Die Internationale Himalaya-Expedition 1955
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Die Internationale Himalaya-Expedition 1955

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Nach Berichten von Norman G. DyhrenfurthVon G. O. Dyhrenfurth

Als vor 35 Jahren der Kampf um den Mount Everest auf der tibetischen Seite begann, war es selbstverständlich, dass bereits auf der Kundfahrt 1921 Topographen mitgingen. Zwei Offiziere der Indischen Landesvermessung, die Majore H. T. Morshead und O. E. Wheeler mit ihrer Hilfsmannschaft, nahmen in drei Monaten etwa 40 000 km2 auf, ungefähr soviel wie den Flächeninhalt der Schweiz. Natürlich konnte es nur eine Übersichtskarte sein, aber diese lieferte ein erfreulich klares Bild und blieb Jahrzehnte lang brauchbar. Die nepalische Seite des Massivs war allerdings weiter ein grosses, lockendes Geheimnis, bis Tibet hinter dem Eisernen Vorhang zu verschwinden begann und bis dafür das früher so streng verschlossene Königreich Nepal der Westlichen Welt seine Pforten öffnete.

Seit 1950 übt Solo Khumbu, das Sherpaland, eine magnetische Anziehungskraft aus, aber die vielen Expeditionen - kleine und grosse - brachten nur vage Kammverlaufskizzen heim, die untereinander sehr stark differieren. Und die amtliche Karte im Maßstab 1 Zoll = 4 Meilen oder 1: 253 440 ist sehr ungenau und insbesondere für das Hochgebirge unbrauchbar. Nach modernen kartographischen Methoden ist im « Mahalangur Himal » bis 1955 nicht gearbeitet worden. Der Grund? Um die Sache schonungslos beim richtigen Namen zu nennen: die Konkurrenz, die Jagd nach dem « spektakulären » Erfolg! Die Stereo-Photogrammetrie kann keine Nebenbeschäftigung für Laien oder Amateure sein, sondern sie erfordert einen wirklichen Fachmann und eine gewisse Zeit, und man hatte eben... « keine Zeit »!

Wie allbekannt, kam 1953 die Britische Everest-Expedition ans Ziel, der « dritte Pol », der höchste Punkt der festen Erdoberfläche über dem Meeresspiegel, war erreicht. Nun hätte man eigentlich bisher Versäumtes nachholen können. Als die « Schweizerische Stiftung für Alpine Forschungen » das Everest-Gebiet für zwei Jahre - 1954 und 1955 - als ihre Domäne beanspruchte, hoffte es so mancher. Tatsächlich bekam die « SSAF » von der nepalischen Regierung zunächst die nachgesuchte Bewilligung, aber... sie war 1954 nicht in der Lage oder nicht willens, diese ihr erteilte Konzession auch wirklich auszunützen und eine eigene Expedition ( mit einem Topographen ) zum Everest-Lhotse oder Cho Oyu zu entsenden.

Da die « Buchung » trotzdem aufrechterhalten wurde, wirkte sich das als Blockadeversuch aus: anderen war der Weg in den Mahalangur Himal versperrt oder zum mindesten stark erschwert.

So kam es, dass in der Vormonsunzeit 1954 nur die « Yeti-Expedition » der Daily Mail ( mit Schiessverbot ) tätig war, aber kein bergsteigerisch ernsthaftes Unternehmen. Dr. Herbert Tichy erhielt die Cho Oyu-Bewilligung erst für den Herbst 1954, während der Expedition Lambert-Mme Kogan die Gaurisankar-Menlungtse-Gruppe zugewiesen wurde. Norman G. Dyhrenfurth, der sich ebenfalls schon für 1954 beworben hatte und mit seiner « I.H.E. » ein grosses, für Nepal interessantes Arbeitsprogramm vorweisen konnte, bekam die Genehmigung von Kathmandu erst für das Jahr 1955.

Die neue I.H.E, knüpfte an die Tradition meiner Internationalen Himalaya-Expeditio-nen 1930 und 1934 an und bestand aus Schweizern, Österreichern, Amerikanern, einem nepalischen Verbindungsoffizier und Sherpas. Von Anfang an war vorgesehen, das Hauptgewicht auf die kartographischen, filmischen und photographischen Arbeiten zu legen und dafür auch die notwendige Zeit aufzuwenden. Es war also weder eine blosse Gyachung Kang- noch eine Lhotse-Expedition, wenn auch einer der grossen Berge versucht werden sollte.

Expeditionsleiter war mein Sohn Norman G. Dyhrenfurth ( Wassen, Uri ), der seit 1937 seinen ständigen Wohnsitz in den USA hat, während des Zweiten Weltkrieges - wie auch viele andere Schweizer - in der amerikanischen Armee diente, Offizier wurde und nun das Doppelbürgerrecht besitzt. Mit Ausnahme der Kriegsjahre war er auch drüben jedes Jahr in den Bergen: Skilehrer, Bergführer, zwei Alaska-Expeditionen. Seine in der Schweiz begonnene Laufbahn als Kameramann setzte er in Amerika fort und wurde nach dem Kriege Leiter der Filmabteilung an der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Dass er an der zweiten schweizerischen Everest-Expedition im Herbst 1952 teilnahm, darf als bekannt vorausgesetzt werden.

Der Kartograph der I.H.E, war Dipl.Ing. Erwin Schneider ( Hall, Tirol ), einer der führenden Bergsteiger Österreichs, sehr erfahrener Expeditionsmann ( Himalaya, Pamir, Kordilleren ) und Kartograph des Österreichischen Alpenvereins - es sei bloss an seine Karten aus den Anden von Peru und an die Neuaufnahme der Ötztaler Alpen erinnert.

Ernst Senn ( Innsbruck ), einer der allerbesten Tiroler Bergsteiger, ist in der Schweiz durch seine Bezwingung der Matterhorn-Nordwand ( zusammen mit Sepp Richter ) bei schlechtesten Verhältnissen bekannt geworden. 1954 war er am Broad Peak im Karakorum.

Diese drei bildeten die erste Gruppe, die am 30. März mit MS « Asia » des Lloyd Triestino von Genua ausreiste und den Hauptteil des Gepäcks mitnahm. Die zweite Staffel, die am 30. Juli folgte, bestand aus fünf Teilnehmern:

Arthur Spöhel von Bern, Bergführer und Dachdecker, der ebenfalls bei der zweiten Everest-Expedition der SSAF war.

Dr. med. Bruno Spirig ( Olten ), als Expeditionsarzt und Bergsteiger.

George I. Bell ( Los Alamos, New Mexico ), Fred Beckey und Richard McGowan ( beide von Seattle im Staate Washington ).

Im folgenden halte ich mich an die Berichte und Tagebuchaufzeichnungen meines Sohnes, die hier in einem kurzen Auszug wiedergegeben werden sollen:

Als ich am 27. Januar 1955 den Bescheid erhielt, dass die Regierung von Nepal mir die erbetene Bewilligung für das ganze Jahr 1955 erteilt habe, befand ich mich gerade in Los Angeles und musste nun in zwei Monaten alle Vorarbeiten leisten: Finanzierung, Zusammen- Stellung der Mannschaft, Ausrüstung und all die unendliche Korrespondenz, die für eine grosse Himalaya-Expedition unerlässlich sind. Es ist uns tatsächlich gelungen, die gesamte Organisation fristgemäss auf die Beine zu stellen, aber die Eile wirkte sich doch recht unangenehm aus. Vor allem waren die guten französischen oder englischen Sauerstoffgeräte nicht so schnell zu beschaffen. Wir mussten uns mit den deutschen Dräger-Fabrikaten begnügen, die nicht hinlänglich erprobt werden konnten und die uns später bitter enttäuschen sollten.

Am 13. April trafen wir in Bombay ein und hatten zum Empfang in Indien ernste Zollschwierigkeiten. Dabei war eigentlich alles gründlich vorbereitet worden: genaue Listen des gesamten Expeditionsgepäcks waren in zehn Exemplaren nach Delhi gegangen. Obendrein handelte es sich nur um Transitgut durch Indien nach Nepal, die Bestätigung der nepalischen Regierung lag vor, unser Zeug sollte also einfach unter Zollverschluss bis zur nepalischen Grenze spediert werden. Trotzdem gab es einen hartnäckigen « Papierkrieg » mit Bewertung aller Waren bis zur letzten Nadel, persönlicher Bürgschaft, Bankgarantie usw. Erst am frühen Morgen des 17. April konnten wir Bombay verlassen, und zwar in einem Personenzug, da nur an einen solchen der plombierte Gepäckwagen ( 167 Stück, zusammen 6500 kg ) angehängt werden durfte. Man hatte uns dringend geraten, in dem gleichen Zuge zu fahren, wenn wir sicher sein wollten, dass unsere Ausrüstung rechtzeitig in Jogbani, der letzten indischen Station vor der nepalischen Grenze, eintreffen sollte.

Was « Bummelzug » in Indien bedeutet, kann nur ermessen, wer selbst einmal so gereist ist. Die Wagen sind unwahrscheinlich schmutzig, von Dusche und Klimaanlage ( wie in den Schnellzügen ) ist keine Rede. Tagsüber ist es unbeschreiblich heiss. Die Skala unseres Thermometers reicht leider nur bis 40° C; es würde sicher bis 50° zeigen, wenn es nur könnte. Schliesst man die Fenster, erstickt man; öffnet man sie, so dringt der Staub in alles ein, und die Hitze wird noch grösser. Die meiste Zeit verbringen wir liegend. Hunderte von Malen wird gehalten; hin und wieder versuchen wir unser Glück mit der Jagd auf Tee, Bananen, Mandarinen, Wassermelonen. So geht es vier Tage und fünf Nächte lang - nachts wird die Temperatur erträglicher.

Auch Abenteuer bleiben uns nicht erspart: Schon am ersten Tage bemerken wir in einer Kurve, dass unser Gepäckwagen abhanden gekommen ist. Auf der nächsten Station stelle ich den « Train Guard » zur Rede, der gelassen meint, die Steigung sei zu gross, darum habe man unsern Wagen abgehängt. Es kostet ein dringendes Ferngespräch nach Bombay, der Unersetzliche muss an den nächsten Schnellzug angehängt werden, und nach einigen bangen Stunden befindet er sich unter unseren wachsamen Augen wieder in unserem Zug.

Trotz unserer Aufmerksamkeit kam es einige Tage später noch einmal zu einer ähnlichen Situation: Beim Rangieren hatte man unsern Wagen auf einem Nebengeleise stehen lassen, und als ich ihn entdeckte, setzte sich unser Zug gerade in Bewegung. Auch dieses zweite Mal haben wir den Ausreisser - wenn auch mit allerlei Komplikationen - schliesslich wieder erwischt, aber wir waren sehr froh, als wir am 21. April mit unserem gesamten Gepäck glücklich in Jogbani eintrafen.

Im stillen hatte ich schon gehofft, dass vielleicht einige unserer Sherpas, die mit 120 Trägern aus Namche Bazar seit dem 17. April in Dharan auf uns warteten, uns in Jogbani abholen würden. Tatsächlich waren sie da, meine alten Freunde: Ang Dawa, der 1952 am Everest mein Sherpa gewesen war, Dawa Thondup, Ang Namgyal, Pemba Sundar, Kirken und noch ein paar andere. Sie waren ganz aufgeregt, uns zu sehen, weil sie vier Tage lang in Sorge und Ungewissheit auf uns gewartet hatten. Meine telegraphische Nachricht hatte sie nicht erreicht.

Mr. Singhania, der Direktor der grossen Jute Mill, war selbst zum Bahnhof gekommen, ebenso der nepalische Zollbeamte. Dieser warf auf unsere umfangreichen Gepäcklisten einen flüchtigen Blick, lächelte freundlich, stempelte, unterschrieb und gab sie mir wieder zurück. Die gleiche Prozedur hatte in Bombay mehr als vier Tage gekostet.

Sofort gingen die Sherpas daran, beim Gästehaus der Jute Mill unser Gepäck aufzustapeln. Wir werden hier nur das Nötigste für die zweite Staffel zurücklassen und müssen deshalb zwei Fahrten mit dem Lastwagen nach Dharan machen. Über Biratnagar, die erste grosse Ortschaft in Nepal, sind es nach Dharan rund 50 km, und es gibt hier sogar eine « Strasse ». Ich kannte sie schon von 1952 her, als der Monsun sie fast völlig zerstört hatte, aber auch jetzt, in der trockenen Jahreszeit, war sie in einem unbeschreiblichen Zustand. Meine beiden Kameraden, Erwin Schneider und Ernst Senn, an Kummer gewöhnt, mussten zugeben, noch nie in ihrem Leben so etwas mit Lastwagen befahren zu haben. Wir drei sassen vorn beim Chauffeur, während unsere Sherpas auf den hochgetürmten Gepäckstücken ritten - eine abenteuerliche Sache. Immer wieder mussten wir anhalten, verschobene Ballen und Kisten zurechtrücken und zerrissene Seile flicken. Erschöpft langten wir erst gegen 8 Uhr abends in Dharan an, von den übrigen Sherpas und den Namche-Trägern freudig begrüsst.

Am nächsten Tage gab es viel Arbeit: die Lasten mussten eingeteilt und z.T. auch noch umgepackt werden, Lebensmittel für die Träger waren zu besorgen, ausserdem brauchten wir noch etwa 80 Kulis aus der Umgebung, die Pasang Phutar, unser Sirdar, ohne Schwierigkeiten auftreiben konnte.

Am 24. April in aller Frühe brechen wir auf. Wie die Sherpas so etwas organisieren, ist bewundernswert. Jeder Träger bekommt seine Last und die dazugehörige Nummer, ausserdem wird sein Name in ein Buch eingetragen. Bezahlt wird erst, wenn er sowohl Last als auch Nummer abgeliefert hat. Im Bewusstsein ihrer Verantwortung arbeiten unsere Sherpas ruhig und sicher; es hätte gar keinen Sinn, wenn wir uns da irgendwie einschalten wollten. Unsere Kolonne besteht jetzt aus 196 Trägern, 10 Sherpas, dem jungen nepalischen Verbindungsoffizier, Gaja Nanda Vaidya, und uns drei Sahibs.

In den ersten Tagen haben wir sehr unter der Hitze zu leiden. Die Flüsse, die wir auf unserem Anmarsch queren müssen, sind tief eingeschnitten, es geht ständig bergauf und bergab. Man kann es sich kaum vorstellen, wie unsere Träger, darunter 60 Frauen, es mit ihren bis zu 40 kg schweren Lasten schaffen, die sie mittels Stirnband auf dem Rücken tragen. Allerdings nicht mehr für eine bis anderthalb Rupien am Tage, wie es bei den Expeditionen meines Vaters war, sondern jetzt für vier Rupien. Auch das ist eigentlich nicht viel, und doch kostet der Transport - vom Lohn der Sherpas ganz abgesehen - täglich 800 indische Rupien, also etwa 740 Schweizer Franken.

Die Sherpas sind heute fast gewerkschaftlich organisiert und werden genau nach Vorschrift ausgerüstet, ernährt und bezahlt. So bezieht z.B. ein Sirdar 10 Rupien pro Tag, ein Koch 7 Rupien, ein gewöhnlicher Sherpa 5 Rupien. Aber sie sind auch wirklich grossartig in ihrer Leistung, zuverlässig, stets freundlich und hilfsbereit, kurz für eine Expedition unentbehrlich. Es gibt allerdings auch Ausnahmen, die die Regel bestätigen.

Da die Anmarschtage einer grossen Himalaya-Expedition schon oft geschildert worden sind, wollen wir uns hier ganz kurz fassen:

Zunächst geht es zum Tamar hinunter, dem grossen Fluss, der die Westseite der Kangchendzönga-Gruppe entwässert und der hier sogar auf einer guten Hängebrücke überschritten werden kann Dhankuta, der Hauptort dieses ganzen Bezirkes, ist ein grosses schönes Dorf auf einem luftigen Höhenrücken. Am 29. April queren wir den mächtigen Die Alpen - 1956 - Les Alpes8 Arun, der in Tibet entspringt, den Himalaya-Hauptkamm in riesigen Schluchten durchbricht und von den Gletschern auf der Ostseite der Everest-Gruppe gespeist wird. Hier gibt es nur eine Fähre, ein einziges Boot, das aus einem ausgehöhlten Baumstamm besteht. So kostet es sechs Stunden, um 214 Menschen und alle unsere Lasten zum Westufer hinüber-zuschaffen.

Nach einigen Tagen mit weiterem Auf und Ab beginnt die grosse Steigung aus der Irkhua Khola ( Khola = kleiner Fluss ) zum Salpa Banjyang, einem Pass von ungefähr 3700 m Höhe, den wir am 3. Mai erreichen. Es ist hier oben empfindlich kalt, wir sind hart an der Neuschneegrenze, auch der grosse Chorten gibt nur wenig Windschutz. Darum hasten wir auf der anderen Seite hinunter, wo es allmählich wieder wärmer wird. Es ist ein schöner Tag, von allen Seiten hört man den Kuckuck, hie und da spielen Affen in den Bäumen, Adler ziehen in regelrechten Geschwadern auf Beute aus. Wir übernachten in Gudel, einer grösseren Ortschaft, in der wir auch alle Kulis in Häusern unterbringen können. Wieder einmal hält Ernst Senn, wie fast jeden Abend, « Sprechstunde » ab. Man erwartet einfach, dass eine Expedition auch ärztliche Hilfe bringt. Unser Arzt, Dr. Bruno Spirig, kommt allerdings erst im August mit der zweiten Staffel, aber er hat eine Apotheke mit genauer Liste aller Medikamente und Gebrauchsanweisung zusammengestellt, und Ernst Senn hat bereits einige Erfahrung in ärztlicher Hilfe.

Der 6. Mai ist ein herrlicher Tag. Vor uns leuchtet die Mera, ein formschöner Sechstausender, der 1951 von der Shipton-Expedition bestiegen wurde. Endlich sind wir im Hochgebirge. Durch blühende Rhododendrenwälder geht es über einen leichten Pass nach dem Dorf Pankhoma, wo ich schon 1952 mit Ang Dawa übernachtete. Nichts hat sich hier verändert; es ist, als käme ich in meine Heimat zurück. Wir sind in Solo Khumbu, dem Land der Sherpas. Zwei Tage später erreichen wir nach steilem Anstieg das schöne Plateau von Chaunrikharka, ein freundliches Dorf mit mehreren Chorten und einer Mani-Mauer. Leider sind die herrlichen Sechstausender Karyolung und Kwangde heute in Wolken. Dicht über dem Dudh Kosi, dem « Milchfluss », halten wir auf einer Wiese Frühstücksrast. Dieser Fluss, der von den Gletschern des Everest-Gebietes gespeist wird, hat eine prachtvolle, milchig-blaugrüne Farbe. Auf ziemlich luftigen, aber solid gebauten Auslegerbrücken wechselt man mehrfach das Ufer. Rhododendren, Primeln und winzige Schneeglöckchen blühen am Wege, der Wald duftet wie ein Bergwald daheim.

Die abendlichen Lagerfeuer brennen. Als der Trubel verstummt ist, füllt nur noch das Tosen der Dudh Kosi das Tal. Morgen werden wir in Namche Bazar sein.

Der 9. Mai ist ein strahlender Tag. Zunächst geht es am Dudh Kosi entlang bis zu seinem Zusammenfluss mit dem Bhote Kosi, dem « tibetischen Fluss », und nach einer Stunde erreichen wir die Stelle, wo man den ersten Blick auf die Everest-Gruppe bekommt. Ich wusste das und wollte als erster dort sein. Auch diesmal bin ich überwältigt. Allerdings sieht der Lhotse von hier noch grossartiger aus als sein höherer Bruder, der zum grossen Teil vom Nuptse-Lhotse-Kamm verdeckt ist. Nur sein mächtiges Haupt ragt noch darüber hinaus, und die gefürchtete « Feder », eine kilometerlange Fahne aus Schnee- und Eisteilchen, zeigt, dass dort oben das Reich des Sturmes ist.

Eine halbe Stunde später sind wir in Namche Bazar, dem grossen Sherpadorf. Wo wir auch hinkommen, werden uns gekochte « Alu » ( Kartoffeln ) von freundlichen Sherpanis zum Willkomm angeboten. Viele sind uns weit entgegengeeilt, um ihre Angehörigen zu begrüssen. Es herrscht festliche Stimmung, von allen Seiten erschallt Gesang.

Unser Weg führt uns am Dorf vorbei zu dem etwa 100 m höher gelegenen Platz, wo alle Everest-Expeditionen der letzten Jahre gelagert haben. Plötzlich taucht jenseits Thang- boche ein unglaublich kühner Eis- und Felsturm auf, die berühmte Ama Dablam ( 6800 m ). Meine beiden Kameraden sind vor Begeisterung fast sprachlos. Erwin, der sich während des Anmarsches nicht sehr wohl gefühlt hat - er hat früher durch Erfrierung alle Zehen verloren -, ist wie neugeboren. Er versichert immer wieder, dass dies die schönste Berglandschaft sei, die er je gesehen habe, und - Erwin Schneider hat viel gesehen.

Die Auszahlung der Träger aus Dharan, die nun wieder nach Hause gehen, verläuft zuerst programmgemäss; doch nachher kommen sie in hellen Scharen, um alte oder leicht beschädigte Noten gegen neue auszutauschen. Leider war ich zunächst gutmütig genug, mich auf dieses Geschäft einzulassen, und schon steht eine lange Schlange vor meinem Zelt. Alle Erklärungen unseres Verbindungsoffiziers, Vaidya, dass alte Noten genau den gleichen Wert hätten, nützen nichts, bis Ang Dawa kurzerhand mein Zelt von aussen schliesst. Endlich beruhigen sie sich, und einer nach dem andern kommt, um Abschied zu nehmen, mit gefalteten Händen « Salam Sah'b » zu sagen und uns mit rührender Verlegenheit die Hand zu schütteln. Was für freundschaftliche Bande haben sich in den 16 Anmarschtagen geknüpft! Während wir noch den letzten spärlich bekleideten Gestalten nachsehen, erscheint eine Delegation von Indern, die seit 1952 in Namche eine kleine Radiostation betreiben und sich mit uns bekannt machen wollen.

Den Weg von Namche nach Thangboche ( 10. Mai ) zu beschreiben, dafür fehlen die Worte. Himmelhohe leuchtende Eisberge - Thamserku, Kangtega, Karyolung, Kwangde, Taweche, die einmalige Ama Dablam und dann noch das überwältigende Dreigestirn Nuptse-Everest-Lhotse. Zunächst spaziert man am linken Talhang fast eben hoch über dem Dudh Kosi dahin, dann geht es ziemlich steil zum Fluss hinab, über eine gute Holzbrücke und nun auf der anderen Seite an mehreren vom Wasser getriebenen Gebetsmühlen vorbei durch steilen, schönen Föhrenwald hinauf nach Thangboche. Kurz vor Mittag stehe ich wieder an dem berühmten grossen Chorten. Die Wirklichkeit ist fast noch schöner als meine Erinnerung. Manchmal könnte ich fast glauben, dass Solo Khumbu in einem früheren Leben meine Heimat war.

Wir lagern unter dem Kloster auf einer kleinen Wiese, wo zu unseren Ehren bereits ein Prunkzelt aufgestellt ist. Als uns dort tibetischer Buttertee in einer riesigen Urne serviert wird, lasse ich durch Vaidya in möglichst diplomatischer Weise erklären, wir seien von dem langen Anmarsch etwas mitgenommen und vertrügen die ungewohnte ranzige Butter noch nicht. Diese Entschuldigung wird freundlich aufgenommen, und wir bekommen bald den gewohnten Darjiling-Tee.

Der 11. Mai ist unser 18. Marschtag, der letzte. Über Melingmo geht es zum Fluss hinunter und auf der anderen Seite nach Pangboche hinauf. Bald erreichen wir den Zusammenfluss von Lobuje und Imja Khola, an deren westlichem Ufer der Weg nach Dingboche führt. Dingboche besteht aus etwa vierzig primitiven Steinhütten, die auf einem Plateau verstreut liegen. Die mit Gerste angebauten Felder sind von Steinmäuerchen eingefasst. Erwin Schneider ist derartig begeistert von dieser grossartigsten aller Hochgebirgslandschaften, dass es ihm keine Minute Ruhe lässt. Er steigt sofort zu einem Chorten hinauf und ruft uns zu, wir sollten nachkommen. Als wir schnaufend bei ihm stehen, sehen auch wir, was ihn als Topographen so aufregt: weit im Nordwesten taucht der Cho Oyu ( 8189 m ) auf, der im vergangenen Herbst von der kleinen Expedition Tichys erstiegen wurde. Der Everest ist von hier aus zwar nicht sichtbar, um so besser aber der Lhotse I ( 8501 m ) und auch die rötliche felsige Gipfelpyramide des Makalu ( 8470 m ), des fünfthöchsten Berges der Erde, der im Nordosten den Kamm zwischen Barun- und Imja Khola überragt. Unser Standpunkt bietet also die Möglichkeit, drei trigonometrisch bestimmte Achttausender anzuvisieren, was für die photogrammetrische Arbeit höchst wichtig ist. Hier in Dingboche wird unser erstes Standquartier sein.

So vergehen die ersten Tage mit « häuslichen » Arbeiten. Für bescheidenes Entgelt haben wir Hütten gemietet, die wir halbwegs instandsetzen: Löcher im Dach werden mit Steinplatten gedeckt, Seitenwände mit Lehm abgedichtet. Ein Stall verwandelt sich in unser Magazin, eine andere Hütte in unsere Küche. Mit viel Eifer und Phantasie bemühen wir uns, in unserem derzeitigen Standlager einen Hauch von Komfort und Behaglichkeit zu verbreiten.

Auch die gesamte Ausrüstung wird ausgepackt, und jeder Sherpa bekommt seinen Teil: Schuhe, Socken, Strümpfe, Wadenbinden, Unterwäsche, Pullover, Daunenhosen und -Jacken, Windhose und Anorak, Schlauchkappe, Handschuhe, Fäustlinge, Schneebrillen, Steigeisen, Pickel, Rucksack, Schlafsack usw. eine gewaltige Menge Zeug. Dabei sind manche noch nicht einmal zufrieden, denn sie sind von gewissen reichfinanzierten Grossexpeditionen derart verwöhnt, dass sie immer nur das Beste und Teuerste erwarten. Das ist für eine mittelgrosse, privat finanzierte und sparsam arbeitende Unternehmung nicht ganz leicht.

Kundfahrten Nun gilt es, die kurze Schönwetterzeit bis zum Monsunbeginn noch auszunützen. Am 14. Mai ziehen Ernst Senn und ich mit unseren Sherpas Pemba Sundar und Ang Dawa los, um im Imja-Becken eine Frage zu klären, die uns schon seit langem beschäftigte: Ist es möglich, von dort aus den Ostgrat des Lhotse II ( 8400 m ) zu erreichen? Dieser Firngrat zwischen Imja- und Kangchung-Gletscher sieht nämlich - auch auf Flugaufnahmen - gangbar aus und wäre eine ganz neue und höchst interessante Route, allerdings « nur » zum Ostgipfel des Lhotse-Massivs. Immerhin!

Nach langem, mühsamem Anstieg gelangen wir gegen 14 Uhr zu einem alten Seeboden mit feinstem, beinahe weissem Sand. Zwei Stunden später schlagen wir zwischen dem « Island Peak » ( 6185 m ) und dem Imja-Gletscher unser Lager auf. Von dessen Moräne bekommen wir endlich den ersehnten Einblick in die Südhänge des Lhotse-Ostgrates und... welche Enttäuschung! Der Seitengletscher, der vom Grat herunterzieht, ist furchtbar steil, zerschründet und im unteren Drittel von Eisschlag auf das schwerste bedroht. Während wir hinaufschauen und abwägen, bricht hoch oben eine riesige Eislawine los, die alles überflutet. Also — nein! Senn und ich sind vollkommen einig. Es bleibt nichts anderes übrig, als im Herbst, wenn auch die zweite Staffel einsatzbereit ist, durch den berühmten Khumbu-Eisfall in das Westbecken zu gehen und die Route zu versuchen, die mir schon 1952 aufgefallen war: das grosse steile Couloir, das vom obersten Lhotse-Gletscher aus, rechts von den markanten drei Türmen, direkt zum Lhotse-Hauptgipfel hinaufzieht.

Inzwischen beginnt Erwin Schneider bereits mit der genauen Vermessung. Er berichtet darüber: « Das Gebiet ist für Photogrammetrie ideal und für einen Glaziologen geradezu begeisternd. Die Imja Khola ist eine riesige Schüssel, gegen deren Mitte etwa neun Gletscher radial fliessen. Im Norden steht die Nuptse-Lhotse-Mauer, deren gewaltige Höhe man zunächst gar nicht richtig ermessen kann. Lhotse I ist ja 8501 m, Lhotse II 8400 m hoch, und der Fuss dieser grossenteils senkrechten, stellenweise überhängenden Wand liegt bei 4800 m. Fast alle Gletscher werden von Lawinen gespeist; ihre Zungenenden sind in Schutt begraben. Die Grössenverhältnisse dieser Berge beginnt man zu begreifen, wenn eine Eislawine aus der Lhotse-Flanke herabstürzt: nur ein leises Rauschen und eine Eisstaubwolke, die klein und fast harmlos aussieht und doch ein ganzes grosses Kar erfüllt. Ob man den Lhotse vom Talboden ( 4500 m ) betrachtet oder von einem Standpunkt 1000 m höher -man hat gar nicht den Eindruck, dem Gipfel nähergekommen zu sein.

Ich war sehr gespannt, wie ich hier mit dem Vermessen beginnen würde, aber dieses Problem war rasch gelöst. Von einem auf der Moräne gelegenen Chorten, den ich gleich als Signal benützen konnte, sah ich Cho Oyu, Lhotse I, Lhotse II und Makalu, und zwar in einem Sektor von etwa 140°. Alle diese Gipfel sind nach Lage und Höhe trigonometrisch genau bestimmt, so dass ich von hier aus mein Dreiecksnetz entwickeln kann. Das Gestein ist grossenteils junger Granit, die Bergformen dementsprechend. So steile Wände habe ich noch niemals gesehen, auch nicht so viele praktisch unersteigbare Berge nebeneinander. » Während Erwin Schneider die Vermessung der Imja Khola fortsetzt, mache ich mit Ernst Senn und fünf Sherpas eine Exkursion über Lobuje zum Khumbu-Gletscher, also in das Gebiet, das mir von 1952 her noch wohlbekannt ist. Das wichtigste bergsteigerische Ereignis in diesen Tagen war die erste Bezwingung des Lho La ( etwa 6050 m ) von der nepalischen Seite. Die SSAF hat für diesen Pass die Bezeichnung Khumbu La vorgeschlagen, doch wurde diese Änderung eines seit 1921 eingeführten Namens von den Engländern strikte abgelehnt. Der Lho La zwischen Everest-Westgrat und Lingtren wurde bisher nur von Norden, d.h. vom tibetischen Rongbuk-Gletscher aus, erreicht, aber noch nie überschritten, weil die Steilwand gegen den Khumbu-Gletscher als allzu gefährlich galt. Über diesen Erfolg berichtet das Tagebuch von Ernst Senn:

« Als ich um 5 Uhr aus dem Zelt krieche, ist richtiges Sonntagswetter. Die Spitze des Pumori bekommt gerade den ersten Sonnenstrahl. Um 5.30 Uhr verlasse ich mit meinem Sherpa Pemba Sundar das Lager auf dem Khumbu-Gletscher. Da ich bereits gestern den Weg durch das Eislabyrinth erkundet habe, kommen wir schnell vorwärts und stehen schon nach einer Stunde am Lawinenkegel. In der Nacht ist hier eine Eislawine heruntergekommen; kleine und grosse Brocken liegen herum, und noch immer rieseln Eiskörner von oben nach. Schnell queren wir eine gefährliche Rinne und steigen schräg rechts über Platten bis zur ersten Schlüsselstelle, einer etwa 50 m hohen, fast senkrechten Wand, die mit Eiszapfen verziert ist. Gleich die ersten Meter flössen mir Respekt ein: senkrechte, z.T. überhängende Risse, und meine Finger sind steif vor Kälte. Zwei Haken habe ich schon geschlagen und stehe nun auf einem kleinen Absatz. Ein dritter Haken - Griffe und Tritte sind mit Wassereis überzogen. Nun kommt mein letzter Haken an die Reihe, und keuchend erreiche ich einen kleinen Felskessel. Pemba Sundar kann nachkommen, und er schafft es überraschend schnell. Auch was nun folgt, ist nicht leicht, doch um 8 Uhr haben wir die Felswand hinter uns und kommen an die Sonne. Jetzt gilt es, durch einen wilden Eisbruch den steilen Gletscher zu erreichen, der zum Lho La führt. Das harte Eis knirscht unter den Zwölfzackern, als wir uns zwischen zwei gigantischen Séracs emporarbeiten. Seillänge um Seillänge geht es höher, Spalten müssen überschritten werden, die Atempausen werden häufiger. Nun packt uns der Jochwind. Noch eine letzte grosse Spalte drängt uns ganz nach rechts gegen die Everest-Westschulter, und wir haben es geschafft: vor uns senkt sich ein sanfter Schneehang zum Rongbuk-Gletscher, wir stehen auf der tibetischen Grenze. 10.50 Uhr, es ist bitterkalt, aber die photographischen Aufnahmen müssen gemacht werden; dann sind wir zum Abstieg bereit. Die Knöchel schmerzen auf dem steilen Eis. Immer wieder muss ich die Trittsicherheit meines Sherpas bewundern. Um 13 Uhr kommen wir in die Felsen. In der schweren Wand oberhalb des Lawinenkegels müssen wir uns 30 m frei abseilen. Das ist Pemba offenbar nicht sehr behaglich, denn er hat sich noch nie in seinem Leben abgeseilt. Aber es geht alles gut, kurz nach 14 Uhr sind wir bei den Kameraden im Lager... » So weit das Tagebuch von Ernst Senn. Eine schöne Leistung von ihm und seinem treuen Seilgefährten Pemba Sundar, noch dazu in sehr guter Zeit. In dieser Nacht kracht das Eis unter uns wie Artilleriefeuer; wir werden uns im Herbst wieder daran gewöhnen müssen.

Das Thermometer sinkt auf —21und das am 22. Mai. Am nächsten Tage bringt uns ein langer Marsch zurück nach Dingboche.

Bis Anfang Juni konnte Erwin Schneider seine Aufnahmen des Imja Khola-Gebietes zu Ende führen. Im Verlauf dieser Arbeiten erstieg er « nebenbei » zwei Sechstausender -darunter den schon von den Engländern 1953 betretenen « Island Peak » ( 6185 mund drei Fünftausender, « aber was ist das schon, wenn daneben der Lhotse bis 8500 m aufragt », sagt Erwin selbst dazu. Dann setzte der Monsun der Photogrammetrie hier ein Ende. Darum beschlossen wir, nun im Gebiet Cho Oyu-Nangpa La zu arbeiten, wo der Monsun nicht so wetterwirksam zu sein pflegt.

Am 7. Juni brachen wir auf. Mit acht Sherpas und acht Kulis geht es über Chule und Lunak auf dem alten und noch jetzt viel begangenen Karawanenweg zum Nangpa La ( ca. 5800 m ), dem Pass, über den die Sherpas einst von Tibet nach Solo Khumbu einwanderten. 300 m unter der Passhöhe kommen wir auf Schnee und schnallen unsere Kurzskier ( 1,60 m ) an. Wahrscheinlich sind wir die ersten Bergsteiger, die diesen berühmten Pass mit Skiern queren. Auf der Nordseite gleiten wir mit Stockhilfe über die flachen Hänge des oberen Kyetrak-Gletschers zur rechten Seitenmoräne hinab und richten uns auf dem gleichen Platz ein, wo die Expedition Lambert im Herbst 1954 ihr Standlager hatte.

Während der nächsten Tage arbeite ich an meinem Sherpafilm, wobei die vorüberziehenden Karawanen mit Salz und Yakwolle aus Tibet willkommene Motive bieten. Da das Wetter in den Morgenstunden fast immer klar ist, kann Erwin diese Nordwestecke unserer Karte vollständig vermessen, wobei alle Standlinien und Vermessungspunkte über 6000 m liegen. Inzwischen besteigt der unermüdliche Senn drei Sechstausender, einen ( 6450 m ) mit Pemba, einen ( 6400 m ) mit Pemba und Gyaltsen, einen ( 6550 m ) allein. Zuletzt nehmen sich Erwin und Ernst sogar noch einen Berg von rund 7000 m vor, der nördlich des Cho Oyu liegt. Den Aufstieg machen sie zum grössten Teil auf Skiern, nur die letzten 150 Höhenmeter zu Fuss, da der Kamm sich hier zu einem scharfen Grat verschmälert. Die Abfahrt ist zunächst « sehr instruktiv » - Nebel, sehr wenig Platz, sehr schlechter Schnee, aber weiter unten werden Schnee und Sicht besser, so dass sie es wirklich laufen lassen können. Die Sherpas staunen nur so, als die Sahibs in Schussfahrten und Parallelschwüngen heruntersausen, eine äusserst genussreiche Skitour zwischen 6000 und 7000 m.

Für die Sherpas, die noch nie auf Skiern gestanden haben, sieht die Sache furchtbar einfach aus. Sie möchten es schrecklich gern selbst einmal versuchen. In dem beinahe ebenen Gelände am Nangpa La dürfen sie einmal die Skier anschnallen. Zwar fallen sie alle paar Schritte hin, aber es macht ihnen einen Riesenspass.

Zwischen unseren Kundfahrten bekamen wir mehrmals sehr willkommenen Besuch, zunächst von Michel Latreille, einem der beiden französischen Geologen aus dem benachbarten Baruntal, dann von Lionel Terray und Guido Magnone, die frisch vom Makalu-Gipfel kamen und uns das Neueste von dieser glänzend gelungenen Expedition erzählten, später auch noch von Norman Hardie, einem der Kangchendzönga-Sieger. Diese gute Kameradschaft zwischen den Expeditionen im Osthimalaya war wirklich erfreulich. Zusammen mit Terray und Magnone machten wir einen mehrtägigen « Familienausflug » nach dem berühmten Kloster Thami, wo wir Gelegenheit hatten, ein grosses Lamafest mit hochinteressanten Dämonentänzen zu sehen und in Bild und Ton festzuhalten.

Leider waren wir gezwungen, mitten im Monsun zu « zügeln ». Es ist in Solo Khumbu ein alter Aberglaube, dass Fremde nicht länger als zwei Monate am gleichen Orte bleiben dürfen, weil dort sonst nichts mehr wüchse. Wir mussten also in der letzten Juliwoche mit dem Transport all unserer Sachen nach Lobuje beginnen, einer Yak-Alp in fast 5000 m Höhe an der orographisch rechten Seite des Khumbu-Gletschers. Es ist die letzte Alm vor unserem künftigen Standlager. Obwohl Lobuje nur zwei Steinhütten und einige « Sangars » ( Schutzmauern gegen den Wind ) besitzt, wohnen hier während der Monsunmonate mehrere Yak-Hirten, die etwa hundert Tiere betreuen. Wir mussten uns also in unseren Zelten einrichten, was übrigens den Vorteil hat, dass es sehr viel sauberer ist als die Hütten der Eingeborenen. Ausserdem halten gute Zelte auf die Dauer dem Regen besser stand.

An das Zusammenleben mit den Yaks gewöhnen wir uns bald. So bedrohlich der erste Eindruck ist, wenn sie mit ihrem tiefen Brummen und Grunzen plötzlich aus dem Nebel auftauchen - es sind prachtvolle und ganz friedliche Tiere, wenn man sie zu behandeln versteht. Besonders reizend sind die jungen Kälber, die mit ihrem langen zottigen Fell fast wie Bernhardiner oder Neufundländer aussehen, dabei aber behend wie Gemsen die steilen Hänge hinauf- und hinunterrennen. Tagsüber werden sie von ihren Müttern getrennt gehalten; erst wenn diese gemolken sind, dürfen auch sie sich gütlich tun. Es ist jedesmal ein besonderes Vergnügen, die Kälber zu beobachten, wenn sie in Windeseile von der oberen Alp heruntergerast kommen, um ihre Mütter zu begrüssen und sich schnell einen Zvieri zu sichern.

Zwei Tage nach unserer Ankunft in Lobuje wurde die grosse Yak-Herde, die dem Kloster Thangboche gehört, heraufgetrieben. Unter den Hirten befindet sich eine sehr intelligent und sympathisch aussehende Frau mittleren Alters. Wir hörten bald, dass sie die Mutter des künftigen Grosslamas von Thangboche ist. Ihr Sohn, der als die Reinkarnation des verstorbenen Abtes gilt, ist jetzt etwa zwanzig Jahre alt und zur Zeit noch in Lhasa, wo er seine Studien beendet. Im Dezember soll er sein hohes Amt in Thangboche antreten. Es ist sehr schade, dass wir dieses grosse Fest nicht mehr miterleben werden.

Mehrmals versuchte ich, die Mutter des künftigen Grosslamas zu photographieren oder zu filmen, aber sie ist sehr scheu und duldet es ganz und gar nicht. Vor einigen Tagen stellte es sich heraus, dass ein Zahn ihr grosse Schmerzen verursachte. Unser derzeitiger « Arzt », Ernst Senn, sah, dass er unbedingt gezogen werden müsse. Erst als ich mich zum Schreiben an die Maschine setzte, also ganz bestimmt nicht photographieren oder filmen konnte, entschloss sie sich zu dieser kleinen Operation, die mit Hilfe unseres Koches Kirken in wenigen Minuten zufriedenstellend beendet war.

Die Höhepunkte unseres Daseins in der Monsunzeit sind die Posttage. Wir haben zwei Paar Postläufer. Das eine Paar schafft den Weg bis Kathmandu in acht bis zehn Tagen, das andere - von uns die « Postschleicher » genannt - braucht etwa fünf Tage länger. Heute, am 1. August, weht die grosse Schweizer Fahne vom Messezelt. Am späten Nachmittag unseres Nationalfeiertages kommen ganze Berge von Briefen mit allerlei guten Nachrichten. Da wird abends sogar die Rumflasche herausgeholt, und unsere angeregten Gespräche dauern bis in die späte Nacht.

Die ersten zwei Wochen in Lobuje regnete es fast ohne Unterbruch. Sobald das Wetter einmal nur für ein paar Stunden leidlich aussah, waren wir unterwegs - erkundend, filmend und photographierend. Am 6. August war es plötzlich strahlend schön - eine « föhnige Aufhellung ». Sofort machten wir uns daran, zusammen mit acht Sherpas die ersten Lasten zum Platz unseres künftigen Basislagers zu schaffen, und eröffneten den regelmässigen « Pendelverkehr »: An allen ungeraden Tagen gingen die Sherpas talabwärts nach Alp Tukla, um Brennholz zu holen, und an allen geraden Tagen trugen sie Lasten zum Standlagerplatz. Ende des Monats konnten wir endgültig dorthin übersiedeln.

Wir leben jetzt auf etwa 5300 m, schlafen aber trotzdem ausgezeichnet und sind mit unserer Akklimatisation recht zufrieden. Die Trasse durch den berüchtigten Khumbu- Eisfall kann schon nach wenigen Tagen eröffnet werden, aber leider schneit es zwischendurch immer wieder heftig, so dass die Route ständig neu gespurt werden muss. Auch macht uns die grosse Strömungsgeschwindigkeit des Eises viel zu schaffen. Eine Spalte verbreitert sich so stark, dass eine grosse Aluminiumleiter beinahe hineingefallen wäre. Wir müssen die Enden ausgraben und ein Stück ansetzen.

Am 16. September treffen, von uns freudig begrüsst, die Mannen der zweiten Staffel ein. Dann sitzen wir zu neunt - denn auch unser Verbindungsoffizier, Vaidya, ist nun wieder bei uns - etwas beengt, aber fröhlich in unserem Messezelt beisammen und haben uns viel zu erzählen.

Am 18. September gehe ich mit Spöhel und Spirig hinauf zu unserem Lager 1 ( 6150 m ), das 1952 Lager III war. Dann erkunden wir den Weg bis zur letzten grossen Querspalte, wobei wir weit nach links ausholen müssen, fast bis zum Hängegletscher, der von der Everest-Westschulter herabfliesst. Aber wir finden über die gefürchtete grosse Kluft einen guten Übergang; nur muss auch hier eine Aluminiumleiter gelegt werden. Damit ist der Weg ins Westbecken offen.

Am 22. September verlassen Erwin Schneider und Bruno Spirig das Standlager schon um 4 Uhr morgens, um womöglich noch vor dem Erscheinen der Sonne von Lager 1 auf Skiern abzufahren. Und tatsächlich schaffen sie es. Um 9 Uhr starten sie dort oben, und schon um 10 Uhr sind sie am Fusse des grossen Eisfalles angelangt. Mit Ausnahme des obersten Steilhanges und einer 30 m langen Strecke haben sie den ganzen Eisbruch durchfahren, wobei sie stets darauf achteten, die Aufstiegsroute nicht zu benützen, sondern höchstens gelegentlich einmal zu queren. Wenn man bedenkt, dass der berühmte Sirdar Ang Tharke seinerzeit zu Tensing gesagt hatte, es werde niemals gelingen, Lasten durch diesen furchtbaren Gletscherbruch in das Westbecken zu bringen, dann wird man verstehen, dass wir auf diese wohlgelungene Skiabfahrt stolz waren.

Um den Lhotse Durch « das Tal des Schweigens » führt unser Weg nach dem Platz, wo 1952 und 1953 Lager IV, das vorgeschobene Basislager, gestanden hatte. Dort errichteten wir unser Lager 2 ( etwa 6450 m ). Jetzt, in der ersten Oktoberwoche, schneit und stürmt es fast täglich. Jeden Tag hoffen wir, dass dies nun die letzten Zuckungen des Monsuns seien. Der Neuschnee bereitet uns unendliche Mühe, weil täglich neu gespurt werden muss; jede Nacht fallen 30 oder 40 cm frischer Schnee.

In dieser Woche erkrankt George Bell in Lager 2. Er fiebert hoch, und wir wissen, dass in solchen Fällen eine Lungenentzündung droht, was in grosser Höhe unmittelbare Lebensgefahr bedeutet. Darum dringe ich darauf, dass er ins Standlager zurückkehrt, wo sich sein Zustand auch tatsächlich bald bessert. Auch McGowan fällt vorläufig für mich aus, da er die Höhe noch nicht verträgt und sich nur langsam akklimatisiert. Es ist ein Glück, dass unsere Ultrakurzwellen-Apparate von Lager zu Lager meist recht gut funktionieren, was die Organisation dieser schwierigen und durch die häufigen Schneestürme behinderten Vorbereitungen wesentlich erleichtert.

Am 7. Oktober können wir bei etwa 7000 m unser Lager 3 errichten. Die kleine Moräne, wo Mingma Dorje im Herbst 1952 begraben wurde, bleibt links. Nun liegt der berühmte Bergschrund und auch der Lagerplatz V von 1952 unter uns. Der schöne Pumori überhöht uns nicht mehr sehr viel.

Auf der ersten grossen Terrasse des Lhotse-Gletschers hatten wir ein Depot von Zelten und Sauerstoffflaschen errichtet, doch eine Lawine hatte das Material verstreut, aber wir können fast alles wieder auffinden. Nun erstellen wir Lager 3 zwischen zwei grossen Spalten, vor Eislawinen geschützt. Dann gehen Senn, Spöhel und Pemba am zeitigen Nachmittag auf Erkundung, aber bald sind sie wieder zurück. Vier Meter über Senn brach ein Schneebrett los. Er konnte sich auf sicheren Boden retten, auch Spöhel stand auf festem Grund. Nur Pemba wurde mitgerissen, doch konnten die zwei Sahibs seinen Fall sofort aufhalten. Da obendrein heftiger Schneefall einsetzte, stiegen sie nach Lager 3 ab. Und wir hatten gedacht, der Monsun wäre endgültig vorbei!

Wir sind uns darüber einig, dass unser nächstes Lager wenn möglich auf die oberste Terrasse des Lhotse-Gletschers gestellt werden soll. Zunächst gilt es, die schwierige Eiswand oberhalb von Lager 3 mit Haken und Reepschnur so weit vorzubereiten, dass sie auch von beladenen Sherpas begangen werden kann. Das wird am 8. Oktober durchgeführt, während ich in Lager 3 filme und photographiere. Gegen 16 Uhr kommen die ersten Sherpas zurück, sichtlich müde, aber sehr zufrieden mit der Route und dem bergsteigerischen Können ihrer Sahibs. Ang Dawa überreicht mir einen Zettel von Senn: « Wir haben um 15 Uhr Lager 4 ( 7500 m ) erreicht - ohne ein Gramm Sauerstoff. Der Weg ist gut, besonders morgens, solange alles gefroren ist. » Wie Ernst Senn an einem Tage die ganze Lhotse-Flanke gangbar gemacht hat, das ist schon grossartig.

Am 9. Oktober ist es so kalt und windig, dass ich die Sonne abwarte und erst um 10 Uhr mit mehreren Sherpas auf breche, um weitere Lasten nach Lager 4 zu bringen. Ich gehe mit Sauerstoff und kann ein gutes Tempo halten. Die Spur ist allerdings fast völlig verweht, und an verschiedenen Stellen muss ich neue Stufen schlagen. Um 13.30 Uhr haben wir es geschafft. Es werden weitere Zelte aufgestellt, und abends sitzen wir noch eine Weile bei heissem Tee beisammen. Es kommt mir ganz unwirklich vor, dass wir nach langer Wartezeit nun endlich so weit sind, den Angriff versuchen zu können.

Meine erste Nacht auf etwa 7500 m. Ich fühle mich ausgesprochen wohl. Noch ist es windstill, ein klarer Sternhimmel spannt sich über Everest und Lhotse.

Am Morgen des 10. Oktober ist es leider wieder kalt und windig, aber ganz klar. Um 8 Uhr ist die Spitzengruppe zum Abmarsch bereit. Langsam gehen sie aufwärts, und ich filme sie, so gut es mit den steifen Fingern geht. Dann nehme ich Radioverbindung mit Lager 2 auf, denn von dort aus können Beckey und Spirig den Fortschritt unserer Kameraden mit dem Glase gut beobachten. Sie kommen nur sehr langsam vorwärts und sind gegen 14 Uhr wieder bei mir in Lager 4. Nach ihrem Bericht sind sie nur bis in eine Höhe von etwa 7800 m gelangt, weil die Steilhänge mit knietiefem Pulverschnee oder Bruchharsch sie aufgehalten hätten, auch sei die Schneebrettgefahr gross. Die Verhältnisse sind ganz winterlich. Es ist unbedingt nötig, ein Lager 5 auf der höchsten Lhotse-Terrasse aufzustellen.

In den nächsten Tagen tobt schwerer Schneesturm; es ist nicht einmal möglich, die Verbindung zwischen Lager 2 und 3 aufrechtzuerhalten. Erst am 14. Oktober bessert sich endlich das Wetter, und nun brechen Senn und Spöhel mit vier Sherpas auf und errichten bei ca. 7700 m das neue Lager 5. Um 16.30 Uhr meldet mir Senn durch das Radio, dass alles in Ordnung sei, er hoffe auf einen schönen, windstillen Tag für den morgigen Gipfelangriff.

15.Oktober: Die Nacht ist ziemlich ruhig. Um 9 Uhr spreche ich mit Beckey im Lager 2, der wieder den Aufstieg mit dem Glase beobachtet: « Senn voraus, 20 m dahinter Spöhel, dann die beiden Sherpas. Alles scheint in Ordnung zu gehen. » 10 Uhr: « Oberhalb des Gelben Bandes haben sie haltgemacht, als ob sie etwas suchten. » 11 Uhr: « Nur einer steigt auf, die andern drei sind immer noch am gleichen Ort. » 12 Uhr: « Senn steigt weiter auf, allerdings sehr langsam. Die andern sind im Abstieg. » Am Nachmittag höre ich von dem zurückgekehrten Spöhel die traurige Geschichte: Trotz der grossen Kälte brachen sie um 7.30 Uhr auf. Oberhalb des Gelben Bandes suchten sie nach den dort deponierten acht Sauerstoffflaschen, die aber infolge der starken Schneeverwehungen der letzten Tage trotz aller Mühe unauffindbar blieben. Doch Ernst Senn wollte nicht aufgeben und versuchte es im Alleingang. Spöhel gab ihm seine unbenutzte Flasche, so dass Senn nun drei frische Sauerstoffzylinder hatte. So arbeitete er sich noch ein gutes Stück empor, doch in einer Höhe von etwa 8100 m musste er sich die Maske vom Gesicht reissen, um nicht zu ersticken - das Gerät hatte versagt! So musste er sich noch vor dem Einstieg in das Couloir zum Rückzug entschliessen. Er blieb aber in Lager 5, um bei günstigem Wetter doch noch einen Besteigungsversuch zu unternehmen.

Als Expeditionsleiter muss ich mich fragen, ob Senn und Spöhel noch die erforderliche Spannkraft haben. Soll ich die zweite Mannschaft einsetzen? Auch ich spüre bereits nach all diesen Tagen in einer Höhe von 7500 m den Kräfteverfall sehr deutlich, und von unseren Sherpas sind mehrere krank. Ehe wir an einen neuen Angriff denken können, müssen frische Sauerstoffflaschen, Proviant und Brennstoff heraufgebracht werden.

In der Nacht zum 17. Oktober und den ganzen folgenden Tag wütet ein wilder Sturm. Dass die Zelte bisher standgehalten haben, ist ein Wunder, aber nun hat das Sherpa-Zelt einen grossen Riss. Die Verbindung zu Lager 5 ist unterbrochen, obgleich es dringend nötig wäre, allerlei zu Senn hinaufzuschicken. Auch bei uns in Lager 4 wird es knapp, und unser Nachtessen ist recht bescheiden. Wo bleibt nur in diesem Jahre die Schönwetterperiode nach dem Monsun? Eine Sturmnacht folgt der andern, auch die nächste ist entsetzlich. Trotzdem erklären sich vier Sherpas bereit, mit dem Nötigsten nach Lager 5 aufzusteigen. Während sie sich fertigmachen, verschlimmert sich das Wetter derart, dass ich ihnen durch den heulenden Sturm zubrüllen muss, sie sollten in ihrem Zelt bleiben. So vergeht ein weiterer Tag. Die nächste Nacht ist die wildeste von allen. In den grauen Morgenstunden fasse ich den Entschluss, morgen nach Lager 2 abzusteigen, bevor ich hier oben in dem pausenlos rüttelnden Zelt und im Toben des Sturmes den Verstand verliere. Auch Senn und Spöhel sollen absteigen. Wir sind an der Grenze dessen, was ein Mensch aushalten kann.

Doch am 19. Oktober meldet Spirig durch das Radio, dass drei Sherpas mit Lasten zu uns unterwegs sind. Da macht sich Spöhel mit sieben Sherpas bereit, trotz dem anhaltenden Sturm, Lasten nach Lager 5 zu schaffen. Gegen 13 Uhr höre ich plötzlich das Knirschen von Steigeisen im Schnee. Es ist Ernst Senn, der nach fünf einsamen, sturmumtobten Nächten in Lager 5 endlich heruntergekommen ist. Ich ziehe ihn in mein Zelt herein. Er ist gänzlich « fertig », körperlich und auch mit seinen Nerven. Nicht viele hätten so lange dort oben ausgehalten! Nun bedeutet mein Zelt - sturmgeschüttelt und wahrhaftig kein wohnlicher Ort - schon eine Sicherheit; es ist ein Mensch da, ein Freund, mit dem er sprechen kann. Da treten diesem eisenharten Manne plötzlich Tränen der Entspannung und Rührung in die Augen. Ich bereite schnell heisse Limonade für ihn, und allmählich erholt er sich und erzählt: Nach vier einsamen Nächten in Lager 5 hatte er absteigen wollen, aber in dem wilden Sturm war es ihm nicht gelungen, aus seinem kleinen Gipfelzelt herauszukommen, der Eingang war völlig verweht. Heute vormittag aber riss der Sturm die eine Zeltseite ganz auf, so dass ihm keine Wahl mehr blieb. In dieser entsetzlichen Lage musste er sein Zeug zusammensuchen, seine Steigeisen anschnallen und den Weg nach Lager 4 durch das Toben der Elemente und über die Eiswände des obersten Lhotse-Gletschers hinunter finden.

Später treffen Spöhel und die Sherpas ein; sie haben die Lasten bei Lager 5 abgelegt. Wir drei Sahibs hocken bei zunehmender Dunkelheit in meinem Zelt, der Sturm ist zum Orkan angewachsen, der Schnee prasselt an die Wände unserer winzigen Behausung in dieser weissen Hölle. Morgen wollen wir versuchen abzusteigen.

20.Oktober: Die Nacht war fürchterlich. Erst gegen Mittag sind wir zum Abstieg bereit, denn es dauert lange, bis wir in dem engen Raum, den uns der lastende Schnee in den Zelten gelassen hat, unser Zeug zusammengepackt haben. Jeder von uns trägt einen schweren Rucksack, auch unsere drei Sherpas haben grosse Lasten. Die Steigeisen werden angelegt, wir seilen uns an, ein letzter Blick auf unsere verlassenen Zelte - los! Sehen kann man überhaupt nichts. Die Route ist schwer zu finden, der Sturm droht uns aus den Stufen zu heben. Beim Warten auf die langsamer gehenden Sherpas erstarrt man fast. Endlich tauchen sie auf. Plötzlich rutscht der in der Mitte gehende Chotari aus, überschlägt sich und schiesst kopfüber den Steilhang hinab. Chowang, der letzte, wird mitgerissen, überschlägt sich infolge seiner schweren Last ebenfalls und saust dem Abgrund zu. Phu Dorje hat geistesgegenwärtig den Pickel eingerammt, das Seil herumgelegt, und - er kann den Ruck abfangen. Spöhel und ich eilen zu Chotari hinüber, der uns am nächsten mit dem Kopf nach unten hängt und leise stöhnt. Mit vereinten Kräften gelingt es uns, ihn von seiner Last zu befreien und wieder auf die Beine zu stellen. Er braucht eine Weile, sich von diesem Schock zu erholen. Auch Chowang ist unverletzt. Wir überlegen: die Sicherheit von Lager 2 wäre schön, aber die Gefahr, bei einer Fortsetzung des Abstiegs in diesem unsichtigen Wetter ein Schneebrett abzutreten, ist allzu gross. Also wieder hinauf, trotz Sturm, schweren Rucksäcken und dem Widerstand der Sherpas. Glücklich oben angelangt, bin ich kaum noch fähig, mir die Steigeisen abzuschnallen. So ernst unsere Lage auch ist, in unseren Zelten fühlen wir uns halbwegs geborgen.

21.Oktober: In der Nacht hat der Schneesturm mein Zelt halb eingedrückt, die Aluminiumstangen knirschen verdächtig. Aber heute früh ist es endlich einmal klar, also beeilen wir uns mit dem Packen unserer Sachen. Sobald gegen 10 Uhr die Sonne wenigstens eine Illusion von Wärme vermittelt, brechen wir auf. Sehr langsam und vorsichtig bewegen wir uns abwärts, wir sind zu Tode erschöpft, und der Sturm versucht immer wieder, uns aus den Stufen zu werfen. Es dauert eine Ewigkeit, bis wir das fixe Seil am letzten Steilhang erreichen, dann die Traverse nach links, ein Sprung mit fast versagenden Beinen über eine gewaltige Spalte, und wir sind in Lager 3! Spirig und Beckey empfangen uns, die Sherpas sind rührend bemüht, uns behilflich zu sein. Wir fühlen uns wie aus dem Jenseits zurückgekehrt. Ich glaube kaum, dass unsere Kameraden hier « unten » sich vorstellen können, was wir in diesen langen Tagen und Nächten da oben durchgestanden haben.

Nun wollen Spirig und Beckey hinauf, während wir weiter absteigen. Die Sonne ist schon lange hinter dem Nuptse-Grat verschwunden, als wir taumelnd in Lager 2 anlangen. Ich bin gerührt und voll Bewunderung, als Chowang und Pemba, die schon so viel durchgemacht haben, sich freiwillig dazu melden, morgen nach Lager 5 aufzusteigen und Sauerstoff am Eingang in das Couloir zu deponieren. Dann versinken wir in Schlaf, traumlosen Schlaf, endlich einmal, ohne vom Sturm wachgerüttelt zu werden.

23.Oktober: Früh sehen wir zur Lhotse-Flanke hinauf, aber es rührt sich nichts, nur der Wind fegt den Schnee über die Grate. Um 9 Uhr spreche ich mit Lager 5: die Nacht war sehr stürmisch, und auch jetzt weht es noch so stark, dass sie im Lager bleiben müssen. Doch wollen sie noch den nächsten Tag abwarten. Ich lasse nun den wiederhergestellten George Bell nach Lager 4 ( 7500 m ) und McGowan nach Lager 3 ( 7000 m ) gehen, damit jedes Lager mit einem Sahib besetzt ist. An den Graten hangen riesige Schneefahnen, es sieht für morgen nicht sehr vielversprechend aus. Sind die Monsunstürme in diesem Jahre wirklich ohne Unterbruch in die Winterstürme übergegangen?

24.Oktober: Wieder spreche ich um 9 Uhr mit Lager 5. Dort tobt der Sturm derartig, dass niemand schlafen konnte. Alle sind vollkommen erschöpft, auch hält Spirig es für ganz unmöglich, bei dieser Kälte die Sauerstoffflaschen auszuwechseln. Mit dem Dräger-Gerät kann man nur auf anderthalb Stunden pro Flasche rechnen, so dass man mit dem Drei-flaschen-Gerät bereits nach viereinhalb Stunden Ersatz braucht. Also bin ich dafür, den Lhotse aufzugeben und alle Lager zu räumen.

Kurz vor 13 Uhr bemerke ich acht Mann im Abstieg, vier von Lager 5 nach 4 und die andere Vierergruppe von Lager 4 nach 3. Also haben sich alle zum Abstieg entschlossen. Merkwürdig ist nur, dass alle Zelte noch stehen, was gar nicht nach einer Räumung aussieht. Allerdings habe ich der Spitzengruppe auf ihren Wunsch freigestellt, noch einen Versuch zu unternehmen, falls sie glaubt, ihn verantworten zu können.

Plötzlich kommt es mir so vor, als ob in der oberen Gruppe nur noch drei Punkte zu sehen seien, unten zwei Sherpas am Seil und oben nur ein Sahib. Dann sehen wir, wie dieser in grosser Eile den Steilhang hinunter und am Lager 4 vorbei bis zu den beiden Sherpas läuft, die ihre Lasten abstellen und sofort den Steilhang wieder hinaufgehen. Der vermisste Vierte wankt den Sherpas entgegen, diese nehmen ihn zwischen sich, geleiten ihn nach Lager 4 und bringen ihn in meinem alten Zelt unter. Was kann nur geschehen sein? Am meisten wundert uns, dass nun die übrigen drei nach Lager 3 absteigen. Wir sind sehr aufgeregt und wissen nicht, was wir davon halten sollen.

Im Laufe des Nachmittags treffen Bell und McGowan mit ihren Sherpas hier ein. Sie sind von einer bösen Nacht in Lager 4 vollkommen erschöpft. Am Morgen war das Sherpa-Zelt zerfetzt, und seine Insassen lagen mitten im Schnee. Daher war niemand imstande, von Lager 4 nach 5 hinaufzusteigen, um bei der Räumung zu helfen.

Am späten Nachmittag bekomme ich endlich Beckey in Lager 3 ans Radio. Er berichtet, dass Spirig nach einer schlechten Nacht in Lager 5 und einer plötzlich eintretenden Schneeblindheit beim Abstieg einen Schwächeanfall erlitten habe. Darum habe er ( Beckey ) rasch die beiden Sherpas geholt, die schon etwas unter Lager 4 waren. Die Sherpas hätten Spirig nach Lager 4 geleitet und in meinem alten Zelt untergebracht. Ich mache Beckey ernste Vorwürfe, dass er Spirig allein oben gelassen habe und nach Lager 3 abgestiegen sei. Das sei uns allen ganz unverständlich. Heute noch jemanden hinaufzuschicken, dazu ist es jetzt allerdings zu spät. Senn und ich sind uns rasch darüber einig, dass wir morgen in aller Frühe aufsteigen wollen, um zusammen mit den noch aktionsfähigen Sherpas Spirig abzutransportieren. Es ist für uns eine schrecklich sorgenvolle Nacht.

25.Oktober: Wir nehmen Reserveseile und Zweiski-Verschraubung für einen Rettungsschlitten mit und sind bereits um 8.30 Uhr in Lager 3. Es ist bitter kalt, und meine Füsse sind wie Eis. Wir müssen uns erst ein wenig erwärmen, bis es weiter geht, und diesmal ohne Sauerstoff, denn alle Apparate liegen ja oben in Lager 5. Senn mit ein paar Sherpas geht voraus. Sobald meine Füsse wieder etwas Gefühl haben, legen wir die Steigeisen an. Als zweite Seilschaft gehe ich mit Beckey und Ang Dawa. Ich gehe voraus und schlage ein gutes Tempo an, so schnell es in dieser Höhe ohne Sauerstoff geht. Der Sturm, der vom Everest über den Genfer Sporn hinwegfegt, fasst uns mit voller Kraft und droht uns mehrmals aus den Stufen zu heben. Bei besonders heftigen Böen müssen wir mit abgewandtem Gesicht warten, bis wir uns wieder weiterbewegen können. Trotzdem brauchen wir nur eineinhalb Stunden von Lager 3 nach 4; das letzte Mal hatte es dreieinhalb Stunden gedauert.

Lager 4 sieht trostlos aus, zwei zerfetzte Zelte flattern im Sturm, zum Teil unter Flugschnee begraben. Mühsam erklimmen wir die letzten paar Meter. Am Sherpazelt vorbeigehend sehe ich, dass die Träger sich dort alle zusammendrängen. Dabei ist es aufgerissen, und der Wind pfeift unbarmherzig durch das Gestänge. Ich rufe zu meinem alten Zelt hinüber, Ernst Senn antwortet sofort, und zu meiner grössten Erleichterung höre ich auch die Stimme von Bruno Spirig durch das Heulen des Sturmes. Er kann kaum sehen, hat sich die Augen verbunden und musste eine sehr kalte und einsame Nacht durchhalten, aber zum Glück hat er keine Erfrierungen.

So rasch wie möglich machen wir uns für den Abstieg bereit. Alles, was wir bergen können, wird zusammengepackt und unter die Sherpas verteilt. Die Zelte müssen zurückbleiben. Trotz der Kälte versuche ich, unseren Abmarsch zu filmen, wobei meine Hände vollkommen gefühllos werden. Dann seilen wir uns an: Beckey geht voraus, um Bruno zu führen und ihm über die steilen Stellen hinwegzuhelfen. Unmittelbar hinter Bruno geht Ernst Senn, der ihn am ganz kurzen Seil hält. Ich bin etwa 10 m weiter hinten als « Anker-mann » bei einem etwaigen Sturz. Die Sherpas lassen wir vorausgehen, dann brechen auch wir auf. Wir kommen nur langsam vorwärts, aber die Steigeisen greifen gut, und Bruno tut sein Möglichstes. Je tiefer wir kommen, desto schwächer wird der Sturm. Von Zeit zu Zeit muss gerastet werden. Nun sind wir am fixen Seil - Traverse nach links, Sprung über die Spalte, wobei Bruno doppelt gesichert und am Seil herübergerissen wird. Ein herrliches Gefühl von Erleichterung und Dankbarkeit erfüllt uns, als wir glücklich in Lager 3 sind.

Hier setzen wir den Rettungsschlitten zusammen, Bruno wird warm eingewickelt und festgeschnallt, dann beginnt der mühselige Transport nach Lager 2. Zwei Mann gehen voraus, und vier bis fünf halten den Schlitten zurück, was in den Steilstufen recht anstrengend ist. Weiter unten kommen uns Sherpas aus Lager 2 entgegen, so dass das letzte Stück in Windeseile zurückgelegt wird. Es war ein schwerer Tag, aber - alles ist gut abgelaufen, und jetzt liegt Bruno Spirig wohlversorgt in seinem Zelt und erholt sich rasch.

Die Lhotse-Flanke ist geräumt, wenn auch leider oben in Lager 5 viel wertvolles Material zurückbleiben musste. Aber was bedeutet das schon? Alles ist heil in Lager 2!

Der 27. Oktober ist unser letzter Tag im Westbecken. An allen Graten hangen kilometerlange Schneefahnen. So fällt uns der Abschied von dieser unwirtlichen Gegend nicht schwer. Alles wird zusammengepackt, die Sherpas haben Riesenlasten, aber auch Ernst und ich tragen gewaltige Rucksäcke. Bruno ist schon voraus und wartet in Lager 1 auf uns. Gemeinsam treten wir am 40-m-Seil den Abstieg durch den Bruch an. Der Eisfall hat sich in den letzten Wochen vollkommen verändert, Spöhel hat schon die notwendigen Routenänderungen gemacht. Beim ehemaligen Lager II ( 1952 ) sieht es so aus, als sei alles durch Bomben verwüstet worden. Aber es geht gut, und gegen 16 Uhr sind wir im Standlager, wo es warm und windstill ist und unser Koch Kirken uns mit Tee und Kuchen empfängt.

Natürlich sind wir über unseren Misserfolg am Lhotse traurig, und der Weg zurück ins Leben war recht beschwerlich. Aber die Freude, ohne alle Verluste wieder hier unten zu sein, lässt uns das beinahe vergessen. Das Leben ist wieder gut zu uns, wir sind von Dankbarkeit erfüllt.

Die fruchtbarste Arbeit von uns allen hat Erwin Schneider geleistet. In den Wochen, die wir im Westbecken und an der Lhotse-Flanke verbracht haben, hat er unermüdlich weiter vermessen: Khumbu-Gletscher, Chola Khola und das ganze Einzugsgebiet des Dudh Kosi mit seinen wundervollen Gletscherphänomenen, er hat herrliche Landschaftsaufnahmen gemacht, Bilder, die jeden Glaziologen entzücken werden, und nebenbei eine Mengel Gipfel -Fünftausender und Sechstausender - bestiegen, teils im Alleingang, teils mit seinen Sherpas.

Am 28. Oktober sind wir alle eifrig dabei, die Post für unseren Kurier bereitzumachen. Unsere Familien sind sicher schon in grosser Sorge, da sie gerade in dieser kritischen Zeit so lange nichts von uns gehört haben.

Am 29. Oktober steigen Spöhel, Senn und ich mit zwei Sherpas am Südostsporn des Pumori bis 6150 m hinauf, noch etwa hundert Meter höher als seinerzeit im November 1952. Es gilt, das berühmte Panorama der eigentlichen Everest-Gruppe, vielleicht die grossartigste Berglandschaft der Welt, photographisch und filmisch festzuhalten. Heute haben wir Glück, das Wetter ist geradezu ideal. Wir gehen bis dicht unter die Eiswülste, welche die zwar schwierige, aber technisch mögliche Route auf den Pumori bedrohen - der denkbar beste Standpunkt für unsere Zwecke. Senn quert sogar etwa vierhundert Meter nordwärts in die steile und gefährliche Flanke hinein, um für Erwins Karte eine Standlinie zu erstellen.

Vier Stunden lang arbeiten wir angestrengt mit unseren sämtlichen Kameras. ( Nachdem inzwischen unser gesamtes Photomaterial entwickelt worden ist, haben wir die grosse Freude, dass uns sowohl in Schwarzweiss als auch in Farbe und in verschiedenen Formaten und Brennweiten herrliche Aufnahmen geglückt sind. ) Um 16 Uhr sind wir wieder im Standlager, müde, aber hoch befriedigt. Inzwischen ist unser Sirdar Pasang Phutar mit 50 Trägern aus Namche Bazar eingetroffen; die Lasten für den nächsten Tag werden bereitgestellt.

Der letzte Abend im Standlager, am Fusse des Khumbu-Eisfalles. Noch lange nach Sonnenuntergang sitze ich einsam auf einem Felsen über unserem Lager, glücklich, dass es nun der Heimat zugeht, und doch auch wehmütig. Harte Wochen und Monate liegen hinter uns, trotzdem ist es ein schwerer Abschied...

Am 30.Oktober wird es schon sehr früh bei uns lebendig: die Kulis bekommen ihre Lasten zugeteilt, und kurz nach 9 Uhr verlassen wir das Standlager. Ein letzter Blick ins Westkar hinauf - an allen Graten hangen riesige Schneefahnen, in den Gipfelfelsen des Everest heult der Sturm! Eine lebensfeindliche Gegend in dieser Jahreszeit - höchste Zeit, dass wir fortkommen.

Der Weg nach Phalong Karpo wird zu einer reinen Freude, sobald man den Blockgletscher verlässt. Endlich wieder auf weichem Moos zu wandeln und Blumen zu sehen! Es geht vorbei an den schönen Yak-Almen von Lobuje und Tukla, wo wir so viele Monsun-wochen verbracht haben. Alte vertraute Freunde wie Cholatse, Taweche, Ama Dablam, Kangtega und andere stolze Gipfel grüssen uns im Abendlicht. Wir schlendern durch dieses Bergsteigerparadies wie Kinder, restlos glücklich, wieder in die Wärme des Lebens zurückzukehren. Das Herz ist mir voll, die Enttäuschung am Lhotse liegt hinter mir. Ein letzter Blick zurück, dann hinab in die Chola Khola. Bald sind wir bei den Steinhütten von Phalong Karpo. Ein prächtiger Lagerplatz, gutes Nachtessen und traumloser Schlaf. Oben in der Lhotse-Flanke hätte ich es kaum für möglich gehalten, dass uns das Leben noch einmal so viel Gutes bieten könnte.

Am 31. Oktober bringt uns ein leichter Tagesmarsch nach Thangboche. Der Weg ist herrlich, die Berge rundum strahlen in einmaliger Schönheit. Allerdings schmerzen uns beim Bergabgehen die Zehenspitzen, Nachwehen der leichten Erfrierungen, die wir am Berg erlitten haben; aber auch das wird vorübergehen. Immer wieder blicke ich zum Lhotse und Everest zurück, an denen wieder kilometerlange Schneefahnen hangen. In dieser Entfernung sehen sie harmlos aus, aber bei dem blossen Gedanken, jetzt dort oben stehen zu müssen, krampft sich einem das Herz zusammen.

Am frühen Nachmittag langen wir in Thangboche an, dem « schönsten Ort der Welt », wie Sir John Hunt ihn genannt hat. Hier verbringe ich die nächsten zehn Tage mit Filmen und Photographieren. Schneider und Senn gehen schon Richtung Kathmandu voraus, um -einer Anregung von Dr. Toni Hagen folgend - im Those-Tal, dem Eisenerz-Zentrum von Nepal, für die nepalische Regierung eine Karte photogrammetrisch aufzunehmen. Den amerikanischen Kameraden stelle ich einige Sherpas zur Verfügung, so dass sie noch verschiedene Kundfahrten und eine schöne Erstersteigung machen können. Auch sie bringen eine gute photographische Ausbeute heim.

Am 14. November machte sich unsere Karawane in Namche Bazar auf den Weg nach Kathmandu. Für gewöhnlich rechnet man mit 16 Tagesmärschen, aber wir waren schon spät daran und mussten versuchen, die Strecke in 12^2 Tagen hinter uns zu bringen. In Banepa holten wir Schneider und Senn ein, die inzwischen ihre Arbeit im Those-Gebiet fertigstellen konnten. Zwei Jeeps und ein Lastauto brachten uns, die Träger und das Gepäck von Banepa nach Kathmandu.

In den nächsten Tagen konnten sich meine Kameraden damit beschäftigen, die phantastischen Tempel und Sehenswürdigkeiten der alten Mallastädte Badgaon, Pathan und Kathmandu zu besichtigen und zu photographieren. Ich selbst musste leider den grössten Teil der Zeit in den verschiedenen Regierungsbureaus verbringen, um uns und unser Gepäck für den kommenden Zollkrieg in Indien vorzubereiten. Zu meiner Freude fand ich bei den nepalischen Behörden grösstes Verständnis und Hilfsbereitschaft.

Am 2. Dezember verliessen wir dieses herrliche, gastfreundliche Land. Nachdem in Bombay mit dem Zollamt alles friedlich geregelt werden konnte, brachte mich am 9. Dezember eine Super-Constellation der « Air India » nach Zürich-Kloten. Meine Freunde, die mehr Zeit zur Verfügung hatten, konnten die Heimreise mit der « Victoria » machen, was ihnen auch noch einen kurzen, aber eindrucksvollen Besuch in Kairo erlaubte.

Nun sind wir daran, die Ergebnisse der I.H.E. 1955 auszuwerten und zu verarbeiten. Naheliegend ist die Frage: Hatte es einen Sinn, für so lange Zeit in den Himalaya zu gehen? Muss unsere Expedition als missglückt betrachtet werden, da sie ja den Gipfel des Lhotse nicht erreichte? Ich glaube nicht. Die Erstersteigung des Lhotse war ja nicht unser einziges Ziel. Die Karte, Filme und photographische Arbeiten waren nicht weniger wichtig - ganz abgesehen von zahlreichen bisher unbestiegenen kleineren Gipfeln. Fassen wir unsere Ergebnisse ganz kurz zusammen:

1. Bergsteigerisch: 31 Gipfel zwischen 5500 und 7000 m, zum allergrössten Teil Erstbesteigungen. Erste Bezwingung der nepalischen Steilwand des Lho La ( 6050 m ) zwischen Everest-Westschulter und Lingtren. Erster Angriff auf den Lhotse mit Erreichung einer Höhe von etwa 8100 m.

2. Kartographie: Aufnahme der ersten stereophotogrammetrischen Karte der nepalischen Seite des Everest-Gebietes bis zum Cho Oyu im Auswerte-Maßstab 1: 10 000. Natürlich braucht es jetzt noch einige Zeit, bis die Ergebnisse der Feldarbeit ausgerechnet sind und bis die Karte im Maßstab 1 :50000 oder 1 :25000 ( je nach dem zur Verfügung stehenden Geld ) gezeichnet werden kann. Kartierung des Those-Tales, des wirtschaftlich wichtigen Eisenerzgebietes von Nepal.

3. Photographie: Mehr als 10000 Aufnahmen in Schwarzweiss und Farbe, in Formaten von 24 x 36 mm ( Leica ) bis zu 13 x 18 cm ( Topo-Platten ). Es wurden nicht nur die Berge ausgiebig im Bilde festgehalten, sondern auch die Bevölkerung von Solo Khumbu, ihre Sitten und Bräuche und das Leben in den Lama-Klöstern.

4. Kulturfilme: Neuntausend Meter lo-mm-Commercial-Kodachrome wurden belichtet. Dieses Material soll zu sechs oder sieben verschiedenen Filmen verarbeitet werden:

« Ein Sherpaleben » - « Namche Bazar, Heimat der Sherpas » - « Sherpa-Tanz » - « Die Lamas von Thangboche » - « Lama-Tänze in Thami » - « Monsun im Himalaya » -«Kampf um den Lhotse » Für diese Filme wurden Tonaufnahmen auf Magnetband gemacht.

Wir sind uns alle einig, dass der Herbst für die Besteigung der allerhöchsten Achttausender keinesfalls empfehlenswert ist. Vor allem Arthur Spöhel und ich, die wir die Nachmonsunzeit im Westkar nun schon zweimal « genossen » haben, sind hierfür Experten. Bei einem der « kleinen » Achttausender, z.B. beim Cho Oyu, kann es ausnahmsweise einmal gelingen. Aber die Berge über 8400 m sind einfach zu hoch, die Gefahr frühzeitig einsetzender Herbst- und Winterstürme ist allzu gross. Auch die sehr kampfkräftige französische Mannschaft der Herbstexpedition 1954 musste am Makalu in 7800 m Höhe aufgeben. Leider hatte ich aber 1955 keine Wahl: ich musste den Lhotse im Herbst angehen, da uns die Einreisebewilligung zu spät für eine Frühjahrsexpedition erreichte.

Der Lhotse ist sicher einer der schwersten Achttausender, aber in der Vormonsunzeit sollte eine bergsteigerisch starke und himalayaerfahrene Mannschaft bei guter Organisation und Führung den ersehnten Erfolg haben. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre weiss man ja genau darüber Bescheid, welche Ansprüche an eine wirklich erstklassige Ausrüstung gestellt werden müssen. Von ganz besonderer Bedeutung ist, dass die Sauerstoffgeräte dem heutigen Stande der Technik entsprechen und einen einfach zu regulierenden Gasstrom ohne allzu grossen Atemwiderstand liefern.

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