Deutsche Himalaya-Expedition 1965 auf den Gangapurna
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Deutsche Himalaya-Expedition 1965 auf den Gangapurna

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON GÜNTER HAUSER, MÜNCHEN

Nach einem ausserordentlich schwierigen Aufstieg über die Südseite der ca. 7450 m hohen Gangapurna in Zentralnepal haben alle acht Teilnehmer und drei der insgesamt acht Sherpas in zwei Gruppen am 6. und B. Mai den Gipfel erreicht. Dieser in der Luftlinie etwa 13 km östlich des Achttausenders Annapurna I gelegene mächtige Berg war von Prof. Dyhrenfurth und anderen Hima-laya-Experten als eines der interessantesten Ziele unter den bisher unbetretenen Siebentausendern bezeichnet worden.

Unsere Expedition schien zunächst unter keinem guten Stern zu stehen. Ein erheblicher Teil des umfangreichen Gepäcks war noch irgendwo bei der indischen Eisenbahn liegengeblieben, als die Mannschaft am 28. März mit Verspätung von Pokhara, dem letzten grösseren Ort, aufbrechen konnte. Noch bei Beginn der eigentlichen Arbeit am Berg fehlten fünf Bergsteigern die Spezial-höhenschuhe, und erst in Lager III auf 5700 m Höhe erhielten sie diese für den Gipfelaufstieg unentbehrlichen Ausrüstungsgegenstände - aber nicht etwa die verlorengegangenen Stücke, sondern eine auf den Notruf der Expedition nachgeschickte Ersatzlieferung aus München. Besonders starke Frühjahrsschneefälle, die auch die anderen in Nepal tätigen Expeditionen stark behinderten und die bei der japanischen Dhaulagiri-Expedition sogar zwei Todesopfer durch Lawinen forderten, veranlassten unsere 185 barfuss gehenden Träger einen Tagesmarsch vor dem Hauptlager zur Umkehr. Wir mussten daher mit unseren acht Sherpas und fünf ausgesuchten Trägern im Pendelverkehr selbst die Lasten in das Hauptlager schleppen. Dieses wurde am 6. April am Südfuss der Gangapurna in nur 3750 m Höhe eingerichtet. Die Genehmigung zur Erstbesteigung der Gangapurna hatten wir erst in Nepal erhalten; sie erschien uns interessanter als die ursprünglich geplante Zweitbesteigung der Annapurna I.

Vom Hauptlager aus hatten wir den sehr grossen Höhenunterschied von rund 3700 m zu bewältigen. Schon die ersten Erkundungsgänge waren durch Neuschneefälle und die damit verbundene Spurarbeit behindert. Bis zu den Knien sanken wir meistens ein, und je höher wir kamen, um so ermüdender war das ständige Spuren. Ein direkter Zugang zur Südflanke der Gangapurna erschien uns als ungangbar, da der östliche Annapurna-Gletscher in seinem oberen Verlauf einen von glattgeschliffenen Felswänden umrahmten Eissee aufwies. Über eine Seitenmoräne fanden wir eine Umgehung des Gletscherschliffs. An der äusseren Kante der Moräne richteten wir am 9. April auf 4300 m Höhe Lager I ein; der Platz war sicher vor Lawinen, wenn auch nicht vor dem Luftdruck von Staublawinen.

Von hier aus stiegen wir in der Fallirne über steile Hänge an den Fuss eines gewaltigen Eisbruchs und stellten hier die Zelte des Lagers II auf 4950 m Höhe auf. Den Weiterweg durch den Bruch und über eine Steilrinne auf einen schneebedeckten Felsbalkon fanden Hermann Köllensperger und Erich Reismüller. Von Lager III auf diesem « Balkon » ( 5700 m ) bot sich ein grossartiger Rundblick auf die Bergwelt zwischen der Annapurna I und dem abenteuerlich geformten Riesenzahn des Ma-chapucharè, eines der « Heiligen Berge » Nepals.

Neuschneefälle zwangen die Spitzengruppe nach Lager II zurück. Die Bergsteiger hielten sich bei dem schlechten Wetter meist im Zelt auf und bemerkten daher die Notsignale nicht, die mit Leuchtkugeln von der Besatzung des Lagers I gegeben wurden. Dort schliefen der Expeditionsarzt Dr. Klaus Eckerlein und unser Verbindungsoffizier Mr. Premelama in einem grossen Steilwandzelt sowie fünf Sherpas in drei kleinen Zelten, als am 21. April um 5.30 Uhr der Luftdruck einer hinter der Moräne niedergehenden riesigen Lawine die Metallstäbe der kleinen Zelte knickte, die Stoffbahnen zerfetzte und das grosse Zelt in die Luft riss; es flog mitsamt dem Gestänge etwa 50 m bergauf, über den Kamm der Moräne hinweg und viele hundert Meter weit hinaus auf den Östlichen Annapurna-Gletscher. Durch das Gewicht der Körper der Schlafenden riss das Innenzelt ab und fiel zusammen mit feinstem Schneestaub auf Mannschaft und Ausrüstung. Auch ein Teil der Lebensmittel war hinweggeschleudert worden, konnte aber dank der Kolkraben, die sich auf die willkommene Beute stürzten, rasch wieder gefunden werden. Teigwaren und leichte Lebensmittel waren aber so zerstreut, dass sie aus dem Hauptlager ergänzt werden mussten. Die Hauptsache: niemand war verletzt, und alle fanden bald den Humor wieder. Wir anderen erfuhren erst zur festgelegten Funksprechzeit von diesem aufregenden Erlebnis unserer Kameraden in Lager I.

Erneut wurde Lager III besetzt, der schönste und sicherste, wenn auch den nächtlichen Stürmen sehr ausgesetzte Lagerplatz. Hier lagen wir allerdings halbe Nächte lang wach, weil wir die Zelt- Stäbe festhalten mussten. Beinahe täglich gab es Abendgewitter. Nach dem steilen Anstieg von Lager II nach III hatte es zunächst den Anschein, als ob wir ohne nennenswerte Schwierigkeiten über die Flanken der Gangapurna oder ihres Nachbarberges Annapurna III zur Eiswand unter dem Sattel zwischen diesen beiden Gipfeln hinüberqueren könnten. Hier erwies sich der tiefe Neuschnee als Haupthindernis; bis zu den Knien watete die Spitzengruppe auf der Suche nach einem geeigneten Platz für Lager IV durch diese lawinengefährdeten Riesenflanken. Wir wussten, dass wir diese Hänge nicht mehr begehen durften, wenn noch weitere Schneefälle kommen sollten, und mussten daher Lager IV mit Lebensmitteln für mehrere Tage ausrüsten. « Wunderbar » - meldeten die Kameraden durch Sprechfunk von dem am 24. April gefundenen Platz unter einer schützenden Eiswand - « die Zelte passen gerade auf einen kleinen, ebenen Fleck, Lawinen können uns nicht erreichen. » Der « wunderbare » Platz verlor aber in der Nacht seinen Zauber, als der Höhensturm sich erhob und den Schnee über die Eiswand hinabfegte. Keiner konnte in dieser und der folgenden Nacht schlafen, und auch bei Tag waren alle damit beschäftigt, sich und die Zelte von den weissen Massen freizumachen. Am dritten Tag konnten die Zelte künstlich erhöht und damit die Verwehungen gedämpft werden. Trotzdem fand die Spitzengruppe, der Ehlers, Greissl, Reismüller, Wünsche und zwei Sherpas angehörten, hier nicht die Erholung, die sie für die Arbeit an der nun folgenden Schlüsselstelle dringend gebraucht hätte.

Diese bestand aus einer etwa 400 m hohen und 55° geneigten Eiswand jenseits einer Randkluft. Jeder Meter musste hier mit festen Seilen gesichert werden, da sonst weder die Lasten ins Lager V hätten befördert werden können, noch ein bei jedem Wetter sicherer Rückzug möglich gewesen wäre Immer wieder zwangen die Schwierigkeiten dieser Eiswand und täglich einsetzende Schneestürme zur Umkehr. Nach sieben Tagen härtester Eisarbeit musste die Mannschaft, die bisher alle Lager bis hierher vorgetrieben hatte, teilweise abgelöst werden. Der sorgsam ausgearbeitete Plan, der beiden Gruppen unter gegenseitiger Deckung den Weg zum Gipfel ermöglichen sollte, war durch die hier auftretenden Schwierigkeiten und durch die Tatsache in Frage gestellt, dass die zur Getränkezubereitung unentbehrlichen Gaskartuschen unerwartet schnell zur Neige gingen; der Verbrauch übertraf in der sauerstoffarmen Atmosphäre bei weitem die angegebenen Werte, und die Sherpas hielten nicht viel von Sparsamkeit.

Zwei Gaskartuschen waren nur noch verblieben. Mit ihnen sollte die neueingeteilte erste Gruppe versuchen, endlich Lager V auf dem Sattel zwischen Gangapurna und Annapurna III zu errichten. Die zweite Gruppe musste zur Sicherheit nach Lager III absteigen, und Sherpa Kippa schickten wir ins Hauptlager, um neue Kartuschen zu holen. Er lief durch den Eisbruch ins Lager II und über die inzwischen aufgeweichten Hänge hinab bis ins Hauptlager. Am frühen Morgen verliess er es mit den Kartuschen wieder und erreichte gegen 23.00 Uhr Lager III. Er hatte damit drei Tagesetappen an einem Tag zurückgelegt; seine Leistung war entscheidend dafür, dass alle Teilnehmer den Gipfel erreichen konnten.

Nunmehr bestand die Spitzengruppe aus Ludwig Greissl, Hermann Köllensperger, Erich Reismüller und mir sowie aus dem Sirdar Ang Temba und dem Sherpa Phudorje; die zweite Mannschaft setzte sich aus Dr. Eckerlein, Ehlers, Seibold, Wünsche und dem Sherpa Pemba Norbu zusammen. Wir in Lager IV standen vor der Wahl, entweder - wie bisher - erst aufzubrechen, wenn die Sonne schon in die Eiswand schien, also relativ spät, und zur Zeit der Nachmittagsgewitter an der bisherigen Umkehrstelle anzukommen, oder aber früh zu gehen und bei der Morgenkälte Erfrierungen in Kauf zu nehmen. Nach den bisherigen Rückschlägen entschlossen wir uns für den frühen Aufbruch. Bei -25° verliessen wir am 5. Mai gegen 7.00 Uhr die Zelte und spurten stundenlang im Neuschnee bis zur Umkehrstelle. Dort verzichtete ich auf das zeitraubende Stufenschlagen und stieg mit zwei Pickeln senkrecht über die Eiswand auf. Ich erreichte auf diese Weise den 6800 m hohen Sattel und konnte die Kameraden heraufsichern. Hier stellten wir die beiden Zelte des Lagers V auf.

Am folgenden Morgen brachen wir um 8.00 Uhr zum Gipfel auf, meine drei Freunde und ich sowie die beiden treuen Sherpas. Endlos zieht sich vom Sattel aus der Ostgrat zur Gangapurna Ihm entspricht der lange Westgrat der Annapurna III, den eine Seilschaft ohne weiteres hätte ebenfalls begehen können, wenn wir die Genehmigung für diesen Berg gehabt hätten. In einer Art Wettlauf mit den unter uns im Süden sich zusammenbrauenden Gewittern stiegen wir über den zuerst flacheren, später steilen Gangapurna-Ostgrat immer höher. Noch narrte uns ein Vorgipfel, dann aber - um 14.35 Uhr - erreichten wir den Gipfel. Schwerfällig umarmten wir uns, während Phudorje -der Begleiter Stammbergers 1964 am Cho Oyudie Flaggen Nepals und Deutschlands am Pickelschaft befestigte; Erich Reismüller filmte mit seiner Kamera, die er selbst heraufgetragen hatte. Doch schon überrollte uns das Wetter, peitschte der Sturm über den Gipfel. Unsere Spuren waren verschwunden. Langsam ging es unter Führung zuerst Ang Tembas und dann Reismüllers den langen Grat zurück zum Lager. Endlich gab es etwas zu trinken. Da, ein Knall, ein Feuerstrahl schoss durch das Zelt! Blitzschnell warfen wir die Kocher hinaus und erstickten die Flammen mit Schnee. Die Katastrophe eines Brandes im Zelt, in dem wir in den Daunensäcken steckten, war vorbeigegangen, aber zu trinken hatten wir nichts mehr, denn die letzte Kartusche war verbraucht. Die Nacht war kalt und eng, und wir spürten die angefrorenen Zehen. Glücklicherweise stellten wir später fest, dass keiner von uns ernsthafte Erfrierungen davongetragen hatte.

Am Morgen des 7. Mai stiegen wir zunächst ins Lager IV ab; unterwegs begegneten wir der zweiten Gruppe, die am nächsten Tag schon um 10.20 Uhr den Gipfel erreichte. Da wir in Lager IV erfuhren, dass der deutsche Botschafter in Nepal uns im Hauptlager besuchen wollte, stiegen Greissl und ich noch ins Lager III und am B. Mai ins Hauptlager ab; die anderen blieben zur Sicherung der zweiten Gipfelmannschaft in Lager III. Unter wildem Siegesgeschrei der Sherpas umarmte uns im Hauptlager der Verbindungsoffizier, beglückwünschte uns der eben eingetroffene Botschafter Dr.Löer. Er ist wohl der erste Botschafter der Bundesrepublik, der je eine Expedition in ihrem Hauptlager aufgesucht hat. Am nächsten Morgen führten wir ihn eine Stunde bergauf, bis er die Gangapurna in ihrer vollen Grosse vor sich stehen sah. Vollständig war unser Glück aber erst, als am nächsten Tag feststand, dass auch die zweite Gruppe den Gipfel erreicht hatte und heil zurückgekehrt war. Damit war ein schwieriger Siebentausender Zentralnepals durch alle acht deutschen Bergsteiger und durch drei Sherpas erstiegen worden.

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