Der Vordere Selbsanft
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Der Vordere Selbsanft

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Erste Besteigung 1863.

Von Caspar Hauser1 ).

Um 346 Uhr erreichten wir von Stachelberg aus die Hütte des obern Staffeis der Nüschenalp. Diese ist angelehnt an den Fuss überhängender, kolossaler Felsblöcke, welche vor Jahrhunderten vom Nüschenstocke sich abgelöst haben. Noch schien die Sonne, aber von Westen her zogen schwere Wetterwolken ihrem Antlitz entgegen. Schon rollte in der Ferne der Donner. Ich bestieg den nächstliegenden Grat und sah der Entwicklung eines Gewitters zu, das im Gletschergebiet der Tödigruppe hauste. Es näherte sich meinem Standpunkte mehr und mehr und zwang mich endlich zur Flucht in die Hütte.

Nachdem es ausgetobt, machte ich mit den Führern um 630 Uhr abends noch einen Spaziergang in anderer Richtung, auf die südwärts der Hütte liegende Anhöhe, die in der Karte als Eck eingezeichnet ist, wo man den Seibsanft in seiner ganzen Breitseite beherrscht, gerade hinunter in das grause Limmerntobel und weiter hinten durch die Windungen der Felsengänge aufAus dem 1. Jahrbuch des S.A.C., ( gekürzt ). C. Hauser war einer der eifrigstem Gründer des S.A.G. und trug wesentlich dazu bei, dass die Sektion Tödi schon am 3. Mai 1863 entstehen konnte.

Die Alpen — 1938 — Les Alpes.29 den Limmernboden sieht. Der Eindruck dieses Anblickes ist ein überwältigender: es ist, als ob plötzlich eine unsichtbare Geisterhand unsere Gedanken in Fesseln schlüge, der Verstand steht urplötzlich stille, das Ahnungsvermögen erwacht, und ein dunkles Schauen der Seele zeigt uns hinüber in eine überirdische Welt — eine Art ekstatischer Zustand, wo unser Wesen an der Grenze von Zeit und Ewigkeit, von der Erde gleichsam hinüberlangt in das Ursein der Schöpfung und das Bewusstsein von Körper und Geist nur noch als mattes Dämmerlicht durchscheint. Sei es, dass die Elastizität der Seele in jenem Augenblick eine erhöhte war, noch nie in meinem Leben hat die Bildnerhand der Natur so schöpferisch an mir gewaltet wie hier. Als ich ins Tal niedergestiegen zu den Wohnungen der Menschen, konnte ich mich lange Zeit gar nicht mehr finden in die Kleinheit der Formen, die grossen Paläste und alles Kunstwerk von Menschenhand kamen mir nur vor wie Spielzeug und Tändelwerk, so sehr hatte sich mein Wesen mit den riesenhaften Dimensionen jenes Ororamas identifiziert. Mitten im Felsengetäfel wird unser Auge wohltuend angezogen von einer grünsamtenen Oase, wo die üppigsten Gräser keimen, die weder der Tritt der Schafe noch die Sense der verwegenen Wildheuer erreicht, sondern die Vorsorge der Natur als Vorratskammer für die Ernährung der Gemsen aufbewahrt hat. Der Selbsanft ist überhaupt vermöge der grossen Ausdehnung des Gebiets, vermöge der schwierigen Zugänge und der mannigfachen Flucht, im Verhältnis der Seltenheit der Gemsen in andern Gebirgsstöcken, gleichsam noch ein Park dieser edlen anheimelnden Tiere.

Immer noch rollen die Donner im Nordwesten, an der Glärnischkette, und während es blitzt und kracht, sammelt sich auch im Süden ein Gewitter. Gemsfayren- und Claridenstock, wo das Wetter aufgehört, schweben in bläulichem Kolorit und zeigen den Charakter der Ruhe, indes in der Gewitterregion die Blitze das Dunkel der Luft erhellen.

Mit Tagesanbruch, den 15. August, wurde das Lager verlassen. Nach einer Stunde langten wir bereits im Limmernboden beim Zusammenfluss des von Nordost herkommenden Muttenbaches mit dem Limmernbach an. Der Gang hieher zeigte uns, dass der frühere Besitzer der Alp Limmern den Weg derart verbessert hatte, dass er ihn mit Rindvieh befahren konnte; seither ist nun der Weg wieder zerfallen, und es kann der Limmernboden daher nur mehr mit Schafen geätzt werden.

Der Limmernboden ist eine Ebene gleich dem Marsfelde, aber die Weide grösstenteils mit Schuttmassen überführt, welche der Bach von der Moräne des Limmernfirns dahin getragen. Übrigens steht man hier offenbar auf ehemaligem Seeboden, von welchem nach Jahrtausende langer Erosion das Wasser durch das gesprengte Felsentor bei der ( von mir so genannten ) Klus, wo jetzt alle Stränge der Wasser sich vereinigen, abgelaufen ist.

Um 8 Uhr betraten wir die Jenny-Scheuchzer-Grotte, 1933 m. Dann stiegen wir zwei Stunden lang in östlicher Richtung mit unsäglicher Anstrengung über steile Riesenen, mitunter mit 45° Neigung, hinan. Jeder Tritt erforderte straffes Anziehen der Muskeln, und immer rutschte man die Hälfte des gemachten Schrittes zurück. In der Höhe von 2200 m stiessen wir auf ein Blatt Buchenlaub, welches auf den Flügeln des Sturmes in diese Wildnis getragen worden. An der letzten Stufe der Trümmerhalde mussten wir zweimal die Flucht ergreifen wegen einer Ladung Steine, die, von den verwitternden Felsenhörnern sich ablösend, der Tiefe zu rasselten.

Um 1015 Uhr erreichten wir den Griesgletscher bei 2693 m und über denselben nach 21/2 Stunden seine nordwestliche Einfassung. Auf einer dünnen Humusschicht, die noch mit aufliegenden Kalkschiefern besät ist, zeigen sich bereits die Spuren der Vegetation der äussersten Grenze des ewigen Schnees, die Flechten und Moose, und im weichen Bette der letztern wiegen sich schon zierlich rote Blütenpflanzen ( Silène acaulis ). Zwischen 3024 m und dem Gipfel des vordem Selbsanft dehnt sich ein namenloser Gletscher aus, der wahrscheinlich früher nie betreten worden ist. Über diesen namenlosen Gletscher und die in denselben hineinragenden Felsenzungen ging unsere Reise. Bevor man den letzten Gletscherarm erreicht, muss über einen steilen, verwitterten Felskopf sorgfältig hinuntergeklettert werden. Die nun betretene Firnhalde hat beinahe 50° Neigung, von ihr gelangt man auf den letzten Sattel von Steingeröll, der unmittelbar zum eigentlichen, noch unerstiegenen Kopf des vordem Selbsanft hinführt. Dieser senkrecht aufsteigende Kegel erforderte noch eine etwa 20 Minuten lange vorsichtige Kletterarbeit, und um 1245 Uhr flatterte die Siegesfahne der Porta da Spescha auf dem schmalen Giebel, den noch kein menschlicher Fuss betreten und dessen Repertorium keine andere Spuren organischer Wesen aufwies, als die Feder eines Steinhuhns und vier wahrscheinlich von Alpenkrähen hieher getragene Kirschsteine. Unser erstes Jauchzen wurde von den staunenden Hirten an der Nüschenalp gehört, welche unser Vorhaben für unausführbar gehalten und darum die Kletterpartie mit unausgesetzter Aufmerksamkeit verfolgt hatten. Sie erwiderten unsern Gruss mit deutlich vernehmbarer Stimme. Die Aussicht auf diesem 2749 Meter hohen Berggipfel ist eine beschränkte. Zum Andenken an unsere Anwesenheit errichteten wir eine sieben Fuss hohe Steinpyramide, in welcher wir auf der Ostseite eine verkorkte Flasche mit Wahrzettel einschoben. Das Gipfelgestein des Vorderselbsanft besteht, wie die Hauptmasse des Gebirgstockes, aus Kalk, welcher den kristallinischen Schiefern aufgesetzt ist.

Um 2 Uhr traten wir, im Angesichte dräuender Gewitterwolken, den Rückweg an. Bis an den Fuss des Kegels kletterten wir die gleiche Steig zurück, Vater Eimer und ich umgingen nun den Kegel, während Rudolf Eimer auf dem Pfade der Ascension vorwärtsschritt. Auf der Westseite des Kegels begegneten wir einem Gletschertrichter, worin sich eine Menge von Rieselsteinen vom gestrigen Gewitter her vorfanden. Auf dem Geröllgrate, beim Beginn der steilen Firnhalde, trafen wir dann fast gleichzeitig mit dem jungen Eimer zusammen. Später gelangten wir auf ein Schieferplateau, in welchem bereits die Anfänge der Vegetation sichtbar waren. Dieses Plateau erschien wie ein Garten von Menschenhand, in Beete abgeteilt, welche durch Hecken aus senkrecht oder schief aufstehenden Steinen umzäunt waren. Diese mir noch nie vorgekommene Erscheinung kann ich mir nur als ein Werk des Sturmes und der Verwitterung erklären: die einst lose aufeinanderliegenden Schiefermassen haben durch den Andrang der Winde mannigfache Erschütterungen erlitten, und durch Erschütterung und Druck sind die fraglichen Schiefer in den Boden festgesetzt worden, während alles lose um sie herumliegende Gestein vom Winde weggefegt wurde.

Um 330 Uhr machten wir auf einer in den Griesgletscher hineinragenden Erdzunge halbstündige Rast. Von hier aus wurden wir einiger Gemsen ansichtig, welche teils unten weideten, teils auf dem Gletscher ruhten. Die Aufmerksamkeit, die wir ihnen widmeten, lenkte uns von dem Pfade ab, welchen wir am Morgen hinangestiegen waren, und unsere Rückreise ging nun über das linke Ufer des Griesgletschers und des Limmernfirns. Die Gemsen vermehrten sich nach und nach zu einem Rudel von siebzehn Stück; Eimer Vater und ich fassten nun Posto an einer den Gemsen unsichtbaren Stelle und beorderten den jungen Rudolf, auf Umwegen uns dieselben entgegenzutreiben. Zweifelsohne wäre das Kunststück auch gelungen, wenn nicht Gegenwind der Vorgeiss das Nahen des Spähers, der nur noch etwa 100 Schritte entfernt war, verraten hätte. Infolgedessen ergriffen die Tiere die Flucht in südöstlicher Richtung über den Gletscher und dem Kisten zu. In beschaulicher Isoliertheit begegnete uns mehr seitwärts noch ein gewaltiger Gemsbock, der bei unserem Herannahen ebenfalls Fersengeld nahm.

Eine mühsame Partie erwartete uns beim Abstieg auf den Limmernboden über die dicht am linken Ufer der Limmernfirnzunge sich herabziehenden, vom Gletscher abgeschliffenen, steilen Kalkwände, über die ich — beinahe eine Stunde am Seil hangend — a posteriori rutschen musste, so dass meine Beinkleider, die ich für unsterblich gehalten, am Ende der Partie gründlich durchgearbeitet waren. Rudolf Eimer leistete auch hier vortreffliche Dienste als Eclaireur.

Um 6 Uhr erreichten wir die Jenny-Scheuchzer-Grotte wieder und nahmen unsern Ballast zuhanden. Ohne erheblichen Aufenthalt stiegen wir nach der Talsohle hinunter über die Trümmerhalde, in welcher Bruchstücke der verschiedensten Steinarten sich vorfinden, worunter auch der buntschillernde Alpinit und der lauchgrüne Taviglianazsandstein. Von dem Hintergrunde des Bodens aus entdeckten wir hoch oben in einer Wand des Selbsanft ein Loch in ungefährer Grosse wie das Martinsloch und wie dieses in der Richtung von Ost nach West ausgebohrt. Der Limmernboden war bald durchschritten. Ausgiebig und sozusagen meine letzten Kräfte absorbierend wirkte der Aufstieg auf die Eck, wobei ich oftmals Atem schöpfen musste, wo ich am Morgen so lustig hinabspaziert war. Doch auch in diesem Zustande der Ermattung und Erschöpfung entging mir nicht der Genuss des wundervollen Schauspiels der Dämmerung des Antagonismus von Tag und Nacht, von Licht und Finsternis, und des allmählichen Überganges beider ineinander. Während der Limmernboden schon in nächtliches Dunkel gehüllt war, glänzte im Westen noch das schönste Gold der untergegangenen Sonne bis 8 Uhr. Bald hernach betraten wir die trauliche Hütte, wo sich die Sennen höchlich verwunderten, uns so bald wieder in ihrer Gesellschaft zu sehen.

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