Die innere Gefährdung des reifen Bergsteigers
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Die innere Gefährdung des reifen Bergsteigers

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VON KARL GREITBAUER, WIEN

Es ist gewiss nicht zu sehr gewagt, in einer Zeit, in der das psychologische Denken sogar schon Eingang in die Journalistik gefunden hat und dort mit Sicherheit gehandhabt wird, auch im Bergsteigen psychologische Gedanken zu entwickeln. Obwohl uns psychologische Begriffe auf dem Sektor der Publizistik eigentlich überraschen müssten, weil doch die Journalisten offensichtlich keineswegs auch Psychologen sind, fällt uns diese Kategorie der Gedankenfassung heute bereits nirgends mehr als etwas Besonderes auf, weil uns die universale Verbreitung und Einflechtung der Psychologie in das Alltagsleben längst eine von der heutigen Zeit nicht mehr wegdenkbare Erscheinung geworden ist.

Nur vor dem alpinen Schrifttum scheint die Psychologie bis heute haltgemacht zu haben, obwohl dahinter eine Gesellschaftsgruppe steht, die in die Hunderttausende zählt. Wenn wir dennoch über die innere psychische Gefährdung des reifen Bergsteigers schreiben, dann nicht zuletzt auch deshalb, um das bergsteigerische Gedankengut in Richtung Psychologie zu erweitern.

Man wird zu dem Thema einer inneren Gefährdung des reifen Bergsteigers sicher die Frage zu stellen haben, auf welche Fälle wir denn diesbezüglich zu verweisen hätten, um mit Berechtigung eine innere Gefährdung reifer Bergsteiger als Wirklichkeit im Alpinismus anzunehmen. Nun, nicht nur wir haben solche Fälle zur Hand und werden einzelne besonders eindrucksvolle Gegebenheiten daraus zur Anschauung bringen, sondern auch mancher Leser, glaube ich, kennt Beispiele, in denen sich bei einem gewiegten Bergsteiger nach der langen Periode völliger Unbeschwertheit in allen seinen bergsteigerischen Bezügen plötzlich und unverständlich für den Betroffenen Unsicherheitsgefühle in der Wand als völlig neue Situation eines Tages einstellten.

Wenn man sich vorstellt, was es für einen bislang selbstsicheren, innerlich gefestigten aktiven Bergsteiger bedeutet, mit einem Male bemerken zu müssen, dass ihn Unsicherheit oder gar ein Angstgefühl in der exponierten Situation in der Wand nicht nur einmal in der Zeit, sondern zu wiederholten Malen befällt, und er diesen Zustand wehrlos über sich ergehen lassen muss und auch im stärksten Ankämpfen dagegen dennoch dieses lähmende Gefühl nicht loswerden kann, dann begreifen wir auch und verstehen es vollkommen, dass in diesem Menschen ein psychischer Kom-pensationsmechanismus einsetzen muss, der die Wiedererlangung des alten unbeschwerten Zustandes als Bergsteiger in der Wand zum Ziele hat, der ein gewaltsames Bemühen um das frühere Niveau als Bergsteiger darstellt.

Unsicherheitsgefühle in der Wand haben wir wohl alle schon einmal irgendwann gehabt. Aber wir müssen dazu bemerken, dass diese niemals sehr tief gegangen sind, dass sie uns seelisch nicht so belastet haben, dass wir nach ihrem Verschwinden nicht wieder zur bergsteigerischen Tagesordnung übergehen konnten. Es sind dies vorübergehende Ereignisse, die wir bald wieder vergessen haben, wohl hauptsächlich deshalb, weil sie uns nicht als etwas Besonderes, Aussergewöhnliches innerhalb unseres Bergsteigens aufgefallen sind. Solche flüchtige Unsicherheitsgefühle in der Wand sind besonders beim werdenden Bergsteiger gang und gäbe. Sie sind dort nur zu verständlich, hat 1 Mit diesem dritten Aufsatz beschliesst Karl Greitbauer seine Arbeit über die subjektiven Gefährdungsmomente, denen Bergsteiger mitunter ausgesetzt sind. 1. Teil DIE ALPEN 1955, Seiten 241-245, 2. Teil DIE ALPEN 1956, Seiten 273-279.

doch der junge, werdende Bergsteiger den widerstrebenden Felsstrukturen gegenüber nichts in der Hand, was ihm Sicherheit böte; er hat nichts, auf das er dem Berg gegenüber pochen könnte. Er hat eine mangelhafte Technik, eine mangelnde Routine, vielfach auch machen sich bei ihm in schwereren Aufgaben Kraftmängel bemerkbar - kurz, es besteht der junge Bergsteiger in der Wand ein jedes Mal einen psychisch sehr belastenden Kampf, bei dem die Waffen von Berg und Mensch völlig ungleich sind.

Aber hat dieser junge Bergsteiger wirklich nur Negatives in der Auseinandersetzung mit der Wand aufzuweisen? Wir müssen sagen: keineswegs. Denn er besitzt erstens eine ungeheure Dynamik des Auftriebes, und er klettert zweitens mit einer beispiellosen inneren Spannung, was man vom reifen Bergsteiger meist nicht mehr sagen kann. Dieser steht mit der Routine eines erfahrungsreichen Bergsteigerlebens vor jeder neuen Wand, steht als Könner objektiv den Schwierigkeiten in ihr gegenüber und ist aus dieser Objektivität heraus manchmal überrascht von ihrer Grosse. Hier erhebt sich die Frage, was das für ein besonderer positiver Faktor sein soll, dieses Klettern in der Wand mit innerer Spannung. Gefühlsmässig würden wir sogar das reine Gegenteil, nämlich die innere Ruhe der souveränen Beherrschung als das weitaus Höhere werten. Den Wert des Faktors der inneren Spannung wird man jedoch sofort einsehen, wenn man sich erinnert, wie das damals in jener Wand war, die wir aus irgendeinem Grund unterschätzt hatten. Man wird dann zugeben, dass man sich bei keiner Kletterstelle so hart tut wie bei der, die man vorher unterschätzt hat. Das heisst ganz allgemein, dass keine Schwierigkeit so gross ist als jene, die man unterschätzt. Wir haben uns zu fragen, was das Wesen der Unterschätzung psychologisch gesehen darstellt. Offenbar wohl das, dass ich mich in der Geringschätzung der Aufgabe dieser gegenüber in keinerlei Spannung befinde, dass ich innerlich nicht auf sie eingestellt bin. Diese Tatsächlichkeit stellt sich auch klar heraus, wenn wir die andere Seite dieses Phänomens des In-Spannung-Seins betrachten und uns fragen, wie das ist, wenn man eine Wand in ihren Schwierigkeiten weitaus überschätzt. Aus solchen Überschätzungen kommt es nämlich zu den vielfach von Bergsteigern erwähnten eigenartigen Situationen beim Ausstieg aus einer Wand, bei denen sie überrascht sind, dass die Tour schon zu Ende ist, und sich erstaunt fragen, wo denn eigentlich die Schlüsselstellen dieser angeblich so schwierigen Wand gewesen seien. In der Erwartungsspannung nämlich der Begegnung mit ganz ausserordentlichen Schwierigkeiten hatten sie die beträchtlichen einfach überklettert, ohne einen besonderen Eindruck dabei gehabt zu haben.

Was wir hiermit eigentlich zeigen wollten, ist folgendes: dass die mangelnde innere Spannung einen als Bergsteiger in durchaus unangenehme Situationen bringen kann, während eine gute Portion innerer Spannung direkt als der gute Geist des Bergsteigers angesehen werden muss, da in ihr zusätzliche psychische Belastungen in der Wand ( wie Ausbrechen eines Griffes, Steinschlag, Nachlassen eines Hakens und was es sonst noch an objektiven Gefahren geben mag ) viel besser vertragen werden, d.h. dass ich viel weniger dabei seelisch beeindruckt bin als im Zustand der inneren Ruhe und Ausgeglichenheit.

Für diesen aus der reinen bergsteigerischen Erfahrung abgeleiteten Satz wollen wir aber auch eine psychologische Erklärung. Sie liegt eigentlich auf der Hand: das, was einem im Bergsteigen gefährlich werden kann, ist das Erlebnis der Angst in der Wand, entstanden durch die psychische Belastung, die jede exponierte Wandstelle mit sich bringt. Die psychische Belastung ist aber ein seelisches Tief, von dem ich, leicht einzusehen, als Mensch um so weiter weg sein werde, je mehr ich mich im Hoch der erregten inneren Spannung befinde. Solange sich also ein Bergsteiger noch mit grosser innerer Spannung in der Wand bewegt, ist er psychisch durch Zwischenfälle objektiver Natur kaum gefährdet, ja vermag sogar psychische Erschütterungen ohne weiters hinzunehmen.

Es bleibt in diesem Zustand alles Belastende nur an der Oberfläche und dringt nichts davon in die Tiefe. Dieses In-Spannung-Sein gilt damit wesentlich für den jungen Bergsteiger. Wie aber ist es in dieser Hinsicht um den reifen Bergsteiger bestellt?

Wir vertreten den Standpunkt, dass sich nach psychologischen Gesichtspunkten das Werden zum reifen Bergsteiger in wesentlich drei Phasen vollzieht. In der ersten Phase steht der junge werdende Bergsteiger mit mangelndem Selbstvertrauen und als Reaktion auf die psychische Belastung durch die bevorstehende Aufgabe in der Wand in erregter Spannung vor ihr und in ihr. Diese innere Erregung wird, da sie immer wieder im Zusammenhang mit dem bergsteigerischen Vorhaben auftritt, schliesslich zum Reflex, zu einem sogenannten bedingten Reflex ( da die Erregung durch das Vorhaben in der Wand bedingt wird ), der automatisch durch den Vorstellungskomplex der erdrückend wuchtigen Wand und der belastenden Aufgabe in ihr ausgelöst wird.

In die zweite Phase kommt der Bergsteiger dann, wenn er sich in seiner alpinen Tätigkeit heimisch zu fühlen beginnt. Es ist daher in dieser Phase äusserlich kein Grund mehr gegeben, für eine psychische Belastung durch die Wand. Denn heimisch fühlen kann ich mich offenbar nur dort, wo ich mich sicher fühle. Der Bergsteiger dieser Phase ist auf dem Höhepunkt seiner Technik und Kraft, er ist im Zenit seines bergsteigerischen Leistungsvermögens, er ist berggewohnt. Es wäre also nirgends ein Anlass für eine Erregung im Zusammenhang mit dem Wandgeschehen zu finden.

Und doch bemerken wir deutlich eine gesteigerte, übernormale, erregte Lebendigkeit bei den Bergsteigern dieser Phase, wenn das Problem « Wand » auftaucht - sei es nun im Gespräch, im Gegenüberstehen oder auch schliesslich in der Wand selbst. Die psychische Erregungslage wäre also an sich dieselbe wie beim Bergsteiger der ersten Phase, nur hat diese Erregung ein ganz anderes Vorzeichen. Es ist nicht die geballte Erregung, sondern freudige Erregtheit, die wir bei ihm bemerken, ein euphorischer Zustand, ein Überschwang in allen Vollziehungen, der keine Grenzen im bergsteigerischen Wollen kennt. Wir wissen um den Grund, warum die Erregtheit der ersten Phase noch in die zweite hineinreicht. Dieser Grund fusst in der Trägheit der Psyche in bezug auf ihre Reaktionen, wenn es sich um die Anpassung an völlig neue Situationen für den Organismus handelt. Die psychische Reaktion des Organismus auf das Symbol der Wand ändert sich nämlich nicht im gleichen Schritt, wie sich im Wachsen des Könnens die psychische Situation des Bergsteigers ändert, der sich mit diesem zunehmenden Können in eine völlig neue bergsteigerische Situation hinein entwickelt. Mag auch die frühere verständliche psychische Belastung als nunmehr grundlos weggefallen sein, so ist doch der bedingte Reflex der Erregungsauslösung durch das Symbol der Wand, diese erworbene Reaktion des Organismus, geblieben. Er fällt nicht zugleich mit seiner nunmehrigen Grundlosigkeit weg, sondern es dauert einige Zeit, bis er langsam der neuen Situation entsprechend abgebaut wird. Das einzige, was der neuen bergsteigerischen Situation entsprechend eintritt, ist, dass dieser Reflex der Erregung im Pathos der neuen bergsteigerischen Unbeschwertheit sein Gewand wechselt und in dieser Phase des Bergsteigens als Euphorie in Erscheinung tritt. Zugleich damit stellt dieser Reflex in seiner Umwandlung einen grossen dynamischen Faktor im neuen bergsteigerischen Aufschwung eines solchen Menschen dar.

Die dritte Phase des bergsteigerischen Werdens schliesslich ist gekennzeichnet durch den endgültig vollzogenen Abbau dieses bedingten Reflexes der Erregung, durch das Erlöschen des Nach-hinkens bis zum völligen Wegfall desselben. Der Bergsteiger dieser neuen, normalerweise endgültigen Situation im Bergsteigen bewegt sich mit der von langer Hand erworbenen Sicherheit in der Wand und ist in ihr schliesslich so zu Hause, wie es etwa die exponierten Berufe der Gerüster und Kirchturmarbeiter in ihrem Gewerbe durch Gewöhnung an die Ausgesetztheit geworden sind.

Durch den Wegfall der inneren Spannung beim Klettern kommt aber der Bergsteiger nicht nur in dieser einen dargelegten Richtung in eine neue Situation, sondern auch in einer ganz anderen: er vermag erstmals in der Wand sein Tun zu überdenken, das Denken erhält nunmehr Eintritt in das, was früher nur aus Spannung, Konzentration und dynamischem Antrieb geleistet wurde. Dieses Phänomen des Überdenkens seines Tuns muss aber notwendig den Bergsteiger dieser Phase von der punktuellen Betriebsamkeit seines eigenen Bergsteigens distanzieren. Der reife Bergsteiger hat einen gewissen Abstand vom uferlosen Leistungsextrem der zweiten Phase, er ist geschmackvoller in der Auswahl seiner Touren geworden, wählerischer, die landschaftlich schöneren Fahrten schieben sich bei ihm neuerdings in den Vordergrund, er sieht Grenzen und macht Einschränkungen - und dennoch schliesst diese neue Haltung, nicht mehr nur auf das Extrem der Leistung gerichtet zu sein, bereits das Moment der seelischen Gefährdung durch das Bergsteigen selbst in sich, obwohl man eigentlich gerade das Gegenteil anzunehmen geneigt wäre. Wir sehen dieses Moment der Gefährdung, wie bereits gesagt, darin, dass die neue Situation der mangelnden inneren erregten Spannung den reifen Bergsteiger in jenen psychischen Querschnitt versetzt, bei dem die Distanz zum seelischen Tief viel geringer ist, als sie es wäre, wenn sich dieser Mensch im Hoch der Erregung befände.

Ein Beispiel aus der Energetik aus einem anderen Bezirk wird diesen psychischen Mechanismus etwas näherbringen: um den glühenden Stahl abzuschrecken, bedarf ich einer ungleich grösseren Menge kalter Flüssigkeit als für jenen Stahl, der nur warm ist. Und einige Tropfen dieser Flüssigkeit werden in der Weissglut wirkungslos verzischen, während sie bei dem nur mehr warmen Stahl schon zur Abkühlung beitragen müssen. Und es gilt auch weiters beim reifen Bergsteiger das, was draussen im übrigen Dasein Sprichwort ist: steter Tropfen höhlt den Stein. Viele kleine und kleinste Zwischenfälle in Wänden, erlebte objektive Gefahrenmomente, auch wenn sie in jeweils langen zeitlichen Zwischenräumen sich ereignen, gewinnen mit der Zeit unabweisbar prägenden Charakter und sind dann durchaus geeignet, den Gedanken zeitlich zu begünstigen, der irgendwann einmal in einem jeden Bergsteigerleben auftritt: Wozu eigentlich setzte ich mich diesen Gefahren aus? Warum tue ich denn das?

Diese Frage ist der Grund, aus dem das berühmte und nunmehr schon sprichwörtlich gewordene « Warum » der Berge erwächst.

Es ist in dieser Richtung bezeichnend, dass sich die extremsten Bergsteiger in der aktiven Ausübung durchschnittlich viel länger halten als gute Durchschnittsbergsteiger, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt abwandern. Ausser der intensiveren Milieubindung dieser Persönlichkeiten durch vereinsmässige Schlüssel- und Vorbildspositionen hat auch hier das Moment der inneren Spannung seine elementare Bedeutung. Denn wenn wir uns fragen, wo denn im Bergsteigen eine innere Spannung überhaupt vorkommen kann, wobei diese Spannung ja letztlich nur Ausdruck eines Missverhältnisses von Leistungsvermögen und Aufgabe ist, so müssen wir neben der erwähnten Gruppe der allerjüngsten Bergsteiger auch noch auf diese der Bergsteiger allerschärfster Richtung weisen, wo sie in gleicher Weise, nur mit verschobenem Akzent, vorhanden ist. Ist nämlich bei den Jüngsten das Leistungsvermögen noch zu gering im Verhältnis zur Aufgabe, so ist hier, bei den Extremen, die gestellte Aufgabe schon wieder zu gross, um psychisch nicht von ihr beeindruckt zu werden.

Wenn wir nun auch das alles, was wir über den Abbau des bedingten Reflexes der Erregung im Bergsteigen sagten und was sich weiters daraus noch ableiten liesse, als den natürlichen Vorgang des Abbaues eines erworbenen Leistungspotentials bezeichnen müssen, so ist doch das späte Angsterlebnis in der Wand zwar an sich eine durchaus mögliche Entwicklung aus dem Abbau der inneren Spannung im Bergsteigen heraus, im Wesen aber bereits eine pathologische psychische Erscheinung. Die Ursachen dieser Angsterlebnisse in der Wand, die manchen reifen Bergsteiger in einer Zeit überkommen, in der er sich noch, geblendet durch seine elegante Technik und unverminderte Kraft, auf einem Leistungshöhepunkt glaubt, können einerseits vom Bergsteigen selbst ausgehen, so z.B. durch intensive Schreckerlebnisse oder ähnliches, liegen aber viel häufiger ausserhalb des Bergsteigens und finden hier nur ihren ersten alarmierenden Ausdruck.

Mit diesem Hinweis auf die begünstigenden und disponierenden Momente zu einem ersten Angsterlebnis in einer Wand bei abgebauter innerer Spannung im Bergsteigen begeben wir uns in ein weites Feld. So ist es in dieser Richtung hinreichend bekannt, dass die heutige Zeit von Tiefer-blickenden als eine Zeit der massiert auftretenden Lebensangst bezeichnet wird. Das aber muss sich auch in einer bestimmten Weise auf das Bergsteigen auswirken. Es wäre dasselbe gesagt, würde man diese jetzige Zeit als eine Zeit der massiert auftretenden psychischen Belastungsmomente bezeichnen, denn diese sind es ja, die erst die Lebensangst als das dazugehörige Symptom hervorbringen. Vor solchen psychischen Belastungsmomenten des pragmatischen Daseins ist logisch auch der nicht geschützt, der sich aus einer besonderen tätigen Erscheinung seines Daseins heraus Bergsteiger nennt. Denn dieser Verursacher der Belastungsmomente ist ein Zeitsymptom und daher universal. Wenn nun noch die besondere berufliche Situation eines solchen Menschen es begünstigt, kann die allgemeine Situation des heutigen In-der-Welt-Seins ihre besondere Zuspitzung in Richtung der psychischen Belastung erfahren. Das, was uns als sogenannter Nervenzusammenbruch z.B. bekannt ist, ist oftmals nur eine Flucht vor den erdrückenden Aufgaben des Daseins, eine Flucht gleichsam in die Krankheit, in das Nicht-mehr-Können: von einem kranken Menschen kann keine Macht der Welt eine positive Leistung verlangen. Die normale Parallele jedoch zu dieser Flucht in die Krankheit ist die natürliche Reaktion, vor belastenden Daseinssituationen davonlaufen zu wollen. Gerade bei den gewissenhaften Menschen aber, den Menschen mit Selbstgefühl und Pflichtgefühl, die sich mutig den Lebensaufgaben dennoch stellen, muss es durch die Erkenntnis, dem Ganzen nicht mehr gewachsen zu sein und dem Zusehenmüssen, wie ihnen alle Übersicht entgleitet und ihnen alles langsam über den Kopf wächst, zu schweren Insuffizienzgefühlen durch das Scheitern an der Aufgabe kommen.

Für einen Aussenstehenden ist es vielleicht unbegreiflich, warum ein solcher Mensch nicht einfach hingeht und offen sagt, dass er nicht der geeignete Mann für diese Aufgaben, denen er sich nicht gewachsen fühlt, wäre. Mit einer solchen Auffassung aber übersehen wir gerade das Wichtigste der menschlichen Persönlichkeit: dass ihr mehr als alles andere die Erhaltung des Persön-lichkeitsniveaus gilt, dass das Schwerste, das sie erleben kann, der Verzicht aus Schwäche ist! Diese Worte sind uns auch im Bergsteigen nicht unbekannt, stammen sie doch von Oskar Erich Meyer, der sie im Zusammenhang mit seinen ersten Unsicherheitsgefühlen in der Wand geprägt hat. Die entsprechende Stelle finden wir in seinem Gespräch auf dem Gipfel, wo er schreibt:

« Und doch war, fühlbar nur mir allein, von allem, was du nachsichtig leugnest, etwas in mir: ein vorsichtig Zögern im Spaltengewirr, ein Zittern im Arm, der den Pickel führte, ein Grauen in dem Kamin und ein Erschauern vor dem Blick in die Tiefe. Ein Hauch nur von alldem noch ist es nicht da. Ich will nach vielen gelungenen Fahrten, nach Sieg über Schwierigkeiten, nach Kampf mit Sturm und Nacht und Schnee, nicht das Schwerste erleben: den Verzicht aus Schwäche. » So wie es hier um das bergsteigerische Niveau geht, das ja in seinem innersten Wesen letztlich nichts anderes ist als ein Persönlichkeitsniveau, so geht es dort, in unserem beruflichen Beispiel, auch um nichts anderes. Und wir begreifen, dass dieser Mensch ja gar nicht aufgeben und gehen 10 Die Alpen - 1959 - Les Alpes145 kann, ohne Aufgabe seines Selbstgefühls und seines Ichs. Und wir begreifen weiter, dass ein solcher Mensch unerhörte Anstrengungen machen wird, um sein Niveau innerhalb des Gesellschafts-kreises, in dem er steht, unversehrt zu erhalten, dass sein Selbstgefühl es nicht zulässt, seine innere Schwäche zuzugeben. Und wir verstehen es, dass ein solcher Mensch, der sein Scheitern unabweisbar erleben muss, mit seinem Glauben an sich auch sich selbst verliert und in einen Zustand der inneren elementaren Unsicherheit verfällt.

Sollte es sich hier nun um einen Bergsteiger handeln, so ist er durch die neue psychische Situation der Selbstunsicherheit den Daseinsvollzügen gegenüber bergsteigerisch in äusserstem Masse gefährdet. Denn was ist denn naheliegender bei solchen beruflichen Zuspitzungen als der Gedanke, alles hinzuwerfen, einfach davonzulaufen, nichts mehr wissen zu wollen von den ganzen Belastungen. Und was ist denn weiters naheliegender, wenn man Bergsteiger ist, als in einer Art Flucht in die Berge, in die Bergheimat, sich dort innerliche Befreiung und Wiedererstellung seines Selbstgefühls zu erhoffen. Diesen Gedanken finden wir auch von Oskar Erich Meyer ausgesprochen:

« Ein Heimatgefühl in den Bergen beruht im Grunde auf dem Bedürfnis der Seele, eine Stätte des Friedens inmitten feindlicher Gewalten zu haben... Je mehr die Forderungen des Tages als dunkle, schwere Fragen auf ihr lasten, um so leidenschaftlicher wird sie ihr Herz an die Welt der Berge hängen... » Ein Gedanke aber, in den Bergen sein untergrabenes Selbstgefühl wieder auffrischen zu können, die innere Unsicherheit dort abwerfen zu können, ist zumeist ein hoffnungsloser Gedanke. Denn der, der sich in den Bergen Aufnahme und freundliches Entgegenkommen, Verständnis und Zuneigung in einer anthropomorphistischen, d.h. die Berge vermenschlichenden Vorstellung erhofft, wird dort nur steinerne Starre, sphinxhafte Kälte, Abwehr und Abweisung vorfinden. Hier, in diesem Beispiel kommt uns erst die unvergängliche Wahrheit der Worte Oskar Erich Meyers zu Bewusstsein:

« Ein Spiegel ist die Welt der Berge, der jedem die eigene Armut, den eigenen Reichtum zeigt. Was du hinauf in die Berge trägst, die Berge geben es treulich zurück. Was du im Leben verloren, gibt dir die leuchtendste Spitze nicht wieder. Alles Glück aus den Bergen ist unser eigenes Glück, aller Trost der Berge ist unseres eigenen Geistes Trost. Darum kann es kommen, dass dir einmal das tausendjährige Schweigen, das dir vertraut und trostreich war, zu dunklem Grauen wird; dass die Stirnen der Berge kalt und gefühllos scheinen; dass dir jäh die Erkenntnis kommt: du sähest nur dein eigenes Spiegelbild... du liebtest deine eigene Liebe... » Dieses Sphinxhafte der Berge werden wir nie begreifen können, wenn uns nicht die Zuflucht-suche in den Bergen aus dem Scheitern im übrigen Dasein eigenes Erlebnis wurde. Psychologisch stellt sich diese Situation recht einfach dar. Wir sind nämlich in der Hoffnung um innere Erstarkung durch das Bergsteigen in der prinzipiell gleichen Situation wie diese, die eine Wand unterschätzen. Und wenn wir nun noch als reife Bergsteiger mit längst abgebauter innerer dynamischer Spannung und neuerdings mit einer auf das Gefühl der Selbstunsicherheit abgestimmten Reaktionslage des Organismus in eine Wand einsteigen, dann muss das in den ersten ernstlichen Schwierigkeiten in der Wand zur Katastrophe des Scheiterns, zum erstmaligen Versagen als Bergsteiger in der Wand führen. Diese Katastrophe ist in dieser allgemeinen Reaktionslage geradezu mit Bestimmtheit vorauszusagen, denn der auf innere Unsicherheitserlebnisse abgestimmte Organismus vermag ja unmöglich von sich aus zu unterscheiden, dass sein Unsicherheitsgefühl doch nur gegenüber den belastenden beruflichen Situationen begründet ist, aus denen es ja überhaupt erst entsprang und dass für eine Unsicherheit in der Wand bei diesem Menschen mit ausgefeilter Technik, Kraft und Routine in keinster Weise ein Anlass besteht.

An diesem einen Beispiel schon, das wir für erste Unsicherheitsgefühle im Bergsteigen aus der Situation des übrigen Daseins angegeben haben, sehen wir die einschneidende Bedeutung, welche die aus dem Scheitern an der Lebensleistung entspringende innere Unsicherheit für den Bergsteiger hat. Vielleicht wird man sagen, dass dieses Beispiel der beruflichen Belastung etwas weitab für das Bergsteigen liegt, weil sich solche berufliche Zuspitzungen in Bergsteigerkreisen offenbar nicht allzuoft ereignen dürften. Dieser Einwand ist sicher berechtigt, nur gibt es kaum ein besseres und vor allem überzeugenderes Beispiel für die Möglichkeit, wie eine allgemeine innere Unsicherheit ausserhalb des Bergsteigens ein erstes Angsterlebnis in der Wand provozieren kann.

Etwas näher dem verallgemeinernden Satz einer inneren Gefährdung des reifen Bergsteigers sind wir jedoch, wenn wir das Phänomen des sogenannten Leistungsknickes bei Männern um Vierzig in diesem Zusammenhang aufgreifen. Der Leistungsknick ist psychologisch recht bekannt. Er ist ebenfalls ein Zustand innerer Unsicherheit, und zwar einer Lebensunsicherheit, und tritt meist dann auf, wenn die betreffende Persönlichkeit bis zu diesem Zeitpunkt mit ihren Lebensaufgaben noch nicht recht fertig geworden ist. Eine solche Situation ist dann gegeben, wenn diese Person sich noch keine rechte Existenzgrundlage schaffen konnte, wenn sie glaubt, im Leben nichts erreicht zu haben, wenn ihr Gedanken kommen, dass sie die gesteckten Lebensziele in keinem Punkt erreicht hätte und dass ihr Leben, nüchtern gesehen, bisher eigentlich Unleistung war. Vorstellungen von Versäumnis und mangelnder Tatkraft geben diesem Gefühl des Gescheitertseins an der Lebensleistung das endgültige Gepräge. Dass durch solche Zweifel an sich und durch solche Un-leistungsgedanken die bisher vielleicht vorhandene innere und unbekümmerte Selbstsicherheit untergraben und einer unsicheren Einstellung zum Leben und schliesslich zu sich selbst Platz machen wird, erscheint uns nicht verwunderlich. Und insbesonders dann nicht, wenn es sich um Menschen mit angeborenem Pflichtbewusstsein und Selbstgefühl handelt, um Menschen, die sich ein Gewissen aus allen ihren tätigen Vollziehungen machen.

Wenn wir nun diese Erscheinung des Leistungsknickes als disponierendes Moment für dann im Bergsteigen auftretende erste Unsicherheit in seiner Gültigkeit gerade für das Bergsteigen heranziehen, so müssen wir sagen, dass wir hier direkt etwas spezifisch Bergsteigerisches in der Hand haben dürften. Denn gerade das Bergsteigen ist wie keine andere Nebenerscheinung des tätigen Lebens geeignet, als das eigentliche Leben von solchen Existenzen gewertet zu werden. Dieser Gedankengang ist nichts Neues. Wir verweisen hier nur auf die Worte Oskar Erich Meyers in seiner Vorrede zu Berg und Mensch, die da lauten:

« Wer die Berge liebt,... der muss sich an sie verlieren können, als gebe es ausser ihnen nichts auf der Welt... » Solchen Sätzen in der alpinen Literatur müssen wir unbestimmt, wenn nicht ablehnend gegenüberstehen. Wir wissen wohl auf der einen Seite um den dichterischen Gehalt, sind uns aber auf der anderen sehr bewusst, dass im Pathos des bergsteigerischen Aufschwunges gerade diese Worte und solche ähnlichen Sinnes, wie man sie allenthalben in der alpinen Literatur lesen kann, von vielen Bergsteigern, denen das Dasein keinen rechten Halt und keine rechte Erfüllung bietet, als bare Münze genommen werden. Diese Worte sind dann nicht unbeteiligt, wenn einer im Bergsteigen ganz aufgeht in der Weise, dass er sich verhält, als genüge es im Leben und sei es der Gipfel der Lebensleistung, nur Bergsteiger zu sein. Darüber kann er nur seine Lebensaufgaben schwer vernachlässigen und schliesslich sogar ganz ausser acht lassen. Das grundlegend Verfehlte einer sol-Einstellung zur Lebensleistung wird ersichtlich, wenn man sich vor Augen hält, dass das Bergsteigen keine Daseinsvollziehung ist, die einen zu jeder Zeit, also auch im Alter, mit Absinken des bergsteigerischen Leistungsvermögens, halten kann. In einem solchen Denken, sich an die Berge ganz zu verlieren, liegt etwas von Weltmeistermentalität anderer Sporte und im Alter auch etwas von der Weltmeistertragik. Solange ich Hochleistungsbergsteiger bin, kann ich möglicherweise über dieses Moment hinwegsehen, im Alter aber muss ich mit Bestimmtheit scheitern, wenn ich ein ganzes langes Bergsteigerleben hindurch dieses Leben als mein einziges, mein wahres Leben aufgefasst und gelebt habe und sonst nichts leistete.

Der Mechanismus, wie es aus dieser inneren Unsicherheit aus der Lebenseinstellung heraus zu einem ersten Angsterlebnis in der Wand kommen kann, ist prinzipiell identisch mit jenem, den wir im Beispiel der beruflich erworbenen Lebensunsicherheit bereits aufgezeigt haben. Die innere Unsicherheit als Mensch draussen im Leben wird auch hier wieder durch die besondere Situation des Bergsteigens, die ein Bestehen der Leistungsaufgabe in Ausgesetztheit der Person ist, schliesslich aus dem Gefühl des möglichen Scheiterns an der zu hohen Aufgabe in der Wand, der man sich mit einem Male nicht mehr gewachsen sieht, zur Selbstunsicherheit auch als Bergsteiger. Sich häufende Gefühle der Unsicherheit in kritischen Situationen aber müssen schliesslich über die Zunahme der inneren Erregung dabei und über die allmählich aufsteigende Furcht vor dem Wiederauftreten eines Unsicherheitsgefühles als bahnendem Moment zu einem ersten schweren Angstzustand in der Wand führen.

Über solche Zustände von Angstgefühlen in der Wand wissen wir letztlich nicht viel. Es ist ja auch durchaus verständlich: wird doch kein Bergsteiger, der bislang leistungsfroh in seinem Kreis und in seiner Gemeinschaft sich bewegt hatte und plötzlich verständnislos eigenen Unsicherheitsgefühlen als neuer Situation gegenübersteht, etwas über diese deprimierenden inneren Erlebnisse verlauten lassen. Aber wenn auch im Bergsteigen darüber viel Verheimlichungsbestrebung und Schweigen gebreitet ist, so können wir doch die bei einem Bergsteiger neu aufgetretene Erscheinung eines Unsicherheitsgefühles in der Wand aus seinen übrigen Benehmen erraten. Wir bemerken dann ein mit der früheren freudigen Bereitschaft für Fahrten allen Grades unverein-bares neuerdings auftretendes Zögern, wir spüren die Ausflüchte bei Aufforderungen, bei exponierteren Dingen mitzuhalten, und können es nicht verstehen, dass plötzlich berufliche Ausreden auftauchen, Erklärungen, unabkömmlich zu sein u.a. m ., oder dass der Betreffende, der uns immer als ein guter Bergsteiger schien, die Bergsteigerei schliesslich ganz aufgibt.

Wir zeigen sehr wenig Verständnis für die Struktur des Bergsteigertums, wenn wir über den Satz, dass einer das Bergsteigen aufgegeben habe, so leicht oder nur überrascht und bedauernd hinwegsehen. Wir dürfen nämlich nicht annehmen, dass Entschlüsse, das Bergsteigen aufzugeben, von heute auf morgen gefasst werden, etwa aus dem Grund, weil es den Betreffenden nicht mehr freut oder weil ihm das Bergsteigen nichts mehr sagt. Wenn wir solche Gedanken beim Abwandern von Menschen aus dem Kreis der Bergsteiger haben, dann vergessen wir ganz auf den umfangreichen Komplex innerer Bindungen im Bergsteigen. Denn wenn einer jahrelang oder jahrzehntelang sich ständig im Bergsteigermilieu bewegte, dort sich ein gewisses Ansehen schuf, ein bestimmtes Persönlichkeitsniveau sich erwarb, sich einen Freundeskreis gewann, dann sind das innere Bindungen an das Bergsteigertum, die über alle Äusserlichkeit der bergsteigerischen Tätigkeit hinausgehen und vor allem ungemein schwer wieder lösbar sind. Wenn daher wirklich einer von diesem Kreis ausscheidet, der ein Stück seines Lebens bedeutet, wenn er vom Bergsteigen abtritt, dann, müssen wir sagen, gehen diesem endgültigen Abtreten lange innere Kämpfe, scheiternde Versuche, das Niveau doch noch zu halten, jenem so leichtfertig klingenden und doch so schwer ausgesprochenen Satz voran, der am Ende vielleicht lakonisch heisst: « Ich habe andere Sorgen als Bergsteigen. » Es gibt viele Variationen dieses Satzes, viel verschiedene Worte, aber letztlich sagen sie nie, wie schwer es diesem Bergsteiger fällt, die bergsteigerische Kommunikation nicht mehr aufrechterhalten zu können, sondern sie drücken fast immer das reine Gegenteil aus und erwecken die Meinung, dass das Ausscheiden dem Betreffenden nicht viel bedeutet. In dieser Verschleierung des wahren Grundes liegt aber letztlich nur die Angst, dass man in sein Inneres hineinblicken und die wahren Gründe seines Abtretens erraten könnte. Wir ahnen ja gar nicht, wenn wir uns in der unbeschwerten Mitte des Bergsteigerkreises befinden, was dort am Rande, wo ein Kommen und Gehen laufend stattfindet, sich seelisch alles abspielen mag. In dieser Unstetigkeitsschicht des Bergsteigerkreises ist das Pathos des freudigen Aufschwunges im Kommen genau so zu Hause wie auf der anderen Seite im Gehen viel Bitternis im Verzicht, verzweifelte Auflehnung gegen das innere Versagen und Ertragen des Scheiterns.

Denn es gibt kein leichtes Hinweggehen über einen Verlust an Persönlichkeitsniveau bei einem Mann, wenn er wirklich einer ist. Der Verzicht aus Schwäche, aus Unsicherheits- und Angstgefühlen in der Wand aber ist unweigerlich verknüpft mit dem Gefühl des Verlustes an Persönlichkeitsniveau. Aus diesem Grunde wundert es uns auch gar nicht, wenn im ersten Bemerken von Unsicherheitsgefühlen in der Wand, die wie eine drohende schwarze Wolke am heiteren Himmel ihrer Bergsteigerei auftauchen, und die sie trotz intensivster Anstrengung, sie abzuwerfen, nicht mehr loswerden können, diese Bergsteiger dann die eigenartigsten Versuche unternehmen, auf Umwegen ja doch noch ihr unbeschwertes Niveau wieder zu erreichen. Auf Umwegen deshalb, weil sie am direkten Versuch fast immer scheitern.

Ein solcher direkter Versuch etwa wäre es, wenn ein solcher Bergsteiger seine Unsicherheit dadurch bekämpfen will, dass er meint, durch neue Gewöhnung an den Tief blick und an die Exposition müsste auch das Unsicherheitsgefühl wieder verschwinden, und jetzt hergeht und den Tiefblick und die Exposition forciert im Bergsteigen betreibt. Aber ein solcher an sich sehr naheliegender Gedanke an Höhengewöhnung ist hoffnungslos, da es der Teufelskreis aller Angstgefühle ist, dass die Furcht vor dem Angstzustand diesen selbst mit unbeirrbarer Sicherheit auslöst. Wer in der Wand mit Gedanken der Kompensation von Unsicherheits- und Angstgefühlen sich bewegt, wird diese durch das angestrengte Vermeidenwollen nicht nur nicht los, sondern immer wieder erneut auslösen, da er, wenn er sich mit seiner Unsicherheit dauernd beschäftigt, den Organismus in seinen Reaktionen direkt suggestiv auf dieses mögliche Unsicherheitsgefühl hinlenkt. In einem solchen Zustand beginnender innerer Unsicherheit betreibt und fördert der Bergsteiger im guten Glauben den gegenteiligen Effekt, seine Unsicherheit, nur noch mehr.

In dieser psychischen Situation wirkt auch alles von aussenher Kommende und in dieser Richtung Gehende zusätzlich und unsicherheitsfördernd. Ein Beispiel von vielen wäre dieser Satz, den ein Bergsteiger immer wieder von seiner Familie hören muss, wenn er eine Fahrt unternimmt, der da ungefähr lautet: « Gib ja auf dich acht, dass du nicht herunterfällst. » Bei einem Bergsteiger, der sich innerlich sicher in seinem Handwerk bewegt, wird dieser Satz der Besorgnis gar nicht in seiner gemeinten Bedeutung aufgefasst, er prallt bereits an der Oberfläche ab und zeitigt daher auch keine psychische Wirkung. Bei einem innerlich unsicher gewordenen Bergsteiger aber, der sich ohnedies viel zu viel mit Gedanken des Hinunterfallens in einem solchen Zustand beschäftigt, wird dieser Satz in der entsprechenden Situation in der Wand schliesslich zur Begleitmusik seines Tuns, er wird dem Betreffenden in der entsprechenden Situation einfallen und immer wieder einfallen, bis dieser Bergsteiger mit diesem Wort in den Ohren an jede kritische Wandstelle herangeht. Wie wir sehen, fördern auch solche Sätze der Besorgnis die innere Gefährdung eines solchen Bergsteigers.

Aus dem Scheitern am direkten Versuch, die Unsicherheitsgefühle in der Wand loszuwerden, bahnen sich oftmals Kompensationsversuche an und laufen Kompensationsversuche ab, die ganz eigenartig sind ob ihrer Verbiegungen und Umwege. So ist mir in dieser Beziehung ein Fall bekannt geworden, in dem ein von Unsicherheitsgefühlen in der Wand befallener Bergsteiger seine frühere Unbeschwertheit wieder zu erreichen trachtete, indem er sich auf ganz leichte Steige einstellte, die er mit Seilsicherung beging. Solche Gedanken, sich langsam wieder die Höhensicherheit durch Steige zu gewinnen, denen das bergsteigerische Können des Betreffenden turmhoch überlegen ist, sind sehr naheliegend. Sie sind aber fast nie auch wirklich durchführbar, da es vom Standpunkt des bergsteigerischen Ansehens der Persönlichkeit, um das es ja beim Versuch der Kompensation des Unsicherheitsgefühles letztlich geht, unmöglich ist, Steige, die diese Persönlichkeit früher seilfrei und im Alleingang meisterte, nun angeseilt zu begehen. Damit nämlich würde er sich aus dem Niveau dieses Kreises, in dem er sich bewegt, aus eigenem herausstellen - und das ist unmöglich, da es ja um das Drinnenbleiben geht. Diese Möglichkeit, auf leichtesten Steigen angeseilt zu gehen, bestand aber bei dem erwähnten Bergsteiger durch seine besondere bergsteigerische Entwicklung. Er, der aus einem Kreis von Turnern, die gelegentlich auch Bergfahrten unternahmen, durch Hinüberwechseln in einen Kreis extremer Bergsteiger hervorging, wendete sich in dieser bergsteigerisch kritischen Phase der inneren Unsicherheit erneut dem früheren Freundeskreis zu, die er wieder für das Klettern zu begeistern wusste und sie als Führer auf leichtesten Wegen an das Seil nahm.

Auch dieser Bergsteiger, von dem ich sagte, dass er seinen früheren Freundeskreis wieder aufsuchte, um die neuerdings in seinem Bergsteigen aufgetauchte Höhenfurcht zu überwinden und in eine neue Höhen Sicherheit umzukehren, scheiterte an diesem Versuch, wiederzukommen, und erlitt den Bergtod als einer von denen, von denen man sagte, er habe in einer Vorahnung ohnedies nicht recht gewollt. Die Zuspitzung zur Katastrophe bei diesem Bergsteiger bahnte sich an, als er mit seinen alten und neuen Freunden in eine bekannte Berggruppe auf Urlaub fuhr. Er war sich seiner Person damals schon so weit sicher, dass er nach langem Training auf leichtesten Wegen, auf denen Unsicherheits- und Angsterlebnisse nicht mehr auftraten, schon Mittelschwieriges mit der Freude neuer innerer Unbeschwertheit gehen konnte. Im Pathos dieser für ihn wieder neuen Situation früherer Unbeschwertheit schrieb er eine begeisterte Urlaubskarte, dass er einen unteren Fünfer mit dem Besten seines jetzigen Freundeskreises in ausgezeichneter Form und in guter Zeit gemacht habe.

Aber was ist schon Begeisterung über eine gute Form in einer solchen Situation! Die Psychologie hat hier unerbittlich scharfe Augen. Denn diese Freude ist doch nur die Freude, keine Angst mehr zu haben. Und dieses Pathos sagt nichts aus über Steigerungsmöglichkeit der psychischen Belastung, es sagt lediglich aus, dass bei der bisherigen Exposition in der Wand kein Angstgefühl aufgetreten ist. Die Tourenauswahl bei solchen Leuten ist sehr bezeichnend: sie gehen gut und gerne überall dort hinein, wo kürzere Seillängen zu gehen sind, wo zusätzliches Hakenschlagen möglich und keine Schande ist - aber sie meiden alle bergsteigerisch schwereren freien Klettereien, die ausgesetzt sind, wo Seillänge um Seillänge in einer Art Kirchturmkletterei frei ausgegangen wird und man es sich an den Fingern abzählen kann, dass aus vierzig Meter ausgegangenem Seil ein Achtzig-Meter-Sturz resultieren würde.

Genau so verhielt es sich auch bei dem erwähnten Bergsteiger. Seine Touren draussen waren nicht gerade leicht, aber sie waren solche von der gefühlsmässig sicheren Sorte, lieber technisch etwas schwieriger, dafür aber weniger ausgesetzt; und, was sehr bezeichnend war, er kannte sie alle von früher her. Das Ende aber bahnte sich an, als er draussen Bergsteiger traf, die ihn von seiner guten Zeit her als ausgezeichneten Geher kannten und einer von ihnen noch draussen blieb, während seine Partner nach Hause fuhren. Dieser eine nun redete ihm zu einer sehr schönen, aber auch sehr ausgesetzten Fünfertour der oberen Grenze zu, eben einer sogenannten Kirchturmkletterei, und seine Gefährten unterstützten nur dieses Zureden. Er selbst wollte nicht recht, zögerte mit der Zusage - aber er konnte keinen rechten Grund angeben, warum er nicht wollte. Schliesslich aber hat er sich die Zusage ja doch abgerungen, vielleicht im Vertrauen auf seine augenblicklichen Erfolge oder weil er als Bergsteiger nicht recht zurückziehen konnte - wir wissen es nicht. Tatsache ist jedoch, dass er in der Gestalt des Vertreters der extremen Kreise, die er aus innerer Unsicherheit verlassen hatte und in die er sich mit dieser Tour wieder erneut hineinbegab, tödlich mit seinem Gefährten abstürzte.

Hier eine Schuldfrage zu stellen, würde von mangelhafter Kenntnis der menschlichen Psyche zeugen. Im Grunde wäre es ja vollkommen richtig, in einem solchen Fall von Verantwortungslosigkeit der bergsteigerischen Haltung zu reden. Dennoch sind wir nicht berechtigt, hier Sätze aufzustellen. Von einem Bergsteiger zu fordern, er solle beim ersten Zeichen innerer Unsicherheit in der Wand vom Bergsteigen abtreten, ist ein Unding. Denn wir sind doch alle aus anfänglicher Unsicherheit reife Bergsteiger geworden. Ausserdem ist das Bergsteigerkleid doch kein Gewand, das man einfach ablegt, wie der Soldat nach beendetem Krieg die Uniform auszieht. Bergsteigen ist doch, haben wir bereits gesagt, ein Stück des schönsten Lebens, ist organisch in das Leben hinein-gewachsen und muss daher ebenso organisch sich daraus wieder abbauen. Plötzlich brechen mit dem Bergsteigen von heute auf morgen kann keiner, wenn er wirklich auch innerlich Bergsteiger war. Denn ein solcher momentaner Bruch, den wir unter dem Titel des Verantwortungsbewusst-seins vielleicht fordern, würde zugleich die Selbstaufgabe dieses Bergsteigers als Mensch bedeuten. Denn welcher Bergsteiger würde es nach dem ersten tiefergehenden Unsicherheitserlebnis in einer Wand für möglich halten, dass das auch schon das Ende der Bergsteigerlaufbahn bedeuten könnte. Wir alle, glaube ich, würden uns nicht anders verhalten als alle jene, die erste Angsterlebnisse in der Wand mit erhöhter Anstrengung um Wiedererstellung des alten Zustandes beantworteten. Wir würden es einfach nicht fassen können, dass gerade wir das sein müssen, die in der Reife am Bergsteigen psychisch scheitern. Wir würden uns wie diese an die Tatsache unserer guten und unveränderten bergsteigerischen Technik klammern, an unsere unverminderte Kraft und Leistungsfähigkeit und verzweifelt versuchen, mit dieser Kraft und Technik als fundamentaler Grundlage einen neuen Aufschwung in unserem Bergsteigen zu erzwingen.

Aber was ist schon Kraft, was ist Technik, wenn die Psyche versagt! Wir kennen viele, die mit viel Kraft und wenig Technik erstaunliche Leistungen im Bergsteigen vollbringen. Wir kennen auch viele, die ihre geringe Kraft durch eine ausgefeilte und schlechthin vollendete Technik ausgleichen und darüber zu Spitzengehern werden. Aber wir kennen keinen einzigen, der gegen seine innere Unsicherheit in der Wand, gegen das Angstgefühl, das ihn in der Ausgesetztheit überkommt, mit seiner Technik und Kraft etwas ausgerichtet hätte, und der Versuch, dagegen anzukämpfen, würde nur ein Risiko bedeuten, das in keiner Richtung mehr zu verantworten ist, in dem der Bergsteiger schliesslich diesem Zirkel zum Opfer fällt, der in dem Satz, dass die Furcht vor der Angst die Angst mit Gewissheit auslöst, ausgedrückt ist. Wer psychisch im Bergsteigen versagt, ist am Bergsteigen endgültig gescheitert, und jeder Kompensationsversuch bedeutet eine existentielle Gefährdung dieses Menschen.

Hier aber, beim Bergsteiger einer solchen inneren psychischen Situation, müsste unser Verstehen auf den Plan treten, das im einzelnen vielleicht hin und wieder da ist, im allgemeinen aber durchaus fehlt. Wir müssen leider sagen, dass man nirgendwo als Mensch so leicht fallengelassen werden kann als von einer Hochleistungsgemeinschaft, wenn die Leistung einmal abfällt.

Das, was wir hier über innere Unsicherheit und Angstzustand in der Wand gesagt haben, ist die wirkliche Angst im Bergsteigen, die Angst, die aus dem tiefgreifenden Unsicherheitsgefühl ihren Anfang nimmt und über den überstarken Affekt schliesslich einmal in diesem Zustand zum Absturz führen kann. Die Angst dagegen, von der z.B. Lammer spricht, ist nur eine fiktive Angst, d.h. eigentlich gar keine; es ist eine Schreckerregung, für die man niemals den Ausdruck Angst verwenden kann. Erklärt man dennoch im Wegschauen von der Tatsächlichkeit des Erlebnisses einen einfachen Schreck zur Angst, dann ist das ein dialektischer Griff, um die Gefährlichkeit des Bergsteigens und mich darin als gefährlich lebende und damit übermenschlich dastehende Person erleben zu können. Eine Schreckerregung nämlich kann in ihrer höchsten Zuspitzung nur zum Bewegungssturm führen, und das ist das genaue Gegenteil der lähmenden Inaktivität in der Angst, in der der Mensch mit dem Gefühl, dass ihm die Beine den Dienst versagen, schliesslich in sich zusammensackt.

Zuspitzungen eines Unsicherheitsgefühles zu wirklicher Angst aber müssen uns nachdenklich werden lassen. Sie deuten wie ein Zeiger auf die äusserste Sphäre des Leistungskernes eines jeden Bergsteigerkreises, an der die Zuwanderung zum Bergsteigen stattfindet wie auch das Abbröckeln davon. In dieser Sphäre spielt sich der Prozess des langsamen Kommens in gleicher Weise ab wie der Prozess des langsamen Gehens. Und da es die Maxime eines jeden Prozesses ist, dass er nicht gestört werden darf, so dürfen wir von den Kommenden nicht mehr an Leistung fordern, als ihnen schon möglich ist, und von den Gehenden nicht mehr, als ihnen noch möglich ist. Das ist unsere Verantwortung ihnen, den Abtretenden gegenüber, an die wir denken sollten, bevor wir von diesen Verantwortungsgefühl fordern. Wir sollten nicht Leistung verlangen, wo keine Kapazität der Leistung vorhanden ist, aber wir tun es ja doch immer wieder, weil wir Leistung letztlich auf unser Banner geschrieben haben.

Die Gefahr einer jeglichen Leistungsgemeinschaft ist es, dass sie hinter der Leistung den Menschen übersieht, dass sie über die Leistungsforderung den Menschen vergisst, aus dem sie ja letztlich entspringt.

Diesen ganzen Komplex jedoch richtig zu sehen, lehrt uns die Psychologie.

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