Die Ersteigung des Tödi-Rusein durch die Porta da Spescha 1863
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Die Ersteigung des Tödi-Rusein durch die Porta da Spescha 1863

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Mit 1 Zeichnung.

Von Theodor Simler.

Vorwort.

Theodor Simler, Gründer und erster Centralpräsident des S.A.C. vor 75 Jahren, spricht hier als Bergsteiger und Erschliesser aus dem Jahre 1863 zu uns Epigonen. Es geziemt sich wohl, seiner auch auf diese Weise zu gedenken.

Bei der Gründung am 19. April 1863 in Olten wurde das erste offizielle Exkursionsgebiet zur näheren Erforschung bestimmt, und zwar die Tödi-Claridengruppe. Ein gedrucktes Regulativ erläuterte die Organisation und Aufgabe der « Expedition ». Den Generalbericht über deren Verlauf erstattete Simler im 1. Jahrbuch des S.A.C. 1864 auf nicht weniger als 48 Druckseiten.

Drei « Detachemente », jedes geleitet von einem « Chef », rückten in das Gebiet ein mit abgesteckten Zielen. Der « combinierte Feldzug » vollzog sich folgendermassen:

I. Détachement: Tödi-Rusein. 1. Section: Porta da Spescha. Chef: Dr. Simler von Bern, Commilitonen: Apotheker R. Lindt von Bern, Advocat Hauser von Glarus, Dr. Schröder von Frauenfeld. Dazu 1 Führer, 1 Eclaireur und 4 Träger. 2. Section: Grünhorn-Hegetschweilerplalte. Chef: Freuler-Becker von Ennenda. Commilitonen: H. Brunner und C. Müller von Glarus, M. Steinmann von Ennenda, F. Blumer von Schwanden. Dazu 2 Führer, 4 Träger und 6 Mann « irreguläre Truppen » mit 1 Träger.

II. Détachement: Bifertensiock-Selbsanft. Chef: J. Jenny-Ryffel von Schwanden. Commilitone: Scheuchzer-Dür von Basel. Dazu 2 Führer und 2 Träger.

III. Détachement: Claridenstock. Chef: Speich, Zeichner, von Ennenda. Commilitonen: Frey-Gessner, Pfarrer Garonne, die Apotheker Stein und Neuburger — alle von Aarau. Dazu 2 Führer und 2 Träger.

Vom Kurhaus Stachelberg aus zogen alle Detachemente am 9. August ins Feld. Zeit-weis ungünstiges Wetter verhinderte die Lösung der ganzen Aufgabe, so dass schon am 14. August das Exkursionsgebiet wieder « gänzlich geräumt » war. Es drangen aber auch andere Clubmitglieder in das Gebiet ein, und ihre « freien Leistungen » übertrafen zum Teil die « offiziellen ». Das Ergebnis beider war die Besteigung der wichtigsten und höchsten Punkte der vier Hauptgruppen: Bifertenstock, Tödi-Rusein durch die Porta Spescha, Claridenstock und Scheerhorn.

Die Schilderung dieser Bergfahrten findet man im 1. Jahrbuch 1864 mit etlichen Holzschnitten im Texte und zwei farbigen Panoramen, auch die von R. Leuzinger gestochene 1. Excursionskarte des S.A.C. für 1863 und 1864 ist dem Bande beigegeben. Simler beginnt den Reigen mit dem Aufsatze « Die Eröffnung der westlichen Durchfahrt oder die Ersteigung des Tödi-Rusein durch die Porta da Spescha ». Ein temperamentvoller Bergsteiger, ein eifriger Geologe und Kartenkenner, ein um- und vorsichtiger Leiter führen darin das lebhafte Wort. Diesem Berichte, der 43 Seiten umfasst, ist in etwas gekürzter Form der folgende Abschnitt entnommen, der von der Hauptarbeit des 1. Détachements, 1. Section, erzählt. Die eingefügte, etwas vergrösserte Zeichnung « Porta Spescha », ist eine Wiedergabe derjenigen Rudolf Lindts, welcher als erster Centralkassier Theodor Simler begleitet hat.E. J.

Dem Ruseinbach folgend, langten wir abends 5 Uhr, als bereits das Rollen des Donners an dem schwarzverhängten Piz Rusein sich vernehmen Hess und schwere Regentropfen fielen, in der obersten Hütte an. Viva la Grischa 1 Buna séra 1 begrüsste ich die mit Melken beschäftigten Sennen, all mein Romansch, das ich vor 12 Jahren von einer artigen Wirtstochter in Flims während eines regnerischen Nachmittags erlernt hatte, zusammennehmend. Buna séra, Signurs! Eis vegniân da GlarunaGie! Savein nus con logiàrGie! Aber nus vein bucca bellas Combras a buns Ligs. Oh! nus essen cuntents d' un pauc d' igl Fein, nus diesen Humens, a cun Piascher. ( Guten Abend, Ihr Herren! kommen Sie von GlarusJa! könnten wir hier über Nacht bleibenJa! aber wir haben keine schönen Zimmer mit guten Betten. 0! wir zehn Männer sind mit Vergnügen zufrieden mit etwas Heu. ) Diese Probe romanscher Radbrecherei mag dem geneigten Leser genügen, um zu erkennen, dass es in der Schweiz noch eine Sprache gibt, die trotz ihrer starken Verwitterung verdient, geschrieben und studiert zu werden.

Wir hatten es uns bereits etwas bequem gemacht, als Hauser und der junge Eimer als Nachzügler mit einem gewissen Siegesjubel anrückten. Die Ursache dieser Gemütsbewegung war ein leibhaftiger junger Munk, den der junge Eimer, weiss der Himmel wie, gerade noch erwischen konnte, als das Tier unten am Sandgrat in sein Loch schlüpfen wollte. Freilich lief dieser Fang nicht ohne einen tüchtigen Biss in den Daumen des Räubers ab. Mit lebhaftem Beifall begrüsste man diesen Benjamin der Expedition. Es wurde beschlossen, derselbe solle Freud und Leid mit uns teilen, und Hauser machte sich verbindlich, ihm in Glarus ein gastfreundliches Quartier auf Lebenszeit anzubieten. Für heute wies man ihm sein Nachtquartier im Freien unter dem Schütze eines Felsblockes an, versteht sich: an eine Schnur gefesselt.

Der Regen hatte wieder etwas aufgehört, und wir setzten uns ausserhalb der Hütte, deren starke Seite nicht gerade die Reinlichkeit war. Lange schauten wir der Beschäftigung des Melkens zu. Der Senne pflegt jede Kuh mit einem Salzlöffel, den er ihr sehr gewandt durchs Maul streicht, zu kirren, bevor er sich an sein Geschäft setzt. Den Hauptspass machte uns die Fütterung der Schweine mit der Sierte, d.h. den Molken und dem Zieger, der bei jeder Käserei abfällt. Diese Sierte wird in einem Fasse in der Hütte aufgehoben, von demselben führt eine Leitung nach aussen über einen langen Trog. Der Senne pfeift, und alsbald kommen die Grunzer in beschleunigtem Trabe herangerannt und postieren sich um den Trog, die Unbescheidensten stellen sich in denselben und hart vor die Mündung, aus welcher der Nährquell sprudeln soll. Alle sind voller Ungeduld, und es wird unter fürchterlichem Grunzen um die besten Plätze gestritten. Endlich wird der Zapfen ausgezogen, die Molke und der Zieger sprudeln in den Trog und die Mahlzeit beginnt. Eine wahre Schweinezucht! Alle Leidenschaften entfesseln sich, der Brotneid kennt keine Grenzen, er wird kannibalisch, denn durchlöcherte und abgefressene Ohren sind unter dieser Horde keine Seltenheit. Mit eisernem Arm aber waltet die Gerechtigkeit des Sennen unter der Gesellschaft. Es regnet schwere Hiebe auf die Ungebärdigsten, man muss sie ausrangieren, denn sie scheinen unersättlich in den Geiz hinein zu fressen. Der Vorrat geht zu Ende, aber jetzt erneuert sich der Kampf um den letzten Tropfen, und einzelne Subjekte, die bereits die Stätte verlassen, kehren bei dem wilden Geschrei zurück, in der Meinung, es handle sich um neue Beute. Endlich hört 's denn doch auf, und die Herde zerstreut sich ein Stück nach dem andern, um zu weiden.

Die Schweine der Ruseinalp sind klein, von rotbrauner Farbe und repräsentieren nach den Forschungen unseres gelehrten Mitgliedes Rütimeyer in Basel das Urschwein der Pfahlbauten Helvetiens.

Das obere Staffel von Rusein besitzt nur eine Hütte, und da wir so zahlreich angerückt waren, so mussten ihre eigentlichen Insassen — Hirten von dunkler Gesichtsfärbung, schwarzem Haar und schönem Profil — uns den Platz räumen. Sie zogen abwärts nach dem eine halbe Stunde entfernten untern Staffel.

Allmählich senkte sich die Nacht auf die Alp, und immer dunkler und grotesker türmte sich die Pyramide des Piz Alpetta am Talschluss, die als letzter Zahn eines langen sägeartigen Grates in die Lüfte ragte. Unsere Betten befanden sich in der Vorderkammer der Hütte, wo gekäst wurde, und zwar übereinander gebaut als Parterre und erstes Stockwerk, so eng indessen, dass man vom Plainpied mit einem Aufschwung sofort ins erste Etage sich versetzen konnte: eine wahrhaft seemännische Ökonomie des Raumes. Nachdem jeder auf das beste in seinen Plaid eingewickelt sich zurechtgefunden, liess der Schlaf nicht lange auf sich warten.

Es war morgens 2 Uhr, also am 11. August, als ich aus der Hütte trat und auf den ersten Anblick sehr erfreut war ob dem schönen Sternenhimmel. Je mehr ich aber das Firmament bewunderte, desto weniger gefielen mir die Auspizien: die Sterne funkelten so intensiv, wie ich mich gar nie dessen erinnerte, zudem zeigten sich sehr viele Sternschnuppen, meist in westlicher oder südwestlicher Richtung fallend. Der Nordwind war einem warmen Föhn gewichen, der alle Nebel von gestern abend aufgesogen hatte. Ich prophezeite den Gefährten, wir würden heute tüchtig gewaschen werden, denn das starke Funkeln der Sterne sei ein Zeichen, dass die Luft sehr mit Wasserdampf gesättigt sei und die geringste Abkühlung Regen bringen müsse. Wirklich fing denn auch gegen das Tagesgrauen hin der Himmel an, sich zu überziehen, was uns aber nicht abhielt, um 3% Uhr die Hütte in der Richtung nach dem Stockgron zu verlassen.

Der alte Eimer schickte seinen Sohn als Eclaireur wieder talaufwärts mit der Weisung, vom Kleinen Tödi her den Weg über den Bleisasfirn nach der Ausmündung der Porta-Kehle zu machen.

Anfangs führte der Weg über etwas steile Grasplanken, dann auf eine wellige Weidterrasse, die nordwärts von einem schief aufsteigenden Felsgrat begrenzt war. Diesem strebten wir zu, um von ihm aus in das jenseitige Tobel sehen zu können, das nach der Karte in gerader Linie zu der Porta da Spescha hinaufführt.

Es war 5 Uhr, als wir bei diesem Grat anlangten. Die Temperatur war bis auf 7° 6 gesunken; der Himmel gänzlich überzogen, grau, regnerisch; Föhn und Bise kämpften augenscheinlich über dem Sandgrat miteinander und machten sich den Pass streitig. Wir marschierten indes nach kurzer Rast dem Kamm entlang, der zuerst aus schwarzen Schiefern, weiter oben aus gelbem Kalkstein und noch höher wieder aus grünem und kupferrotem Alpinit besteht, aufwärts und erreichten dessen Auskeilung und damit die Mündung der eigentlichen Porta-Kehle um 6 Uhr.

Da hatten wir nun die vollkommene Ansicht des problematischen Passes. Wir standen am Fusse der mit einem riemenförmigen und vielfach gegabelten Firn belegten Kehle zwischen Piz Meilen und Stockgron.

Wir müssen hier notwendig rasten, um die Ankunft des jungen Rudolf Eimer abzuwarten, der eben den Bleisasgletscher überschreitet. Der Himmel bedeckt sich übrigens mehr und mehr. Der Claridenstock, an dem jetzt wahrscheinlich die Aarauer Stockgron Piz Meilen arbeiten, ist auch kaum mehr sichtbar. Die Bise gewann die Oberhand, die Kälte wurde nachgerade empfindlich.

Um die Station der zwei Pyramiden noch etwas besser zu kennzeichnen, erwähne ich, dass man sich hier eigentlich auf einem Joche befindet. Gegen Norden hebt ein tiefes Tobel an, das nach dem Ruseintal ausläuft; gegen Süden haben wir ein etwas weiteres Erosionstal, das von einem kleinen Gletscher eingenommen ist, den wir auf der Karte sehr deutlich angezeigt finden. Nennen wir diesen Gletscher, um ein für allemal Umschreibungen vermeiden zu müssen, den Curschellasfirn ( Glatscheret da Curschellas ), und den gleich südwestlich in einem engen Tälchen nebenanliegenden, nur durch einen niedrigen Felsgrat von ersterem getrennten, den Bisquolmfirn ( Glatscheret da Bisquolm ). Curschellas und Bisquolm waren, wie bekannt, im Jahre 1824 die Begleiter des Pater a Spescha nach der Porta und die ersten Porta da Spescha Nach Zeichnung von R. Lindt 1863 Aufstieg Ersteiger des Tödi.

Der alte Eimer ging, da mittlerweise nichts Besseres zu tun war, auf Rekognoszierung aus. Er überschritt den Curschellasfirn und erklomm mit gemsenhafter Gewandtheit den jenseitigen Felsgrat, gerade an der Stelle, wo die Karte dessen Gabelung anzeigt. In weniger als einer halben Stunde stand er auf einem Kopf des Grates und heuerte ( jauchzte ) uns zu. Seine Stellung war à cheval der drei Gletscher Curschellas, Bisquolm und Gliems. In der Tat berichtete er uns nach seiner Rückkunft, wie er jenseits des Grates einen grossen Gletscher übersehen habe, von dem aus man ohne Zweifel auf den Stockgron und somit auch auf den Tödi gelangen könne.

Die Temperatur sank mehr und mehr, bereits fielen einige Regentropfen.

Der alte Eimer kam zurück und der junge krabbelte soeben den Krachen ( Trümmertobel ) herauf, was durch den Lärm der Rollsteine deutlich verkündet wurde. Um halb 9 Uhr hatte er uns erreicht und somit ebenfalls eine Aufgabe gelöst, nicht unwichtig für künftige Tödireisen.

Leider hatten wir durch diese Eclairage 3 Stunden verloren. Da wir aber alle der Bedeutung unserer Aufgabe bewusst waren, so wurde um 9 Uhr die eigentliche Porta-Reise angetreten. Vor uns östlich lag eine lange und steile Geröllhalde, eingeklemmt rechts vom Curschellas-, links vom Speschafirn. Je mehr wir anstiegen, um so mehr liess es sich ins Regnen ein und der Himmel bot einen wahrhaft trostlosen Anblick dar. Am Sandgrat erkannte man an dem Hin-und Herwogen der Nebel, wie die ewigen Feinde Föhn und Bise sich eine förmliche Schlacht lieferten auf der ganzen Linie vom Catscharauls bis zum Rusein.

Wir hatten den felsigen Fuss des Stockgron, der hier noch Alpinit ist, erreicht und suchten Schutz an einer vorspringenden Ecke, von wo wir dem Schlachtgewühl am Sandgrat zusahen. Das Blut, will sagen das Wasser, floss dort bereits in Strömen, aber die Kräfte der feindlichen Heere waren noch nicht erschöpft, immer rückten frische Kolonnen ins Gefecht und machten zur Wahrheit, was wir heute früh in den Sternen gelesen. Von der Porta senkten sich die Nebel schwer durch die enge Kehle herab, die Bise gewann Terrain, und ihre Vorposten erreichten bereits unsern Standpunkt, dem Regen mischten sich Graupen und endlich Schneeflocken bei. Unter solchen Umständen wurde der Rückweg beschlossen.

Wehmütig verliessen wir um 10 Uhr unsern Posten, offenbar denselben, an dem am 10. August 1834 A. Escher v. d. Linth und Steiger von Luzern aus gleichen Gründen zur Umkehr gezwungen wurden. Nennen wir daher diese historische Ecke des Stockgron das Kap der Umkehr. Es ist die Stelle, wo man notgedrungen den steilen, aus der Kehle herabkommenden Speschafirn überschreiten muss, um an die jenseitigen Felsen zu gelangen. Ohne dem Felsgrat, der bei den zwei Pyramiden endigt, wieder zu folgen, stiegen wir in gerader Richtung über die Stirnmoräne des Curschellasgletschers hinweg zu Tal und erreichten die Hütte unter heftigen Regengüssen um 11 Uhr.

Ei fa ruch'Aura ( es macht schlecht Wetter ), meinte einer der Sennen, spitzbübisch hinter den Stockzähnen lachend; denn die blanken Silberlinge von heute morgen schienen ihm nicht übel gefallen zu haben.

Am folgenden Morgen, den 12. August, 4 Uhr, begannen wir den zweiten Anlauf, um wo möglich die Scharte von gestern auszuwetzen. Der Himmel versprach das Reste, nur wenige Nebel schlichen um einzelne Bergspitzen. Um 7% Uhr standen wir bereits wieder am Kap der Umkehr, überschritten nun vorsichtig den Firn und stiegen an der nördlichen Felswand, also auf der Seite des Piz Meilen, in die Höhe. Es ist dies eine Kletterei durch arge Felstrümmer von rostrot angewittertem Alpinit. Da die Böschung oft mehr denn 45° beträgt, so muss man sich vor rollenden Steinen hüten. Um 8 Uhr waren wir bereits mitten in der Kehle und in der Höhe der beiden Pyramiden des Cambriales, also ca. 3212 Meter.

Wir machten hier einen kleinen Halt, während Eimer rekosgnoszierte. Eine brillante Aussicht nach Westen ist bereits eröffnet, in der der breitköpfige vergletscherte Piz Cavardiras mit dem Übergang zum Brunnigletscher, der spitze Piz Ault und der Oberalpstock mit seinem ausgedehnten, wie ein silberner Kürass schimmernden Gletscher die Glanzpunkte bilden.

Immer weiter kletterten wir an den Felsen hinauf, immer enger und düsterer wurde die Kehle, in die kein Sonnenstrahl fiel. Mitten auf dem Sattel schaute noch ein schwarzer Zahn aus dem Firn heraus. Endlich hiess es Halt. Die Frage war: Wieder auf den hier bereits glasharten, nach meiner Messung 42° Neigung besitzenden Firn oder links aufwärts über fast senkrechte Felswände? Weit vom Ziel konnten wir keinesfalls mehr sein.

Eclaireur voran! Alsbald hing der junge Eimer an den Felsen, deren vorstehende Rippen seinem Fuss kaum die nötige Unterstützung boten. Es kam eine überhängende Stelle, die Schuhe und der Stock wurden beiseite gelegt und alle Mittel des Kletterns in Anspruch genommen. Das war nicht mehr freudig anzusehen, und ich beorderte entschiedene Rückkehr. Aber der Alte lenkte auf einem vorspringenden Felskopf, wo er die Situation übersah, durch Kommando die Schritte seines Sohnes. Jetzt ist er hinter einer Klippe verschwunden, und eine Minute später hören wir sein freudiges Jauchzen. Er hatte die Porta erreicht. Der Rückstieg war wo möglich noch misslicher, und wir beruhigten uns nicht eher, bis wir ihn wieder unter uns hatten.

Es war jetzt entschieden, dass wir wieder aufs Eis mussten. Der alte Eimer hieb mit seinem Beil die Stufen. Bald waren wir um den Felszahn, der mitten in der Porta steht, herum und gewahrten zu unserm grossen Erstaunen alsbald das Firnjoch, das sich an die steil abgerissene Wand des Stockgron anschliesst. Mit lautem Hurra traten wir um halb 10 Uhr aus dem düsteren Reich der Schatten in das verklärte Licht der Sonne, das blendend von den Firnen des Tödi, des Bleisasverdas, des Urlaun- und Bifertengletschers uns entgegenstrahlte. Welch ein Kontrast, eine Stunde früher und jetzt! Wir hatten alsbald im Schütze einer Felswand des Piz Meilen Posto gefasst, um Siesta zu halten Eimer aber eilte durch eine natürliche Bresche mit der Siegesfahne auf den Gipfel und schwang sie hoch in die Luft. Glück muss der Mensch haben!

Eben defilierte Scheuchzer, vom Tödi kommend, hinter dem Firnwall des Bleisas hervor, sich der Hegetschweilerplatte zuwendend, und auf dem Glarner Tödi weilte eine andere Partie, wie wir nun wissen: die Herren Neuburger von Aarau und Hefti-Trümpi von Hätzingen. « Nun, Rudolf, wollen wir einmal die Signalschüsse losbrennen! Hier die Pistole, aber gut geladen! » Ein scharfer Knall hallte durch das Firntal des Biferten. Die Scheuchzer-expedition sandte jetzt ebenfalls ihren Begrüssungsjubel herauf.

Unsere Freude war unbeschreiblich. Ein Problem, an dem seit 50 Jahren die Wägsten und Besten sich versucht, war nun sicher gelöst, die westliche Durchfahrt eine verbürgte Tatsache geworden.

Um 11 Uhr verliessen wir sämtlich die Porta, stiegen die Bresche hinauf nach dem Piz Meilen, dann abwärts über das Firnjoch, das diesen mit dem Bleisas verbindet. Man muss sich hüten, hier auszugleiten; denn man kann nicht absehen, wohin die Schlucht führt. Nun betraten wir den stark gewölbten Firn, der vom Bleisas herunterkommt; die Besteigung des letztern mussten wir uns wegen vorgerückter Zeit untersagen. Zum erstenmal hatten wir an dieser Stelle Schrunde zu umgehen und zu übersteigen. Endlich, immer nordöstlichen Kurs haltend, gelangten wir in die Fusstapfen unserer heutigen Vorgänger und erreichten, alles unnötige Gepäck zurücklassend, den Scheitel des Tödi ( den Firnsattel ) um 12% Uhr und den Gipfel des Rusein um 12% Uhr.

Noch vor unserem Abstiege schickte ich Eimer zu dem felsigen Absatz, der südwärts unter dem Piz Rusein sich diesmal frei zeigte, mit dem Auftrag, einige Handstücke zu schlagen. Er brachte einen hellgrauen kristallinischen Kalkschiefer zurück, in dem sich bei genauerem Betrachten kleine Knötchen, offenbar organische Einschlüsse, zeigten. Das Ganze hatte fast den Habitus jenes grauweissen Kalkbandes ob dem Flysch bei Stachelberg.

Um 2 Uhr verliessen wir den Rusein, in dessen Firn wir eine Flasche mit Wahrzeichen eingegraben hatten, um zum Glarner Tödi überzusiedeln und dem Bad Stachelberg einen Gruss zu entbieten. Der überfirnte Sandgipfel, den wir sehr gut sehen konnten, war doch zu entlegen, um ihm heute noch einen Besuch abzustatten.

Nach 20 Minuten hatten wir den weniger prägnanten Tödi erreicht, auf dem wir die Wahrzeichen von Scheuchzer, Hefti-Trümpi und einem 60jährigen Manne von Hätzingen, der schon am 9. August mit andern Talleuten hier oben war, vorfanden.

Dieses Jahr musste zu den schneearmen gehören, denn auch hier liess sich nach Süden zu der nackte Fels erreichen, auf dem die Kuppe des Tödi-firns aufliegt. Der junge Eimer brachte Proben des Gesteins zurück: es war ein hellgrauer dickplattiger Kalk, stark mit Kalkspat durchwachsen und auf Klüften von Eisenrost rot gefärbt; der Habitus keineswegs zu verwechseln mit dem auf dem Piz Rusein.

Hier vom Glarner Tödi aus übersahen wir nun recht genau die topologischen Verhältnisse des Gebirgskranzes, der rund um den Bifertengletscher sich herumzieht. Im Westen also der Piz Rusein als höchster Punkt, der in mehreren Staffeln südwärts zu der ersten Lücke am Bleisasverdas abfällt; dann erhebt sich der Grat wieder zu der breiten Stirn des Bleisasverdas und sinkt jenseits zur zweiten Lücke ab, um wieder zum Piz Meilen anzusteigen. Alsdann folgt die dritte und letzte Lücke vor dem Eckpfeiler Stockgron: die Porta da Spescha. Vom Stockgron wendet sich der Grat ostwärts, und deutlich erkennt man die Porta da Gliems, von der aus Spescha auf den Stockgron stieg. Es folgt ein schwarzer dreieckiger Felsen, 3330 m der Karte, der Porphyr Hegetschweilers, nach einer zweiten spitzwinkligen Einsattlung der Firngipfel des Urlaun mit breitem Absturz nach dem Bifertengletscher. Der Grat senkt sich nun ab, wird zackig und steht mit nackten Felsen auf dem Bifertengletscher auf; dann erhebt er sich wieder jenseits der Felsennase, 2750 m, gegenüber der Schneerunse, und schliesst mit dem Bündner Tödi, V"i.

3189 m, an den imposanten Bifertenstock an, hinter welchem der Piz Frisai noch mit seinem schwarzen Gipfel hervorschaut.

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