Die Haldiwald-Lauenen von 1808
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Die Haldiwald-Lauenen von 1808

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Von Hugo Nünlist

Mit 1 SkizzeLuzern ) Vom Brisen, 2408 m, senkt sich nach Westen ein langer grasbewachsener Rücken, der Haldigrat. Wo dieser ins Engelberger Tal abbricht, liegt eine einsame Alp in eine flache Mulde eingebettet. An einem Herbsttag begab ich mich zu ihr hinauf, zum Senn auf Geigy ( Gigi, 1817 m ). Abgeschlossen von der Welt und dem hastigen Getriebe lebt er seiner Herde und seinem Gütchen. Der Älpler berichtet mir von Wetterwenden, Blitzschlag und einer Andacht-nische, die er während Mussestunden im Kalkgestein errichtet hat. Seine Worte sind begleitet von einem finstern und doch wieder wohlwollenden, abgeklärten Blick, derweil das Gesicht hinter dem schwarzwuchernden Backenbart fast gänzlich verborgen ist. Beim Abenddämmer begibt er sich mit schwerem, lautem Schritt zum Holzkreuz hinüber. Während ich sinnend nach Niederrickenbach und zu den Lichtern im Talgrund schaue, spricht er den Betruf in die weite Stille hinaus.

Am Morgen sehe ich ihm beim Wildheuen an den stotzigen Planggen des Haldigrates zu. Aus der Tiefe grüsst das Kirchlein von Oberrickenbach herauf, von fünf Dächern umringt: der Kaplanei, einem Gasthaus, der Schule und einem Wohnhaus mit Scheune. Im Umkreis, verstreut auf satten Matten und zwischen Obstbäumen, gucken Heimetli hervor. Es sind deren wenige; denn der Raum ist eng gehalten von den Bergen. Das Tälchen stösst unmittelbar an Flühe und Felswände, die urgewaltig den Kessel mitsamt den niedlichen Gehöften überragen.

Ich stehe diesen grauen, düstern Bergen gegenüber, von deren Steilstufen vor Jahren ein Wasserfall donnernd in den Abgrund stürzte und das Bergdörfchen mit eintönigem Rauschen in den Schlummer wiegte. Nun hat ihm ein Stausee Leben und Sang geraubt. Doch der Donner kracht wie ehedem von den Felsburgen fast zweitausend Meter hinab und erschüttert das Gemüt. Und immer noch strömen Haldibach und Sinsgäubach durch Gestrüpp und Dickicht und schwellen in Regenzeiten zu unbändigem Tun an. Und alljährlich fahren die Lauenen vom Haldigrat nieder und sausen in die Gräben und Tobel über dem Dörfchen. Gleich neben mir fallen die schrofendurch-setzten Flanken talwärts und wachsen, von unten gesehen, in einer Flucht gen Himmel. Noch heute dulden sie an manchen Stellen weder Wald noch Krüppelholz. Keine Erlenstauden und keine Legföhrchen vermögen sich an den gähen Planggen anzuklammern. Unter mir aber hat sich ein zähes, wind-umbraustes Gehölz an die Flühe geheftet und versucht, die Lauenen zu bannen. Es ist der Haldiwald.

Vor 140 Jahren jedoch umgürtete wohl nur ein dünner Streifen junger Fichten die ausgedehnten, 4000 Meter langen und 1000 Meter hohen Halden. Der schüttere Bestand war zu schwach und versagte damals. Sicher aber ist, dass die Hänge unterhalb des Banngebietes mit Schnee, der auf vereister Unterlage ruhte, vollbeladen waren; denn auch die Talweiden sind hoch und an mehreren Orten abschüssig. Trotzdem ist die Vermutung berechtigt, die Lauenen hätten sich innerhalb des Schutzgürtels gelöst, in der Gegend nordwestlich des Heimetlis auf Schmidsboden. Dort neigen sich die Berglehnen wieder bedenklich schroff zu den Gehöften Gadmen, Alpeli und Vorsäss. Dann flieht das Gelände nochmals hinab zum Wohnhaus Mittelsteil 1, das sich nur wenig hangwärts der Kapelle von Oberrickenbach erhebt. Der Höhenunterschied zwischen Schmidsboden und Mittelsteil beträgt schier 300 Meter.

Jenes Unglück, von dachschrägen Halden heraufbeschworen, ist in der Dorfchronik beschrieben worden. Von meinem ehemaligen Lehrer Friedrich Wüest auf diese Schrift hingewiesen, habe ich beim Kaplan angeklopft, und sie zur Einsicht gewünscht, was er mir freundlich bewilligt hat. Wir blättern darin und finden bald eine ausführliche Darstellung jener Tage, die sich auf das grosse Unheil bezieht, das über die abgelegene Berggemeinde hereingebrochen ist. Eine saubere, zierliche Handschrift erzählt in schlichten Worten von den bangen Stunden, der Angst, die man ausgestanden, und vom Schrecken, der alle erfasst hat 2.

Zuerst lesen wir von dem entsetzlichen Wolkenbruch, der am 10. Augstmonat 1806 während anderthalb Stunden niederprasselte, so dass die Wildbäche die Ufer überfluteten und eine Unmenge Geschiebe und entwurzelte Bäume mit sich führten:

« Unglaublich schauerlich waren zu stockfinsterer Nacht Donner- und Wetterleuchten, das Zittern des Bodens, verursacht durch die grossen heranrollenden Steinmassen, und das Getöse der angeschwollenen Wildbäche, die jeden Augenblick Häusern und Ställen den Einsturz drohten. Man denke sich den Jammer in solch bedrohten häusergebannten Familien, die Furcht und Angst der Alp- und Bergbewohner wegen der lieben Ihrigen und dieser wegen der Ihrigen und des Viehes auf den Bergen. Man hielt in der schaudervollen Nacht alles für verloren und fürchtete, die Seinen nicht wieder zu sehen 3. » Zwei Jahre später brach noch ein schwereres Ereignis über die Talschaft herein. In der Chronik vernehmen wir folgende Einzelheiten:

« Ein viel grösseres Unglück betraf die Berggemeinde im Dezember 1808 durch eine dort entstandene grosse Lawine. Am 8. und 9. Christmonat fiel sehr starker Schnee. Am 10. und 11. morgens machten ein warmer Südwestwind und starker Regen den ziemlich hohen Schnee ganz weich. Auf einmal fing es wieder an kalt zu werden, und die Bergler sagten: ,Die Bis hat den Wester heigjagt. ' Eine gewaltige schwarze Wolke lagerte sich über Oberrickenbach, und es fiel längere Zeit ein in solcher Masse nie gesehener Schneeriesel. Es war ein interessantes Schauspiel, wie dieser an jähen Halden über den durch die Kälte hart und glatt gewordenen Schnee heruntertanzte. Jetzt fing dieser Riesel an, sich in grosse, weiche Schneeflocken aufzulösen und aus- 1 So auf der Karte. Die alte Schreibweise Mittels-Teil deckt uns die Wortzusammensetzung auf. Der Schmidsboden liegt somit im obern Teil des grossen offenen Hanges, die Kapelle von Oberrickenbach im untern Teil.

2 Kaplan N. Zimmermann und Nikl. Waser, Mittelsteil, haben verschiedene Fragen, die sich aus ungenügenden Angaben der Chronik ergeben haben, in verdankenswerter Weise abgeklärt.

3 Der Text ist der heutigen Rechtschreibung angepasst. Der Satzbau bleibt unverändert.

zubreiten. Am Montag, den 12. Christmonat, war der Schnee bereits über alles Gehege gewachsen, und noch schneite es immerfort. » Wir erkennen ohne weiteres, dass die Entwicklung der Zustände gut beobachtet und diese derart anschaulich aufgezeichnet worden sind, dass kein Verdacht besteht, der Verfasser habe das Vorkommnis nicht selbst erlebt. Der Bericht ist so sorgfältig abgefasst, dass man auch vermuten muss, er sei zunächst mit mehreren Beteiligten besprochen und entworfen worden, was den Wert der Wiedergabe erhöht. Sie schildert uns dies:

« Franz Waser, wohnhaft im Gadmen, machte an diesem Tag mit seinem Sohn Kaspar und Bruders Sohn Anton Waser, beide im 14. Altersjahr, den Versuch, in dem nahen Staldengaden Streue zu holen. Der Vater Franz, ein stämmiger Bergmann, ging voraus, den Schnee beiseite zu schaufeln; die beiden folgten mutig, nicht ahnend, welch trauriges Schicksal ihnen bevorstand. Angekommen um 1 Uhr nachmittags, schob der Vater die Streue aus der Reity 1 durch eine Öffnung in den Kuhstall, wo die beiden Knaben mit Fassen derselben beschäftigt waren. Plötzlich rief der Vater: ,Jesus! äs kund e Lauwi! ', springt augenblicklich aus der Ruiti hinaus und legt sich aufs Angesicht in den tiefen Schnee. Die Lawine schoss blitzschnell über ihn hinweg; er fühlte wohl ihren Druck, nahm aber keinen Schaden. Nach einigen Augenblicken kroch er wieder aus dem Schnee hervor. Aber ach! Der Gaden mit den zwei Knaben war verschwunden. Von jenem sieht er nur noch schwache Trümmer in der Alpeli- und Allenwindenmatte, wohin die Lawine hinuntergestossen war. An der Stelle, wo der Gaden gestanden, fand man am gleichen Abend noch die Leiche eines Knaben, des Antons, und von dem andern jetzt noch keine Spur. Furcht und Schrecken ergriff bei dieser Trauerkunde ganz Oberrickenbach. Fortwährendes dumpfes Brausen des Windes unter wildem Schneegestöber, ein unheimliches Tosen in dem Haldifeld warnten ( mahnten ) bei einbrechender Nacht die Bergleute zur Flucht, allein es war zu spät. Die Mutter und ein junges Kind Gadmens konnten nicht, und der Vater und der Sohn wollten ohne Mutter und Kind nicht fliehen. ,Miteinander leben oder sterben ', war die Losung an diesem verhängnisvollen Abende. » Als Haldifeld bezeichnet man heute das Gratgebiet und die Südhänge des obern ( östlichen ) Haldigrates, die auf der Karte Haldiplanggen genannt werden. Der Lärm im Haldifeld bezieht sich wohl auf den Haldiwald, wo die Sturmwinde wütend durch die Tannen heulten. Dieser Bannwald steht über allen erwähnten Gehöften. Da er damals nicht so kräftig war, muss man sogar annehmen, die Lawine habe ihren Anfang hoch oben genommen, vielleicht in der Nähe des Grates und der Südseite der Gigialp. Verbauungen sind seither im Gratgebiet, also über dem Bannwald, angebracht worden, weil man gegenüber dem Schutzgürtel misstrauisch gewesen ist.

Die erste Lockerschneelawine hatte sich nordwestlich des Schmids-bodens losgerissen und den Staldengaden vernichtet. Das Gadmenhaus hingegen blieb verschont. Wie es dem Knaben Kaspar Waser erging, vernehmen wir erst am Schluss der Chronik.

1 Reity oder Ruiti ist ein Anbau oder Vorraum mit seitlichen Öffnungen zum Hirten des Viehs.

DIE HALDIWALD-LAUENEN VON 1808 Zwischen dem Gadmenhof und dem Mittelsteilhaus befand sich das Alpeligut, das nun ebenfalls aufs äusserste bedroht war. Und das verheerende Geschehen Hess nicht auf sich warten:

« Es hatte im Mittels-Teil-Haus, wohin man am Abend die Leiche des verunglückten Knaben gebracht hatte, bereits 9 Uhr an der Wanduhr geschlagen, und einige rüstige Bergleute waren da beisammen, gefasst auf alles, was kommen mochte. Auf einmal liess sich von aussen eine leise Stimme vernehmen, und als man zum Fenster hinausschaute, glaubte man unter dem Gaden, der in gleicher Front neben dem Haus steht, ein menschliches Wesen zu erblicken. Und wirklich stund dort im blossen Hemd Martin Mathis, einer der Söhne aus dem Alpelihaus. Weil er nicht mehr gehen konnte, wurde er ins Haus getragen. Nachdem er sorgfältig gepflegt war und sich ein wenig erholt hatte, erzählte er unter Tränen folgendes:

Wir hatten Kenntnis von der Lawine, welche nachmittags den Staldengaden zerstört hatte. Sie war bis neben unser Haus heruntergestoben. Wir sprachen von der Flucht, wussten aber nicht, wohin wir fliehen sollten. Die Mutter und meine kleinen Geschwister konnten unmöglich weit fliehen, in der Nähe aber hielten wir uns nirgends sicher genug. Bei einbrechender Nacht kam eine zweite Lawine und riss die Reity von unserem Gaden weg, trug das Holz fort bis zur Holzhütte und zum Haus herunter.

Jetzt fasste die Mutter den Entschluss, mit uns in den Allenwinden-gaden zu fliehen. Er lag ungefähr 150 Schritt von unserem Haus entfernt. Wir assen schnell etwas zu Nacht und begaben uns auf den Weg. Ich ging voran, den Weg bahnend, so gut es ging. Mein Bruder Franz Anton trug die Laterne. Es war stockfinstere Nacht. Wir waren ungefähr 30 Schritt vom Hause weg, als wir in ein furchtbares Schneegestöber kamen, das jedes Vorwärtskommen unmöglich machte. Der gewaltige Wirbelwind löschte unsere Laterne aus. Da sprach die Mutter: ,Was nicht möglich, ist nicht Gottes Wille; wir wollen in Gottes Namen wieder zurückkehren. ' Unter grosser Mühe und Anstrengung kehrten wir ins Haus zurück.

Die Mutter betete kniend mit uns den Rosenkranz, Reu'und Leid, übergab uns dem Schutze Gottes, der göttlichen Mutter aller Heiligen holte in der Kammer ein sich über der Bettstatt befindliches Missions-kreuz, auf welches der letzte Endablass verliehen war. Wir küssten dasselbe, und die Mutter und Schwester Josefa nahmen es wieder mit sich in die Kammer und legten sich zu Bett. Wir fünf Brüder aber begaben uns in die Laube und legten uns ebenfalls zu Bett. Wir redeten wenig. Angst und Bangigkeit hatte uns befallen. Es war ungefähr acht Uhr. Ich lag auf dem Rücken.

Auf einmal gab es einen schrecklichen Krach, und im Augenblick war ich im Freien in der Luft und fiel dann auf der Mittelsteil- oder Wylhöhe in den Schnee hinunter. Die Besinnung hatte ich keinen Augenblick verloren. Ich stund auf, ging über das ,Port'und watete durch den Schnee vorwärts, ohne zu wissen, wo ich war. Auf einmal kam ich zu dem mir wohlbekannten Kirschbaum in der ,Teufe'1 und wusste jetzt, wo ich war. Dann kam ich gegen den Gaden im Mittels-Teil, und als ich auf der ,Bzezi'2 unter dem Gaden stand, wo der Wind den Schnee weggewischt hatte, konnte ich keinen Schritt mehr weiter gehen. Ich rief, bis man mich endlich hörte, aber bald darauf verlor ich die Besinnung. Haus und der Gaden sind ohne Zweifel zerstört, und Mutter und Geschwister leben wahrscheinlich nicht mehr. So erzählte der Jüngling. Er war ungefähr 300 Schritt durch die Luft geschleudert worden und hatte etwa 150 Schritt bis hierher ins Mittels-Teil zu machen. » Die zweite und dritte Lawine hatten sich also weiter östlich, noch näher beim Schmidsboden, gelöst und dadurch das Alpelihaus fortgefegt. Das Schiltli-haus, das in der Chronik nicht angeführt ist, war damals noch nicht errichtet, sonst wäre es gleichfalls zerschlagen worden. Es erhebt sich über dem Alpelihaus, das nicht mehr aufgebaut wurde. Die Bergbauern kennen aber noch heute genau die Stelle, wo es ehemals stand. Wir halten uns wieder an den Bericht:

« Endlich war die schaudervolle Nacht vorüber. Der Sturm hatte sich gelegt, und der Himmel war heiter. Aber ach! Welch ein Anblick bot Ober- 1 Als Teufe wird ein Graben bezeichnet. Es handelt sich hier um die Vorsässteufe.

2 Bzezi oder Bsezi heisst der mit Steinen belegte Vorplatz einer Scheune oder eines Stalles.

Winterliche Voralpenlandschaft Guasch von Alfred Scheuner ( Bern ) rickenbach dar! Dreizehn Gebäude, darunter das Alpelihaus, waren verschwunden; viel Vieh, grosses und kleines, lag tot im Schnee begraben; viel hundert Bäume lagen allwärts, von der Lawine fast stundenweit getragen, wie ein gewürfeltes Kartenspiel bunt durcheinander. Sieben Personen waren im Schnee begraben, den Knaben nicht eingerechnet, dessen Leiche Tags zuvor aufgefunden worden.

Das war der grässliche Anblick der herzbrechenden Szene, welche am Morgen, den 13. Christmonat, ganz Oberrickenbach in namenlose Trauer versetzte. Die Vorsteherschaft sandte am selben Tag einen Boten mit der Trauerkunde an den regierenden Landammann Franz Nikolaus Zeiger, dringende Hilfe verlangend. Die Not und der Schrecken waren in Oberrickenbach so gross bei jedem Einzelnen, dass am 13. für das Auffinden der Leichen leider nicht genug getan werden konnte.

Erst am folgenden Tag, den 14. Dezember, wurden die Verunglückten aufgefunden. Es erschienen nämlich viele Männer von Stans, Dallenwil, Büren und Wolfenschiessen mit Hacken und Schaufeln. Unterstützt von den ortskundigen Bergleuten gruben sie im Laufe des Tages die im Alpelihaus Verunglückten aus dem Schnee hervor. Sie lagen nicht weit voneinander. Die Mutter hielt in den gefalteten Händen das erwähnte Missionskreuzlein. Franz Anton, 19 Jahre alt, trug Spuren an sich, als ob er unter der Lawine noch eine Zeitlang gelebt hätte.

Um drei Uhr nachmittags verkündeten die Glocken der Kapelle mit herz-zerreissender Stimme das Auffinden der sechs im Alpelihaus verunglückten, in der Lawine umgekommenen Personen, einer Mutter mit fünf Kindern. » Die dritte Lawine, die über die kleinere zweite fuhr, muss ausserordentlich lang und wuchtig gewesen sein. Nehmen wir an, sie habe sich erst am untern Rand des Haldiwaldes gebildet, so beträgt die Länge 800 Meter und die der ersten 500 Meter. Die Breite beziffert sich bei beiden durchschnittlich auf 100 Meter. Der Ausdruck: « Viel hundert Bäume lagen allwärts » deutet darauf hin, dass sie vom Banngebiet herstammen. Da der Schnee « über alles Gehege » gestiegen war, geben wir die Höhe durchschnittlich mit 70 cm an. Für beide Lawinen ergibt sich insgesamt eine Oberfläche von 130 000 m2 und eine Schneemasse von 91 000 m3. Die Schneebrettlawine, die im Jahre 1929 bei Obergestelen abfuhr, riss eine Schneemenge von 100 000 m3 mit sich, und ebensoviel jene am Illhorn oberhalb Chandolin.

Zum Schlusse lesen wir noch vom vermissten Knaben Kaspar Waser:

« Erst nach dreitägigem Suchen wurde der Montags verunglückte Knabe Kaspar Waser ( vom Gadmenhof ) aufgefunden, und zwar zur Verwunderung noch am Leben. Beim Einsturz des Gadens von einem ,Dillbaum'1 am rechten Arm gepackt und mit diesem ,in Barnen'2 eingezwängt, lag der unglückliche Knabe im Schnee begraben, von furchtbaren Schmerzen gequält, ohne jedoch das Bewusstsein zu verlieren. 51 Stunden blieb er in diesem Zustande, ohne andere Erquickung, als dass er mit dem linken Arme Schnee und Heublumen 1 Balken einer Diele oder Decke.

2 Auch Barren genannt; Futterkrippe längs der Wand.

in den Mund brachte und den Saft hinunterschluckte. Deutlich hörte er in der Kapelle läuten und verstand fast jedes Wort der Arbeiter, welche drei Tage lang an der Stelle, wo er tief unter dem Schnee lag, schaufelten. Als am dritten Tag abends die Arbeiter wiederholt äusserten: ,Er ist längstens tot ', da habe er wie er selber erzählte aus allen Kräften gerufen: ,Ich lebe noch! ' Aber der Ruf wurde nicht gehört. Mir, so sagte er selber, verschwand jede Hoffnung auf Rettung und mit derselben auch meine Lebenskraft.

,Wenn ich nur bald sterben könnte! ', dachte ich vielhundertmal. Ich sah den Tod vor Augen, aber er wollte noch nicht. Ich fasste wieder ein wenig Mut, ergab mich in den Willen Gottes und empfahl mich besonders in den Schutz U.(unserer ) L.(ieben ) Frau. Ich bat immer die heilige Maria, Mutter Gottes: Hilf mir doch!

Und Maria half. Kraftlos zwar sank der Knabe in einen tiefen Schlummer; allein, während er schlief, nahte sein Retter. Dieser war Jüngling Alois Liem 1von Maria-Rickenbach. Schon stunden die Arbeiter auf dem Punkt, den Ort, wo der Knabe lag, zu verlassen, als Liem noch einen Versuch machte, ihn zu finden. Er stösst auf eine Öffnung, und während er die andern Arbeiter zurückruft, findet er den Knaben in der erwähnten Lage, hebt den Dillbaum weg und zieht ihn darunter hervor. Schwindlig, sprachlos lag der Gerettete da. Sein rechter Arm war wie entzwei geschnitten. Er wurde erstickt ( ohnmächtig ) ins Mittels-Teil getragen und zum Bewusstsein gebracht.

Am 14. Christmonat wurden die Leichen der Verunglückten unter grosser Teilnahme und Mittrauer des Volkes im Friedhof zu Wolfenschiessen beerdigt. » Hier schliesst die Trauerbotschaft der Chronik von 1808.

Seither hat der Brisen mehrmals Lawinenopfer gefordert. Am 10. Januar 1937 brachte man wiederum 7 Tote zu Tal, die auf der Nordseite des Haldigrates, unter dem Steinalper Jochli, von einem Schneebrett überrascht worden waren.

Und vor zwei Jahren fuhren wir einen Verschütteten im Schein der Laterne in schwarzer Nacht ins Brisenhaus. Der Lawinenhund, der ihn aufgefunden, legte sich neben ihn und winselte unablässig. Als selbst der Arzt jede Hoffnung aufgegeben hatte, versuchten wir gleichwohl, den Toten zum Leben zurückzurufen. Hatte nicht der Bub des Gadmenhauses während 51 Stunden ausgeharrt, im Schnee vergraben, mit gebrochenem Arm, unter unsäglichen Schmerzen und ohne Hoffnung, geborgen zu werden? Doch es war vergebliches Bemühen.

Das Wunder am Haldihang hat sich nicht mehr wiederholt.

Seit den tragischen Tagen von 1808 klettern die Bergheimetli wieder die gleichen steilen Halden hinan. Man wähnt sich sicher und geschützt, glaubt an die Güte der Berge, denen man sich anvertraut, und erfleht stets von neuem ein gnädiges Geschick.

Wehe, wenn sich die Berge nochmals regen — und sie tun es immer wieder —, dann hat der Mensch jeweils zu verstummen.

1 Nidwaldner Geschlecht.

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