein als unersteigbar, bis Walter Risch, der bekannte Führer aus Campfer und Freund Christian Kluckers, ihm diesen Nymbus der Unerreichbarkeit raubte: Ganz allein erkletterte er am 11. Mai 1921 den Sessagit, eine Leistung, die ihm so bald keiner nachmachen wird.

Lange Jahre hindurch rückte nun niemand mehr dem Sessagit zu Leibe, wenigstens nicht mit Erfolg. Erst im Mai 1931, also genau 10 Jahre nach dem Erstbesteiger, gelang es Mathys Margadant und Rudolf Honegger aus Chur, die Zweitbesteigung auszuführen. Die Beschreibung des Aufstiegs haben sie im Hüttenbuch niedergeschrieben. Dadurch wurde die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf diese interessante Kletterei gelenkt, so dass im folgenden Sommer die Besteigung noch dreimal glücklich durchgeführt wurde.

Auch ich hatte schon während des ganzen Sommers die Besteigung des Sessagit geplant, doch hatte es mir bisher immer an einem gleichgesinnten Gefährten gefehlt. Im Herbst sollte es nun endlich zu der langersehnten Besteigung kommen: Durch einen glücklichen Zufall traf ich im Bergell mit Ruodi Honegger zusammen, dem im Frühling mit Margadant die Zweitbesteigung des Sessagit geglückt war. Wir lernten uns kennen und wurden bald gute Bergkameraden.

So kam es, dass ein wunderbar klarer Novembertag uns beide in der Grossalpunterkunft überraschte. Man kann wirklich sagen überraschte; denn nach so einem elenden, verregneten Sommer waren wir das schöne Wetter gar nicht mehr gewohnt. Wenn wir am Vorabend wegen der Kälte und der vorgerückten Jahreszeit ( es war mittlerweile bereits spät im November geworden ) noch an der Durchführbarkeit unseres Vorhabens gezweifelt hatten, so gab es jetzt bei diesem prachtvollen Wetter keinerlei Bedenken mehr.

Schnell ist die Hütte in Ordnung gebracht und der Rucksack gepackt. Den zweiten Sack lassen wir mit allem Entbehrlichen in der Hütte zurück, da wir nur den einen mitnehmen können, um das unbedingt Notwendige mitzuführen, wie unsere Kletterfinken, mehrere Meter Reepschnur, den Kletterhammer, verschiedene Mauerhaken und Karabiner sowie etwas Proviant. Auch unsere beiden Seile, die zusammen 70 m messen, müssen selbstverständlich mit.

So ausgerüstet ziehen wir los. Vorerst steigen wir in südwestlicher Richtung gegen P. 2003 des Sennensteins hinauf. Dabei kreuzen wir viele Wild- spuren, die sich hier besonders gut von der feinen Neuschneeschicht abheben. Es scheint demnach glücklicherweise noch manches arme Häslein der Büchse der zahlreichen Nimrode entronnen zu sein.

Vom Rücken des Sennensteins müssen wir nun, steil gegen das Lavoitobel absteigend, uns den Weg durch dichten Legföhrenwald bahnen. Es erfordert einige Mühe, den geeignetsten Durchschlupf zu finden, ohne die Richtung zu verlieren. Doch dank der Ortskenntnis meines Kameraden finden wir uns rasch durch. Als wir wieder aus den Legföhren heraustreten, reckt sich zu meiner grossen Überraschung kaum 100 m von unserem Standort der trotzige Felsturm des Sessagit in schwindelerregender Steilheit hoch gegen den dunkeln Himmel empor. Wahrlich ein wuchtiger Anblick, der mir bei dem Gedanken, dass ich nun da hinauf soll, unwillkürlich das Herz etwas rascher schlagen lässt! Doch ein Zurück gibt es da selbstverständlich nicht.

In wenigen Minuten sind wir über Geröll und steile Felsplatten zu der Scharte hinübergequert, die von der steilen Wand des Sennensteins und dem daraus aufsteigenden Sessagit gebildet wird. Damit befinden wir uns bereits in halber Höhe des Turmes und haben somit nur noch seinen oberen, allerdings auch schwierigeren Teil durch Klettern zu überwinden.

Von der Scharte quert Honegger über ein schmales, aufwärtsführendes Band in die Westflanke des Turmes hinaus, indessen ich ihn um einen Block in der Scharte sichere und langsam das Seil ausgebe. Das Band ist sehr heikel, da es abschüssig und stellenweise mit kleinen Rasen- und Moospolstern durchsetzt ist. Zudem weist es nur sehr spärliche und schlechte Tritte und Griffe auf. Man würde das nicht so beachten, aber man muss bedenken, dass man, sobald die Scharte verlassen ist, sich in der Flanke draussen befindet, die lotrecht gegen das Lavoitobel und den Schwarzwald abfällt.

Nach etwa 12 m verschwindet mein Seilgefährte in einem kleinen Kamin, welches sich weiter oben verflacht und mit einem kleinen Überhang endet. Dort kommt er wieder zum Vorschein. Um diesen Überhang zu umgehen, muss er sich wieder in die Wand hinausschwingen, was vermittels eines guten Griffes geschieht. Nun entschwindet er von neuem meinem Blick, und ich kann lange Zeit nichts hören als Schnauben und Kratzen. Das Seil wird immer kürzer. Bald sind alle 40 m ausgegeben, und ich denke schon, nun müsse ich meine Sicherung ( die bei der Länge des Seils ohnehin nicht mehr viel nützt ) aufgeben und selbst etwas nachrücken. Da endlich scheint mein Gefährte einen Standplatz erreicht zu haben. « Nachkommen! » tönt es von oben. Da er mich von dort aus gut sichern kann, geht es ziemlich rasch, und bald befinde ich mich neben ihm. Nun gilt es, die schwierigste Stelle des ganzen Aufstieges zu überwinden: ein enges, steiles Stemmkamin, das nach etwa 10 m Höhe mit einem Überhang endet. Dieser ist lose und griffarm und führt auf die Nordkante hinauf. Honegger steigt in das Kamin hinein, damit ich auf den einzigen Standplatz unterhalb desselben nachkommen kann. Dieser sogenannte « Standplatz » besteht aus einem winzigen Vorsprung in der Wand und bietet nur knapp Stand für den einen Fuss. Es befindet sich hier bereits ein in die Wand eingetriebener Mauerhaken, an welchem ich mich mit einer Brustschlinge aus Reepschnur sichere. Diese Stellung ist nicht gerade beneidenswert: halb stehe ich auf einem Fuss und halb hänge ich am Haken. Von Zeit zu Zeit muss ich das Standbein wechseln, damit es nicht gar zu steif wird. Doch es bleibt mir keine lange Zeit zu solchen Betrachtungen, da mein Kamerad inzwischen vermittels Pusten und wurm-artiger Bewegungen das Ende des Kamins erreicht hat und nun aus diesem heraussteigen muss, um sich über den Überhang hinaufzuarbeiten. Doch kaum macht er sich daran, so prasseln auch schon Steine jeglichen Kalibers durch das Kamin herunter, an dessen Ende ich mehr oder weniger stehe. Ich kann mich nur davor schützen, indem ich mich schleunigst ganz an die Wand presse und mit der noch freien Hand den Rucksack wie eine Krone auf den Kopf setze. Diese Stelle ist nämlich wegen des Steinfalles besonders berüchtigt, da bereits zwei unserer Vorgänger sich hier ein Loch im Kopfe geleistet haben. Es ist immerhin ein unangenehmes Gefühl, wenn die Steine handbreit am Schädel vorbei in die Tiefe surren. Doch meine Methode mit dem Rucksack auf dem Haupte scheint sich zu bewähren. Honegger hat den Überhang überwunden, und der Steinschlag hört allmählich auf. Ausgerechnet der letzte Stein erwischt mich aber noch am Schienbein. Die Hauptsache ist jedoch, dass meine teure Schädeldecke intakt ist, und ich bin froh, endlich meinen « Standplatz » verlassen zu dürfen. Das Stemmkamin empfinde ich zufolge des Rucksackes schon eher als ein Klemmkamin, und es bedarf der ganzen Muskelkraft meines Vordermannes, um mich aus dieser Klemme zu ziehen. Nachdem auch der gefürchtete Überhang gewonnen ist, stehe ich aufatmend wieder neben meinem Gefährten. Hier befindet sich der einzige grössere Standplatz in der Aufstiegsroute, ein etwa 2—3 m2 grosser, verwitterter Absatz. Nun haben wir den Sessagit so gut wie « im Sack »; denn wenn man diese Stelle erreicht hat, so ist das schlimmste Stück überwunden, und der weitere Aufstieg bietet, obwohl noch recht heikel, keine wirklich grossen Schwierigkeiten mehr. Er ist gegeben durch einen Riss, der fast senkrecht durch die Nordwand zum Gipfel zieht.

Oberhalb unseres Standplatzes befindet sich der zweite Eisenstift, durch welchen wir das Seil mit Hilfe eines Karabiners laufen lassen. Nach weiteren 12 m Aufstieg folgt ein Abseilring. Von dort verfolgen wir den Riss etwa 30 m bis zur Nordostkante ( Sicherungsblock ), klettern von hier 5 m senkrecht hinauf und queren um eine stumpfe Kante in die Nordostflanke hinaus, um schliesslich ziemlich heikel über brüchiges Gestein und kleine Moospolster den Gipfel zu gewinnen. Auf diesem dürfen wir uns nur mit Vorsicht bewegen, da er bedenklich verwittert ist und der Steinmann den grössten Teil des Platzes einnimmt. Immerhin finden wir genügend Raum zur Rast.

Trotzdem es bereits auf Ende November geht, scheint uns die Sonne warm auf den Pelz. Sie ist uns besonders willkommen, nachdem wir fast eine Stunde in der kalten Nordflanke geklettert haben. Kein Wölklein. Wir können das ganze Bündner Oberland überblicken und sehen bis weit über den Oberalppass hinaus. Im Süden schimmern die bereits eingeschneiten Gipfel der immer prächtigen Berninagruppe. Den Ausbück nach Norden versperrt uns leider der mächtige Absturz des Sennensteins. Wir fühlen uns so wohl und zufrieden hier oben, dass wir die Gipfelrast über eine ganze Stunde ausdehnen. Nachdem wir uns ins Gipfelbuch, das unsere Vorgänger hier deponierten, eingetragen haben, machen wir uns an den Abstieg. Bis zum Haken oberhalb des schon erwähnten verwitterten Absatzes klettern wir vorsichtig hinunter. Von dort weg vollzieht sich der ganze weitere Abstieg durch Abseilen. Von diesem Absatz auf der Nordwestkante gibt es nun zwei Möglichkeiten, um hinunter zu gelangen: Entweder man seilt sich über den Überhang und das Stemmkamin zu dem kleinen Standplatz unterhalb desselben ab ( Aufstiegsroute ), um von dort durch weiteres Abseilen den untersten Quergang zu erreichen. Oder dann, wenn man genügend lange Seile hat, kann man sich von dem Absatz direkt auf die Scharte beim Einstieg abseilen, was viel kürzer und empfehlenswerter sein soll. Auf diese Weise vermeidet man auch den unangenehmen Quergang beim Einstieg in die Westflanke. Wir wählten trotzdem den Abstieg über die Aufstiegsroute, da wir fürchteten, die Länge unserer beiden Seile würde nicht ausreichen. ( Wie wir erst später erfuhren, hätten zweimal 40 m knapp genügt. ) Doch auch das Abseilen hatte seine besonderen Reize: so konnten wir, gemütlich am Seil schwebend, mit Musse die Stellen unter uns betrachten, über die wir uns kurz zuvor so mühsam hinaufgearbeitet hatten. Doch da sich der Abstieg auf diese Weise rasch vollzieht, so war auch der Genuss des Abseilens bald zu Ende, und kurz darauf befanden wir uns beide glücklich und wohlbehalten in der Scharte.Von da aus eilten wir im Sturmschritt der Hütte zu.

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