Die grosse Überschreitung im Engadin
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Die grosse Überschreitung im Engadin

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Ernst Reiss

3. August 1947 Mit 1 Bild ( 72 ) ( Unterbach ) Ganz unerwartet sind mir einige Urlaubstage in meinen Bündner Heimatbergen gewährt.

Die alten Freunde und Seilgefährten, Hans Schmid und Paul Valär, sind mit mir über die Aelahütte zum Orgelpass aufgestiegen. Für den Haupt-dolomitfels der Bergüner Stöcke hatten wir von jeher eine besondere Vorliebe. Unter dem Anblick der wuchtigen Tinzenhorn-Südwand sind wir wortlos, ja fast etwas verlegen an den Fuss der gewaltigen steinernen Pyramide getreten. Dieser schwere Pfad sollte für uns eine erste Prüffahrt sein.

Gut haben wir uns verstanden, und es ist uns ein sonniger, schönster Tag im Fels geworden. Und noch oft werden wir um diese einsame, grosse Wand werben. Sie birgt eine der wenigen klassischen Routen, wo man weder Menschen noch rostigen Hakenreihen begegnet.

Mit einem dieser Gefährten wollte ich das stabile Herbstwetter zu einer weiteren grossen Bergfahrt nutzen. Am 2. August treffen Hans und ich in Pontresina mit dem lieben Kameraden Pierre Plumettaz zusammen. Das verlockende Angebot, in einem Pferdekütschli in das wildschöne Rosegtal zu fahren, schlagen wir natürlich nicht ab. Eine solche Geruhsamkeit ist ja auch einmal ein paar Bergvagabunden zu gönnen. Aber erst als wir unsern Aufstieg bei der alten Tschiervahütte für heute beendet haben, bietet sich uns das überwältigende Panorama dieser grossartigen Bergumrahmung voll und ganz. Es ist das bekannte Bild: Piz Roseg, Scerscen und Bernina, die ausserordentliche, seltene Bergfahrt, wenn man sie alle an einem Tag besuchen will, um beim Glanz der Abendsonne über den königlichen Biancograt wieder zurückzukehren.

Es dürfte schwer sein, die Versuche und wenigen Durchführungen dieser Überschreitung hier chronologisch festzuhalten. Doch weiss ich, dass der Engadiner Altmeister Hans Risch mit Dr. Amstutz diese Fahrt in einer fabelhaften Zeit abschliessen konnte. Wir aber wollen diesmal dem Erlebnis den Vortritt lassen.

Wie wir kurz vor Mitternacht zum Aufbruch rüsten, vernehmen wir, dass der Hüttenwart und Bergführer Joh. Götte sich mit einem Gast zum gleichen Unternehmen auf dem Wege befindet. Die glanzvolle Vollmondnacht, was dazu fast Voraussetzung ist, hat auch uns heute leicht aus dem kurzen Schlaf gerissen.

Über Moräne und Gletscher führt die Route, zuerst etwas mühsam, rechts am Piz Umur vorbei in das grosse Becken nördlich des Piz Roseg. Kalt und fern stehen die wenigen Schönwettersterne am Nachthimmel. Lange Schatten-nasen wachsen hinter dem Licht des immer tiefer sinkenden Mondes auf dem bleichen Gletscher.

Zuerst steil, dann durch blockiges Urgestein geht es am Eselsgrat empor. Ein kalter Morgenwind fährt uns beim Betreten des eisgepanzerten Grates entgegen. Mit den Steigeisen bewehrt wählen wir den Aufstieg über den Nordgipfel zum Hauptgipfel. Hier treffen wir in den etwas tiefer liegenden Felsen die vorausgegangene Partie.

Erstarrt ruhen die Gletscher vor der majestätischen Silhouette des Monte della Disgrazia. Es naht erst die fünfte Morgenstunde, und fröstelnd warten wir auf das wachsende Rot im Osten des kommendes Tages. Dann beginnen wir gemeinsam den Abstieg auf dem von feiner, splitternder Eisschicht überzogenen Firn zum Kleinen Roseg hinab und begehen nach einer kurzen Abseilstelle den Quergang nach rechts. In sonnigwarmen, doch sehr steinschlaggefährlichen, steilen Felsen nähern wir uns dem Güssfeldsattel ( Porta Roseg ), wo wir die erste Rast einschalten.

Bergführer Götte hat uns hier endgültig den Vortritt gelassen. Vielleicht zu aller Nachteil, denn nur zu direkt wählen wir den Aufstieg zum gewaltigen roten Gendarmen, dem westlichen Pfeiler des Scerscenmassivs. Hat nicht gerade hier der bekannte Alpinist Prof. Curtius aus Mailand so oft versucht, einen Anstieg an die Gratkante vorzutragen? Ungemein steil und leicht abwärtsgeschichtet wächst hier der braunrote Fels empor. Wir haben uns schon viel zu hoch vorgeschoben, so dass wir die Traverse nach rechts nicht mehr begehen können. Langsam klettere ich weiter, bis ich endlich, aus senkrechter Stufe über ein schmales Gesimse kriechend, einen Ausweg zu einem Querband in der Südflanke finde. Etwa 40 Meter unter dem roten Gendarmen können wir horizontal zur Scharte vor der Schneehaube gelangen.

Mittlerweile ist es Mittag geworden. Über das weisse Haubendach nähern wir uns dem einsamen Piz Scerscen. Zurückschauend fällt unser Blick auf den dreigipfligen Roseg mit seiner eisnasenbesetzten Nordflanke.Vor uns, noch weiter weg, winkt über dem langen, von tiefen Scharten durchsetzten Felsgrat der grösste Engadiner, der Bernina. Wir kosten die wohlverdiente Mittagspause, denn bald wird das Klettern und Stemmen über den wilden Verbindungsgrat beginnen. Wie der Kopf einer Raupe sieht von hier die Tschiervahütte am Ende der leicht geschwungenen Moräne aus. Am Crast agüzza steigen von der italienischen Seite her leicht und unbeschwert ein paar Schönwetterwolken-ballen auf.

Der Nachmittag hat begonnen. Auf einem trügerischen, durchweichten Schneekamm streben wir gegen den Südgrat des Piz Bernina '. Als einer der besten Kenner dieses Lokalgebietes ist uns Führer Gotte durch schnelles Gehen im zerklüfteten Felsgrat des Scerscen'mit einem Mal sehr nahe gerückt. Auch wir legen nochmals unsere ganze Ausdauer an den Tag, und noch vor der vierten Stunde der zweiten Tageshälfte reichen wir uns auf dem König Bernina die Hände.

Oh, möchte doch die Weihe dieser Gipfelstunde die Zeit stillstehen lassen! Glücklich durch das Erlebnis des weiten zurückgelegten Weges träumen wir mit den aufziehenden Abendwolken in das unendliche Meer der Gipfelwelt hinaus. Schweigsam, in gleiches Schauen vertieft, haben sich die Kameraden der andern Seilschaft neben uns niedergelassen.

4 1/2 Uhr abends. Ein launischer Windzug hat aus dem gewittrigen Dunst ein paar Schneeflocken gerissen. Irgendwo grollt ein alter Berggeist ein unterdrücktes Donnerrollen in seinen Bart hinein. Wir haben mittlerweile das Seil ergriffen und das Haupt unseres Bergmonarchen verlassen. Kaum sind die luftigen Felsen des Piz Bianco'passiert, sticht wieder grelles Sonnenlicht durch die bewegte Wolkenwand des Westens. Vor uns beginnt der imposante Eiskamm des Biancogrates. Gleich einer himmlischen, schmalen Marmortreppe führt er hinab ins Tal. Es ist ein Gehen zwischen Luft und Erde, ein Absteigen mit der Sonne aus göttlichen HöhenNur dann und wann hat man ein unsicheres Gefühl und sieht die tiefen Abgründe. Der weiche Schnee haftet in grossen Klumpen zwischen den Steigeisenzacken.

Letztes Abendrot fällt in die gewaltige Westflanke des Berges. Wie ein Traum ist der Abschied von diesem herrlichen Gebirgspanorama. Mit tausend Gedanken stolpern wir müde, aber zufrieden, bis beim Einbruch der Nacht ein kleines Fensterlicht zur Einkehr winkt.

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