Die Besteigung des Central Peak der Drakensberge
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Die Besteigung des Central Peak der Drakensberge

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON FRITZ BAUMGARTNER, BERN

Mit 2 Bildern ( 34, 35 ) Bei meiner gänzlich unvorbereiteten Afrika-Durchquerung von Kapstadt nach Kairo, stellte sich für mich als begeisterter Alpinist die Frage, auf welche Art und Weise ich meinen bergsteigerischen Tatendrang als Einzelgänger stillen könnte.

Durch einen Prospekt wurde ich schon in Kapstadt auf die Drakensberge aufmerksam, diese 800 Kilometer lange Gebirgskette, welche den östlichen Teil der Republik Südafrika von Norden nach Süden durchzieht. Bei einem Besuch des südafrikanischen Bergklubs in Kapstadt sah ich zufällig auch einen Amateurfilm von einem Mitglied, welches die Natal-Drakensberge besucht hatte, wo sich die höchsten Erhebungen dieses Gebirgsmassives befinden. Dadurch wurde ich noch darin bestärkt, auch dieses Gebiet aufzusuchen, besonders da es am Wege nach Johannesburg liegt, der bekannten Goldgrubenstadt, welche ich auf jeden Fall besichtigen wollte.

Nach einer sechstägigen Busfahrt über die vielgepriesene « Gartenroute » längs dem Indischen Ozean, lange ich in der als Ferienort bekannten Hafenstadt Durban an, wo ich versuche, den dortigen Präsidenten des Bergklubs zu erreichen. Dieser weilt jedoch in den Ferien. Unverrichteter Dinge besteige ich nach drei Tagen Aufenthalt im feuchttropischen Durban am Sonntagabend den Nachtzug nach Winterton, welches die meinem auserlesenen Tourengebiet nächstgelegene Eisenbahnstation ist. Da ein komplettes Abteil ohne weitere Mitreisende zu meiner Verfügung steht, kann ich mich häuslich für die lange Nachtfahrt einrichten, um am nächsten Morgen ausgeruht die Fahrt ins Ungewisse anzutreten. Am frühen Morgen lässt mich eine ungewohnte Stille aus dem Schlafe schrecken. Wo bin ich eigentlich? Das charakteristische Eisenbahnwagen-Rattern ist verstummt. Scheinbar sind die Wagen nach Winterton bereits seit längerer Zeit vom Hauptzug, der nach Johannesburg weiterfuhr, losgekuppelt worden, um vorübergehend auf ein Stumpen-geleise gestellt zu werden. Erst beim Morgengrauen wird eine Dampflokomotive vorgespannt, welche sich fauchend und keuchend durch das fruchtbare Landwirtschaftsgebiet schlängelt. Für mich stellt sich nun die Aufgabe, aus den vielen kleinen Haltestellen, die meinige herauszufinden. Doch der Kondukteur ist so freundlich, mich zwei Stationen vorher, darauf aufmerksam zu machen, wann ich auszusteigen habe.

Über meine Weiterreise bin ich noch im unklaren. Gemäss den Angaben eines Reiseprospektes soll sich ein Hotel, ca. 50 Kilometer von der Eisenbahnstation entfernt, am Fusse der Berge befinden, so dass für mich die Möglichkeit besteht, dort zu übernachten. Im einzigen Restaurant des weit weg vom Weltgeschehen liegenden Ortes kann ich mich verpflegen sowie die nötigen Erkundigungen über meine Weiterreise einziehen.

Ich habe Glück. Da es kein öffentliches Verkehrsmittel gibt, um den Ort meiner Träume zu erreichen, hat das Hotel einen eigenen Transportdienst organisiert, mit einem Personenwagen und mit einem Afrikaner als Chauffeur. Und dieser fährt eben vor, währenddem ich diese frohe Auskunft erhalte. Rasch ist mit ihm Kontakt aufgenommen und die Angelegenheit geordnet. Auf schmaler, aber guter Naturstrasse rollen wir durch die hügelige, den Hauptbergen vorgelagerte Gegend. Eine teilweise wild gezackte, schroff ins Tal fallende Felskette - « die Drachenberge » - bilden den Horizont der friedlich vor uns liegenden Hügellandschaft. Immer näher rücken diese Berge Südafrikas. Über steinerne Brücken queren wir verschiedene Bergbäche, deren sauberes, blaues Wasser sprudelnd zwischen grossen Felsblöcken der Ebene zustrebt. Das Gebiet gleicht dem unserer Voralpen.

Zerstreut über die Landschaft verteilte, mit Stroh bedeckte Negerhütten erinnern mich aber daran, dass ich eine afrikanische Gebirgswelt durchfahre. Bei der Ankunft im Hotel melde ich mich und erhalte eine Unterkunft, obschon ich keine Zimmerreservation vorausgebucht hatte.

Noch am gleichen Nachmittag unternehme ich eine erste Erkundung in die nähere Umgebung, um festzustellen, welches nun eigentlich der Cathedral Peak, der Domgipfel ist, von dem mir alle Leute erzählt haben. In Anbetracht, dass ich nur eine kleine schematische Übersichtskarte des Bergmassives besitze, ist es ein hoffnungsloses Unternehmen, vom Tal aus einen bestimmten Gipfel ausfindig machen zu wollen. Ich weiss nur, dass einer der Hauptgipfel nach der Form seiner Felsen einer Kathedrale gleichen soll. Aber nichts derartiges ist zu finden. So nehme ich mir vor, anderntags einen der niederen Hügel in der Nähe zu besteigen, von dem aus ich die nötige Übersicht über mein ausgewähltes Tourengebiet haben werde. Gewitterdrohende Wolken machen mich darauf aufmerksam, dass es Regenzeit ist, während der fast jeden Tag mit einem Gewitter zu rechnen ist.

Als ich am nächsten Morgen den nächstgelegenen Hügelzug erklimme, treffe ich beim Abstieg zwei Deutsche, einen Vater mit seinem Sohn, welche schon längere Zeit in Südafrika ansässig sind. Diese sind bereits seit einer Woche im Hotel und haben unter anderem den Cathedral Peak, mit dem vom Hotel zur Verfügung gestellten afrikanischen Führer, bestiegen. Sie können mir von der Aussichtswarte aus die Aufstiegsroute erklären sowie die zu erwartenden Schwierigkeiten erläutern.

Wie ich meine Absicht, alleine diesen Berg zu besteigen, zum Ausdruck bringe, erwidern sie mir, dass sie wegen der vielen Schlangen nicht ohne den « Neger-Bergführer » gehen würden. Es sei wohl keine schwere Bergtour; zudem seien bis unter den felsigen Gipfelturm grösstenteils Wegspuren anzutreffen. Ausserdem sei im Hotel eine relativ gute topographische Karte des näheren Gebietes erhältlich. Aus diesen mir gut scheinenden Hinweisen folgere ich, dass es kein unverantwortliches Risiko ist, im Alleingang und in Halbschuhen - den einzigen guten Schuhen, welche ich bei mir habe - die Besteigung zu wagen.

Wie ich für den morgigen Tag eine Rucksackverpflegung bestellen will, eröffnet mir der Boy, dass die Hoteldirektion es nicht gestatte, allein Bergtouren auszuführen. Er könne mir deshalb keinen Lunch für morgen bereitstellen. Ich diskutiere nicht weiter!

Einzelne Sonnenstrahlen, welche durch die Vorhänge in das Zimmer fallen, wecken mich am Morgen des 7. Februars 1962. Mit Schrecken stelle ich fest, dass es schon sechs Uhr ist. Das Lebensprinzip der Neger, « Morgen ist auch noch ein Tag », kann mich über das Missgeschick hinwegtrösten. Der weisse Südafrikaner, mit dem ich das Hotelzimmer zu teilen habe - ein schwarzer Südafrikaner hat in der Republik Südafrika kein Zutritt in den für Weisse reservierten Hotels -zeigt grosse Anteilnahme an meiner geplanten Bergtour, welche nun wegen meines Verschlafens ins Wasser gefallen ist. Er ist sogar so freundlich, mir einen Wecker zu beschaffen, trotzdem dieser ihn morgen früh um 4 Uhr auch aus dem Schlafe reissen wird. So wird mein Vorhaben um einen Tag verschoben.

Anderntags trete ich um 4 Uhr auf leisen Sohlen, wie ein Dieb, in die stockfinstere Nacht hinaus, bewaffnet mit einer Stablampe und einem Sportsack, der folgenden Inhalt enthält: einen Regenschutz, den Photoapparat und eine kleine Flasche Pepsi Cola. Ich bin also nicht gerade zweckmässig ausgerüstet! Dafür beseelt mich ein um so grösserer Wunsch, die Einsamkeit eines mir fremden Berggebietes aufzusuchen. Mochten sich sämtliche bösen Berggeister gegen mich verschworen haben, sämtliche Giftschlangen der Drakensberge und zufällig noch nicht ausgestorbene wilde Buschmänner - welche sich vor etwa 100 Jahren noch in diesen Landstrichen herumgetrieben haben -, ich will meine Füsse auf einen Berg Südafrikas setzen!

Für eine kurze Wegstrecke benutze ich die Autozufahrtsstrasse zum Hotel, bevor ich die Graslandschaft betrete, durch welche ich, auf gelegentlichen Wegspuren, meinem ersten Hindernis entgegenziehe. Ein reissender, teilweise sehr tiefer Bergbach versperrt mir den Weg zur andern Talseite. Am gestrigen Abend habe ich die einfachste Übergangsstelle ausgekundschaftet, um nicht während der finstern Nacht ein unfreiwilliges Bad zu nehmen. Eine grosse Stille umfängt mich. Nichts als das Rauschen eines Bergbaches ist zu hören.

Meine starke Stablampe beleuchtet gespenstig das andere Bachufer. Wegen des kalten Wassers und der geschlipfigen Steines, durchwate ich den Bach in meinen Schuhen. Die Wegspur führt mich auf der andern Seite ständig aufwärts. Erstes zaghaftes Vogelgezwitscher verkündet den neuen Tag. Im Osten zeigt sich ein farbenfroher Morgen. Leichtes Gewölk schillert in sämtlichen Farben zwischen leuchtendem Gelb und tiefem Blau. Ich schreite wacker aus, um möglichst frühzeitig der Tropenhitze des Tales zu entrinnen. Durch steile Bergmatten mit vielen mir unbekannten Blumen windet sich der schmale Weg unerbittlich aufwärts. In weiter Ferne erkenne ich mein vorgesehenes Tourenziel. Ich erklimme durch eine steile schuttige Rinne einen Grateinschnitt, worauf der Weg durchwegs dicht dem Bergkamm entlang verläuft. Merkwürdiges Gebell lässt mich aufschrecken. Da sehe ich Paviane, eine bodenbewohnende Affenart Afrikas, welche den Grat bevölkern. Immer den nötigen Respektabstand wahrend, verziehen sie sich langsam.

Mittlerweile scheint die pralle Sonne bereits erbarmungslos auf mich herunter. Trotz des nun fast eben dahinführenden Pfades, komme ich gehörig ins Schwitzen. Der Berg meiner Träume will und will nicht in meine Nähe rücken! Zeitweiliges Gewölk erleichtert etwas den Marsch, kann aber auch eine Wetterwendung andeuten.

Endlich befinde ich mich unter dem Gipfelaufbau, wo ich den Feuerplatz finde, von dem mir die beiden Deutschen erzählt haben. So bin ich auf der richtigen Route. Die direkte Ersteigung verwehren wasserüberronnene, mit Grasbändern durchzogene, steile Felsplatten. Der Anstieg führt linkerhand durch eine steile, teilweise bewachsene Rinne. Am Ende der mühsam zu begehenden Runse, komme ich auf einen luftigen Grat, von welchem ich einen schönen Tiefblick ins Tal habe, von dem ich auszog. Ein ausgeprägtes Couloir bereitet die ersten bergsteigerischen Schwierigkeiten. Ich finde auch ein Stahlseil, mit dessen Hilfe man das Couloir verlässt, um den Weg über die abschüssigen Platten zum Gipfel zu benützen. Ohne es zu benützen, überwinde ich die etwas heikle Stelle. Beim Hinunterklettern wird es mir bessere Dienste leisten. Den einfachsten Weg suchend, erklettere ich die teilweise nassen Felsen. Mein mangelndes Bergtraining macht sich jetzt unangenehm bemerkbar. Ein ungeheurer Durst lässt zudem meine Kräfte erlahmen. Trotz meinem guten Vorsatz, erst auf dem Gipfel meinen einzigen Trinkvorrat anzustechen, brauche ich das dringend nötige Aufpeitschungsmittel schon jetzt: die Flasche Pepsi-Cola! Es ist eine kurze Freude, zurück bleibt nur das Verlangen nach noch mehrGelegentliche Spuren von früheren Besteigungen führen mich zur vorausgesagten hölzernen Leiter, mit der eine zweimetrige Steilstufe überwunden werden kann. Ich sehe mein Ziel sich nähern und werde dadurch zum kräftigen Weiterklettern angespornt.

Nach fünfstündigem, fast ununterbrochenem Aufstieg betrete ich um 9 Uhr den 3004 Meter hohen Cathedral Peak. Eine mir gänzlich fremde Gebirgswelt offenbart sich mir: 1500 Meter unter mir das Hotel, das einzige europäische Anwesen weit und breit. Sonst dehnt sich vor mir eine völlig unberührte Landschaft aus. Nur im Osten breitet sich in weiter Entfernung die fruchtbare Ebene, welche landwirtschaftlich genutzt wird. Den Blick nach Westen, in das nur vier Kilometer entfernte Basutoland, verwehren mir etwa 300 Meter höhere Erhebungen. Unzählige unerschlossene Wände laden noch zu Erstbegehungen ein!

Nach zirka einer Stunde trete ich den Abstieg an. Dieser gestaltet sich schwerer als der Anstieg, weil nun die Orientierung erschwert ist. Vorsichtig bewege ich mich über die exponierten Platten abwärts. Bei der Feuerstelle lösche ich beim kleinen Bächlein meinen grossen Durst.

Mir steht immer noch viel Zeit zur Verfügung, um in mein Standquartier zurückzukehren. Deshalb entschliesse ich mich, nicht mehr auf der gleichen Route abzusteigen. Nach der Landkarte führt ein Fusspfad, fast immer auf gleicher Höhe verlaufend, nach Osten, um schliesslich genau nördlich vom Hotel steil in das Tal hinunterzuführen. Auf dem ganzen Weg hoffe ich, mich nach dem von Zeit zu Zeit sichtbaren Hotel orientieren zu können, so dass ich mich bedenkenlos auf die etwas längere Fusstour begebe. Leider finde ich nirgends Pfadspuren vor. Das Gelände entpuppt sich nun als bedeutend hügeliger, als es von weitem aussah. Ich versuche auf den steilen, ausgedörrten Grashalden ohne viel Auf und Ab, möglichst rasch vorwärtszukommen Unbarmherzig brennt die alles versengende Sonne auf mich armen Erdenbürger nieder. Ich verspüre die trockene Kehle und auch, dass ich seit gestern abend nicht mehr gegessen habe. Ich bedaure sehr, nicht auf dem kürzesten Weg abgestiegen zu sein. Wieviele Schlangen mag ich in dem zeitweise hohen Grase mit meinen Halbschuhen aufgeschreckt haben?

Weidende Pferde geben mir die Gewissheit, dass ich mich in von Menschen bewohnter Umwelt befinde. Weit und breit ist zwar kein menschliches Wesen zu erblicken. Längs verschiedenen Bachrinnen suche ich meinen Weg abwärts, wobei ich just rechtzeitig bemerke, dass ich mich der falschen Talseite zuwenden wollte. Lange raste ich, etwas ermüdet, auf einer wasserüberronnenen Felsplatte und trinke vom mehr oder weniger klaren Wasser. Angesichts der letzten Wegstrecke muss ich, um einen Umweg zu vermeiden, noch eine steile, mit fast undurchdringlichem Gestrüpp bewachsene Felsstufe hinunterklettern. Mitten im Gebüsch erschreckt mich eine von einer häu-tenden Schlange zurückgebliebene Haut.

Zwischen grasenden Kühen hindurch nähere ich mich dem letzten Hindernis vor dem längst herbeigewünschten Ziel: dem eiskalten Bergbach, welchen ich zu früher Morgenstunde, weiter bachaufwärts, durchquert hatte. Ich lasse mich auf einen Stein nieder, um meine wundgelaufenen Füsse im frischen Wasser zu kühlen. Dann halte ich nach der besten Stelle Ausschau, wo es mir gelingen kann, ohne ein kaltes Bad das andere Ufer zu gewinnen. Erst beim Erreichen von festem Boden, atme ich erleichtert auf. Meine Müdigkeit möglichst verbergend, schreite ich auf der Fahrstrasse wacker zur Anhöhe hinauf, wo auf dem grünen Rasen die Hotelgäste in den Lehnstühlen sitzen, sich wohl wundernd, dass es Leute gibt, die auf einen Berg steigen müssen, um Befriedigung und Glück zu finden...

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