Die Lawine in der Sage
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Die Lawine in der Sage

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON E. ROHRER

« Es ist nicht der Sinn des Glaubens, wahr zu sein. » « Wer die Dichtung will verstehen, muss in Dichters Lande gehen. » Dieses Goethewort ist wohl nirgends zutreffender als bei den Sagen. Wie fremd und unwahrscheinlich sprechen uns die Erzählungen ferner Länder an und wie sind wir entrüstet, falls jemand die unsrigen nicht glauben oder verstehen kann. Sagen können nur dort richtig und vollumfänglich verstanden werden, wo sie geglaubt werden und entstanden sind.

Die Lawinensagen sind im winterlichen Gebirge, den abgeschlossenen Tälern, in einsamen Viehställen und Hütten, eingeschneiten Siedlungen, durch den einzelnen, im Hochwinter sich selbst überlassenen Säumer, Wanderer oder Hirten entstanden. Sie beruhen auf Erlebnissen, und vielfach sind sie deshalb stark lokal gebunden. Um sie richtig verstehen zu können, muss man das Leben und die Psyche der Erzähler, dieser einfachen Naturtypen, kennen.

Wochen-, oft monatelang sind die Bergbauern abgeschlossen von der übrigen Welt, und diese Abgeschiedenheit vom Verkehr mit andern Menschen formt ihre Art. Eng, auf Gedeih und Verderb allein mit der Natur verbunden, sind sie selbst vielfach ein Stück ursprüngliche Natur. Die Erlebnisse bzw. deren dauernde Anhäufung formen ihren Typus. Die laufenden Ereignisse und Veränderungen der Natur beherrschen sein ganzes Denken. Ein jedes Einzelerlebnis kann aber nur unter Zuzug früherer Erlebnisse oder bisheriger Erfahrungen ausgewertet werden, und je nach dem Ausmass und der Art dieser Mittel wird man damit fertig. So wird es klar, dass jede Generation ihrerseits die Probleme anders sieht als die vorhergehende, weil ihr eben meist auch andere Mittel zur Verfügung stehen, und darum werden die nämlichen Erscheinungen im Laufe der Zeit sehr verschiedenartig interpretiert.

Ich halte es für wichtig, zu betonen, dass die Sagen nicht irgendwie intellektuell durchdacht sind, sondern allein auf Erfahrungen fussen und durch das Milieu des Erzählers beeinflusst sind. Das Erlebnis wird nicht durch seinen objektiven Inhalt, sondern durch den Erlebenden bzw. seinen Glauben, seine Erfahrungen, ganz allgemein durch seine geistige Haltung, zur Sage.

Lawinen als gewaltige Naturerscheinungen haben sicher schon seit jeher auf die Betroffenen einen grossen Eindruck gemacht. Zur Zeit des Naturkultes, als jedes Gräschen, jeder Windhauch, der kleinste Kiesel, jeder Tropfen Wasser - überhaupt alles - von einer meist speziellen Gottheit durchdrungen war oder einen entsprechenden Geist verkörperte, da spielten solche Vorkommnisse eine noch viel grössere Rolle als heute im Zeitalter von Fernsehen, Atombombe und Mondflügen. Man glaubt vielerorts, dass die Menschen früher solchen Katastrophen viel mehr ausgeliefert gewesen seien als heute, zu einer Zeit mit weit entwickelter Technik im Lawinenverbau, eine Ansicht, der ich persönlich nicht beipflichten kann. Man denke nur an die Lawinenkatastrophen von 1951 und 1954. Das Erscheinen und der Verlauf der Lawinen sind heute noch genau so unberechenbar wie ehedem. Was sich geändert hat, ist der Mensch mit seinem Glauben und seiner Wirtschaft, ein Umstand, auf den wir jetzt nicht weiter eintreten können.

Immer zählte die Lawine zu den bösen, d.h. den Menschen feindlich gesinnten Mächten, und das Engadiner Sprichwort: « I nu vain ma jo una lavina chi saja dan per tuots » ( Es kommt nie eine Lawine, die allen zum Schaden gereicht ) ändert daran kaum etwas. Es gab und gibt zwar vereinzelte Niedergänge, die dadurch nützlich werden, dass sie tief eingeschnittene Schluchten ausfüllen und begehbar machen. Sie bilden aber eine so seltene Ausnahme, dass sie nur die Regel bestätigen und übergangen werden dürfen.

Es macht den Anschein, als ob viele unserer Sagen ihren Ursprung in der vorgeschichtlichen Mythologie haben. Dies mag in manchen Fällen und besonders bei den meisten grossen, klassischen Sagen zutreffen, kaum aber oder bestimmt nicht bei den ausgesprochenen Lawinensagen. Natürlich können alte Motive mitverwoben sein; aber die nachfolgenden Erzählungen sind jung, sie sind teilweise erst gestern entstanden und können morgen nochmals entstehen. Bei der Abschätzung des Alters unserer Sagen müssen wir folgende Besonderheiten berücksichtigen: Die Umwelt der Älpler hat sich im Gegensatz zu derjenigen der Flachlandbewohner oder gar Städter seit Hunderten, wenn nicht Tausenden von Jahren nur sehr wenig verändert. An der Schneegrenze, die der alpine Hirt das ganze Jahr vor oder unter sich hat, treffen wir den glazialen Landschaftstypus, wie er zur Eiszeit über das ganze Land vorherrschte. Die Flora ist noch dieselbe wie damals, und die Gefahren erheischen von den Bewohnern höchste Wachsamkeit wie ehedem. Diese Gefahren sind es auch, die das magische Fühlen und Denken des Bergbewohners wecken und in ihm das besondere, spezifische, alpine Weltbild entstehen lassen. Letzteres wird durch Magie, moderne Religion und Animismus beherrscht.

Es kann nur derjenige Flachländler den Älpler verstehen, der schon selbst längere Zeit allein im Hochgebirge gelebt hat, ausgeliefert der unbändigen, scheinbar unvergänglichen Alpenwelt. Er muss erlebt haben, wie hier Tod und Leben nahe beisammen, nein, präziser gesagt, dauernd beieinander und gegenwärtig sind. Ja, die Trennung zwischen diesen scheinbaren Extremen wird oft nicht mehr möglich, und so entsteht durch die Wachsamkeit und die Erlebnisse die oft als rein magisch zu bezeichnende Haltung der Älpler. Sie ist vermutlich teilweise verwandt mit derjenigen der Eiszeitmenschen.

Von seiten der Religion ist der Mensch samt seiner Umwelt nichts als göttliche Schöpfung. Die Naturereignisse sind Reaktionen eines Gottes, mehrerer Götter bzw. ihrer Diener. Die Gegenspieler sind die Dämonen oder die Teufel mit ihren Gesellen und Gehilfen. Es herrscht also der Glaube vor, und dieser verlangt vom Menschen volle Hingabe und Opferbereitschaft.

Zwischen dem magischen und dem modernen religiösen Weltbild besteht eine nicht zu verkennende Diskrepanz, und je nach dem Vorherrschen des einen oder andern in der Psyche des Erzählers wird ein Erlebnis nun empfunden und weitergegeben. Der Fortschritt der Technik bis in die Alphütten ändert auch hier sehr vieles. Wo vor wenigen Jahren ein mattes Petroleumlicht notdürftig die Sennenstube beleuchtete, blendet heute eine Vielzahl elektrischer Birnen. An Stelle der Erzählungen im Halbdunkel ist das Kartenspiel getreten, und aus dem Äther werden mit Radioapparaten klassische Musik, hohe, umweltfremde Politik, Parteiklatsch, Hetzpropaganda usw. eingefangen. Solche geben den Stoff zu den Diskussionen und vernichten mehr und mehr das feine Empfinden für die Natur. Der Hirte verfolgt nicht mehr das Hin- und Herschieben der Wolken, er dreht einfach am Knopf irgendeines Wunderkastens und erfährt von selbstsicher klingender Stimme, wie das Wetter werden muss bzw. sollte. Durch den Bau von breiten Fahrstrassen und die Möglichkeit, jederzeit kurzfristig mit Autos alles herbeiführen zu können, was fehlen sollte, ist die Wachsamkeit gegenüber der Natur nicht mehr erforderlich, und damit wird ein ganz wesentliches Moment, das die ursprüngliche Psyche der Älpler formte, vernichtet.

Erst wohnten auf den Bergen die Götter. Durch die moderne Form der Religion wurden sie verdrängt bzw. in Geister umgewandelt, und als solche leiten und veranlassen sie denn auch Lawinen. Die nachfolgend zitierten Sagen habe ich stets wörtlich übernommen, um möglichst erzählecht zu bleiben. Leider sind viele von diesen in der Schriftsprache abgefasst, und sie haben darum ohnehin schon sehr viel von ihrer Originalität eingebüsst. Ausserdem werde ich mich nach Möglichkeit an das Wort von A. Holz halten:

« Ich diskutiere nicht, ob falsch ob wahr, Ich propagiere nicht - ich stelle dar. » « Der Berggeist steht riesig mitten in der Lawine auf einem grossen rollenden Felsstück. Er hält einen Baumstamm wie ein Ruder in der Hand, leitet damit den Gang des zyklopischen Schlittens und pflanzt ihn hinter der Hütte ärmerer Leute auf, die kniend und dankend ihm ihr Angesicht zuwenden. » ( Kohl. ) Begreiflicherweise sind es nur böse Geister, welche die Lawinen veranlassen und führen - wir können hier Vogt erzählen lassen:

« Wie es unter den Geistern des Gebirges gute, den Menschen freundlich gesinnte Wesen gibt, so trifft man unter ihnen aber auch auf solche, die ein Schrecken dem Älpler, nichts als mit Tod und Verderben drohen. Sie führen keinen besonderen Namen. Man nennt sie nur die Bösen. Wenn die Alpen unter der Last des Winterschnees begraben liegen, Menschen und Vieh in das Tal herabgezogen sind und in den zugeschneiten Hütten die Männer beim flackernden Kienspan Holzwaren schnitzen und die Weiber an der altmodischen Spindel zupfen, beginnt ihre Herrschaft. Dann steigen sie aus ihren Sommerpalästen, den unzugänglichen Höhen des Finsteraarhorns, der Jungfrau und ihren Nachbarn, tiefer herab in die niedern Gegenden, sammeln sich in den Schlünden und Tobein, scherzen mit der Wut der Elemente, heulen grausame Zaubergesänge, zu welchen der Sturm aufspielt, und ergötzen sich mit lustigen Spielen und knabenhaftem Zeitvertreib. Oft stellen sie sich auf die vereisten Firsten und fordern höhnend einander heraus, necken sich in lächerlichen Entgegnungen und werfen einander Schneelasten zu, ungeheure Lawinen, wie Knabenschneebälle, und hat ein Wurf den Gegner getroffen, dass er kopfüber von der Felskante stürzt, vergraben unter dem himmelanwirbelnden Schneegestöber und den losgerissenen Felstrümmern, dann jauchzt fröhlich der ganze Chor der Zuschauer und klatscht in die Hände, dass es widerhallt an den Talwindungen wie Kanonendonner und Gewittersturm. Da sie aber hassen alles, was Leben hat, üben sie auch gern und häufig die Jagd. Mit lautem Hallo jagen sie dann pfeifend, klappernd und rasselnd hinter den scheuen Gemsen drein, über Höhen und Tiefen, Schlünde und Felsspitzen in wütender Eile die geängstigten Tiere treibend, und wenn sie sich lange genug an der windschnellen Flucht des Gewildes belustigt haben, so schleudern sie es zerschmettert hinab von den hohen Felskanten in die grausen Tiefen der Gletscherschründe. Ihr grösster Hass trifft aber die Menschen. Wehe daher dem Wanderer, der zu solcher Zeit sich in ihren Bereich wagt. Ihm drohet der sichere Tod. Sie locken ihn durch schönes Wetter und hellen Sonnenschein, dann aber, wenn sie ihn von allen Seiten umgarnt, spiegeln sie ihm falsche Bilder in den Lüften vor, führen ihn irre durch bekannte Gestalten der Berggipfel, die sie aus Nebel weben, oder umhüllen ihn mit dichten Wolken, fallen ihn an von allen Seiten mit wildem Schneegestöber und Hagelwetter, und wenn sie sich sattsam geweidet an der Verzweiflung des Verirrten und seiner Todesangst, so lassen sie ihn verschmachten in den wüsten Tobein, die sonst nie ein Sterblicher betritt, oder stürzen ihn in einen Abgrund, in dem man oft erst nach Jahren seine zerschellten Gebeine findet. Vor allem aber unter den Menschen hassen die bösen Geister der Gebirge den Bergmann und den Gräber nach Kristallen, welche im Innern ihr Besitztum, die Berge, nach edlen Metallen durchwühlen und ihre Wohnungen, die Kristallhöhlen, ihres schönsten Schmuckes, der Strahlen, berauben. Diese lassen sie bald in enge Spalten geklemmt, bald in Schachten und Höhlen, deren Eingang sie verschütten, unter den grässlichsten Qualen einem langsamen Tod entgegenschmachten. Oft aber vereinigen sie sich auch zu gemeinschaftlichen Angriffen gegen die Menschen im Tale, indem sie ungeheure Schneelasten, Felstrümmer und Eisberge auf ihre Wohnungen wälzen, alles, was lebt, unter dem Schutte der Lawine begrabend. Der Mensch drängt jedoch diese bösen Geister von Jahr zu Jahr mehr zurück in das unwirtbare Gebirge, fasst Fuss in ihrem Reich, bezieht die Triften der Alpen mit seinem Vieh und wirtschaftet da oben, als wären die Hirten die Herren des Gebirges, darum zürnen die Geister unversöhnlich. » Diese Bösen halten auch ihre Besprechungen ab und beraten, wie und wann sie dem Menschen Schaden zufügen könnten. Über einen solchen Fall berichtet Jegerlehner. Zwar betrifft die Sage keine Schnee-, sondern eine Erdlawine:

« Un jeune homme de Lourtier, un peu simple d' esprit, qu' on appelait le crétin Machoud, dit la tradition, était occupé sur l' alpe de la Pierrayre à la recherche de moutons égarés. Ces derniers ayant été aperçus à une assez longue distance, Machoud se mit à leur poursuite. Mais les brebis ayant séjourné quelque temps loin du contact des hommes, avaient repris les allures sauvages de leurs lointains ancêtres, et, à la vue du jeune homme, s' enfuirent prestement et vinrent se réfugier dans les écuries des vaches de la montagne. Le crétin Machoud les y suivit aussitôt, content de pouvoir les rejoindre dans cet endroit, où elles ne pourraient plus lui échapper.

Mais dans l' écurie, il ne se trouva pas ses moutons, une foule de diablats y étaient rassemblés. On délibérait sur des choses importantes; il n' y était rien de moins question que de ruiner Lourtier de fond en comble par un violent incendie et par une avalanche de boue sous laquelle serait enseveli à jamais tout ce que le feu n' aurait pas consumé.

Effrayé de ces propos, le crétin Machoud qu' on n' avait point songé à inquiéter, se sauva avec ses bêtes, et, à son arrivée au mayen, raconta à son père ce qu' il savait. On se moqua de ce qu'il disait et personne n' y prit garde, ce qui n' empêcha pas que, peu de temps après, le village de Lourtier fut désolé par d' affreuses calamités dont les diablats étaient la cause. » Nach den Sagen um den starken Bochatay aus Salvan könnte man schliessen, dass in der Lawine der böse Geist selbst vorhanden ist:

«... S' étant attardé un soir, à Salvan, on lui dit: „ Par une nuit aussi sombre, tu n' oseras jamais rentrer chez toi ?"

Je n' oserai pas, mille millions de redouble grands fins d...! Je n' ai trouvé mon maître qu' une seule fois, et celui-là n' a rien à faire sur ma route.

Sur ce, il se leva et partit, fort de son courage. Lorsqu' il fut arrivé au Prédufour, il aperçoit soudain une mule gigantesque qui galopait sur la crête des rochers pendant qu' il marchait, qui s' arrêtait quand il ralentissait le pas. Arrivé sur le Triège, toute une armée grouillante de nains de toutes formes lui barrent le chemin.

Je veux passer, cria-t-il! La moitié de la route m'appartient! Je suis le gros Bochatay! Et comme on ne se rangeait pas assez vite, il bouscule, frappe d' un côté et d' autre, arrive enfin au pont. Mais ici, un groupe compact et menaçant lui dispute le passage.

La moitié du pont est mienne, cria-t-il de toute la force de ses poumons. Rien ne bougeait, et on entendait des rires provocateurs.

Le gros Bochatay s' élance, frappe de son bâton dans le tas, précipite dans l' eau des grappes de nains qui embarrassaient sa marche.

Jetez-le à l' eau! criait-on de toutes parts; et d' autres voix de répondre: Il est trop fort!

Il lutte en désespéré, passe le pont, mais de l' autre côté, la route est barrée; une avalanche phénoménale se présente à lui. Il tire son couteau et le jette sur l' avalanche.

Reprends ton coup! cria une voix.

Un bon maître ne se reprend jamais, fit le Salvanin.

L' avalanche disparaît, l' homme passe, court, et arrive chez lui, les yeux fixes, les dents serrées... » ( Jegerlehner. ) Die guten Berggeister aber sind Freunde der Menschen, sie schützen oder warnen sie vor Unglück und somit auch vor Lawinen. Ein Hauptrepräsentant dieser Gruppe ist sicher das Hauri oder Hoiri. Es verkörpert im wesentlichen die warme Jahreszeit und ist ein Feind des Winters. Seinen Namen hat es von seinem nachteulenartigen Ruf. Bei den Hirten auf den Alpen ist « Hoiren » = Rufen, sie verstehen darunter das mit Rufen verbundene Viehtreiben. In einzelnen Gegenden unseres Landes wird auch die Nachteule selbst als Hoiri oder Hauri bezeichnet, und « wenn 's Hoiri schreit - denn muescht schtärbe ».

Aus dieser Erfahrung heraus hat man die Nachteule auch als Totenvogel angesprochen. In andern Gegenden heisst es ganz allgemein heute noch:

« wenn 's Hoiri in d'r Nöhi schreit, so git 's as U'glügg. » « In seinem Wirken ist es ähnlich dem Toggeli, aber mächtiger. Die schönsten Alpen sind sein Wohnsitz. Sein Lieblingsaufenthalt ist aber die Steinbergalp am südöstlichen Abhänge des Hohgant, wo eine Stelle seinen Namen führt. Es liebt die Menschen und schützt sie vor dem wilden Treiben der bösen Geister der Gebirge. Wenn diese sich im Frühjahr mit dem schmelzenden Schnee zurückziehen, streift es über die Triften und Halden mit lauem Fittich dahin und lockt die Erstlingsblumen aus dem starren Boden und bereitet dem Hirten eine fröhliche Ankunft auf der Alp und Futter für seine Herde. Und wenn dann die Glocken der Kühe läuten und die Schellen der Ziegen erklingen, dann hüpft es seinen Lieblingstieren entgegen und kitzelt wohl zuweilen die Tiere, dass sie in mutwilligen Sätzen, aber ohne Schaden zu nehmen, den Berg hinaufspringen. Es erleichtert dem Hirten die Last der schweren Lebensmittel und Gerätschaften, unter deren Bürde er keucht, und breitet einen leichten Dunst über das Gebirge, dass ihn der ungewohnte Glanz der Strahlen nicht blende. Dann geht es wieder den Tieren voran und zeigt ihnen die besten Futterplätze, wo Brandii wächst und Alpengarbe, und warnt sie vor schädlichen Kräutern. Es will aber seine Wohltaten im stillen tun und wird böse, wenn man von ihm spricht, selbst wenn man es lobt, und wer solches missachtet, von dem zieht es seine Hand ab, dessen Kühe fressen schlechte Kräuter, geben wenig Milch und werden mager; dessen Ziegen klettern an unzugängliche Orte, wo sie nicht vor- und rückwärts können, und der ungehorsame Hirte muss Tag und Nacht in den Bergen umherstreichen, sie zu suchen und auf halsbrecherischem Wege sie herabtragen in wegsamere Gegenden. Deshalb spricht der Oberländer nicht gern vom Hauri, denn er ist seines Schutzes benötigt. Im Winter hört des Hauri Sorge für das Vieh auf den Alpen auf. Dann wacht es über den verderblichen Anschlägen der Geister des Gebirges, welche die Menschen bedrohen, und warnt diese, da es nicht mächtig genug ist, sie selbsttätig gegen die vereinte Macht der Kobolde zu schützen. Darum hört man, wenn die Kobolde eine Lawine zusammengescharrt haben, um sie auf die Wohnungen hinabzuschleudern, eine klagende Stimme in den Lüften, welche die Bedrohten warnt. Oft ruft die Stimme den Namen, oft ist es nur ein eigentümlich wimmernder Laut, der in den Lüften stöhnt und von der Stelle her sich vernehmen lässt, von welcher die Gefahr droht. Und wenn er sie auch nie gehört hat, so erkennt der Bedrohte doch gleich, dass es keine menschliche Stimme ist, die ihn ruft, kein menschlicher Klageton, sondern ein Laut, der nicht seinesgleichen angehört. Zaudert er dennoch, sich zu retten, so warnt das Hauri zum zweiten Male. Zum dritten Male aber ist es nicht mehr der vorherige Laut, Erd und Himmel scheinen dann Wehe zu schreien, ein heulendes Gewimmer bricht aus allen Schlünden, aus allen Tälern des Gebirgs hervor, die ganze Luft ächzt in ängstlicher Klage, wie ein Gewitterschein fleucht das Hauri über die bedrohte Stelle - und ihm folgt unmittelbar das Graus der Zerstörung, ganze Berge von Schnee wälzen sich dumpf donnernd von den Höhen herab, und hohnlachend stürzen sich, auf losgerissenen Felstrümmern reitend, die sie zu wilden Sätzen anspornen, die Geister des Gebirges auf die Stätte der Verwüstung.

Als vor einigen Jahren eine Lawine das Grimselspital verschüttete, da hörte der Knecht, der einsam den Winter über das Haus hütet, das Hauri. Klagend rief es vom Juchliberge herdie Hunde sprangen auf, öffneten sich selbst die Türen und flüchteten hinaus ins Freie. Der Knecht im Glauben, ein Wanderer rufe um Hilfe, eilte ebenfalls vor die Türe. Draussen schien hell und freundlich die Sonne, um den Juchliberg aber schwebte es in der Luft, er konnte nicht recht deutlich sehen was. Kein Wanderer zeigte sich in der Nähe noch Ferne. Er rief die Hunde, die ziellos umherschweiften, und kehrte mit ihnen in die Stube zu seiner Arbeit. Da erschallte der Ton zum zweiten Male. Abermals suchte er den vermeintlichen Wanderer, der seine Hilfe angerufen, abermals vergebens; am Juchliberge aber flimmerte ein rötlicher Schein. Er kehrte wieder in das Haus. Erst als der Himmel über ihm mit schrecklichem Getöse zusammenzubrechen schien, erst dann erkannte er, aber zu spät, wer ihm gerufen. Wie Strohhalme waren die Sparren des Daches geknickt und unermessliche Erdlasten vor die Türe gewälzt, so dass jeder Ausgang versperrt schien. Nur die Festigkeit der Mauern hatte das Haus vor gänzlicher Zerstörung, ihn vor augenblicklichem Tode bewahrt. Allein im Fliehen hatte das Hauri den Deckel des Kamins aufgeklappt und ihm so einen Rettungsweg eröffnet. Er kletterte durch den Schornstein an das Tageslicht, als die Kobolde ihn begraben glaubten, ihren Triumph auf dem Aargletscher feierten, zog die Hunde nach und brachte die Mär in das Tal.

Er kennt jetzt die Stimme des Hauri, aber er erzählt die Geschichte nicht gern, denn er möchte seine Gunst, die sich so offenbar gezeigt, nicht verscherzen. » ( Kohl. ) Auch im Haslital berichtet man davon:

« D'Winterchnächta uf dr Grimslen gheeren im Winter hin uw wider ds Meerlenhoiri. De chenne 's drüüf zellen, das schlächts Wätter inhaghiid. As warned sa o vor e - e Lowwenen. » ( Sooder. ) Identisch mit dem Hauri ist sicher auch das Hoopi. Schon sein Name deutet darauf hin, denn « Hoope, Heepe » ist auch Schreien, Rufen wie Hoiren. Auch das Hoopi ist dem Menschen sehr wohlgesinnt:

« Es gibt zuzeiten denen, die darauf achten, Schirm und Hut vor Feuer und Wasser, Steinschlag, Unwetter und Lawinen. Vor Höllenspuk und allen grossen Übeln, die den Leuten drohen, tut es von einer Balm oder vom Fluhrand herunter hoopen, so dass, wer will, sich vorsehen kann.

Besonders auf der Sefinenalp, da hat das Höll-Hoopi unsern Vätern und Vorvätern so manchen guten Fingerzeig gegeben. » ( Michel. ) Im Kanton Uri ist es bekannt unter der Bezeichnung Hüri, zum Teil übernimmt dort auch die « Wigglä » ( der Totenvogel ), der Waldkauz das Warnen.

Es wäre verfehlt, im Hauri nur den Schrei der Nachteule oder eines Kauzes zu suchen. Vor wenigen Jahren hatte ich an Ostern eine Skitour ins Silvrettagebiet auf dem Programm. Am Donnerstag, abends zwischen 9 und 10 Uhr, spurte ich von Monbiel auf bekanntem Wege der Hütte zu. Der helle Sternenhimmel beleuchtete die Berge mit fahlem Licht. Herrliche Ruhe herrschte, nur das Rauschen der rhythmisch sich vorschiebenden Bretter war zu vernehmen. Zwischen den Alphütten von Späära und Sardasca kam vom Kessler her mehrmals in unregelmässigen Abständen ein eigenartiger Ruf- es musste das Hoiri sein. Plötzlich war ein anhaltendes starkes Rauschen zu hören, und nach knapp 20 Metern stand ich vor einem 4 m hohen Lawinenkegel. Dieser bewegte sich immer noch ganz langsam. Am Bache machte er halt, und ich konnte ihn umgehen. Bis hinein zu den Hütten von Sardasca hörte ich noch öfters den eigenartigen Ruf, und wie ich höher stieg, wurde es wärmer - Föhn war eingebrochen, er hatte auch die Lawine gelöst. Für die kommenden Feiertage brachte er stürmischen Schneefall. Es war hier auch sicher der Föhn, welcher die eigenartigen Laute hervorbrachte in seinem Spiel um die Felsen, wie wir es zur Genüge aus dem ganzen Alpengebiet kennen.

Ein eigenartiges Ächzen hat uns vor einigen Jahren auf der Roslenalp aus dem Schlaf geweckt, und wir glaubten, das alpine Notsignal zu hören, standen auf, signalisierten mit unsern Lampen in die Nacht hinaus. Es dauerte geraume Zeit, bis wir endlich die Sachlage richtig erkannten und merkten, dass der Föhn die Gipfelfahne auf dem 5. Kreuzberg knarrend hin und her bewegte.

Wer kennt nicht die guten Dienste der Zwerge und Heinzelmännchen? Immer sind sie bereit, für den Menschen die Arbeit zu verrichten, ihm zu helfen, solange er sie in seinen Gemarken duldet und in Ruhe lässt. Handelt es sich hier eventuell teilweise um frühere, jetzt ausgestorbene Alpenbewohner?

« Weit von allen Leuten fort, hoch über Murren, liegt, in den Felsenfalten der Berge gut versteckt, das Engital. Es ist eine ringsum abgeriegelte, schöne Hochwelt für sich. Wen sollte es Wunder nehmen, dass in vergangenen Zeiten die Zwerge hier heimisch waren! Oben am Schwarzgrat hausten sie in einer Höhle. Alle Bergleute taten ihnen zulieb, was sie konnten, denn man hatte es ja sattsam erfahren, warum Dörflein und Weidscheunen vor Erdrutsch und Lawinennot je und je verschont geblieben waren. Brach irgendwo an der Bergflanke das Unheil los, so beinelten die Engitalzwerge blitzschnell, wie auf Zauberwort, an die Abbruchstelle, hockten dort auf die obersten sich bewegenden Schnee- oder Erdmassen und wiesen dem brodelnden Durcheinander den Weg neben Scheune und Wohnstatt. » ( Michel. ) Bei anderer Gelegenheit treten sie als Warner auf:

« Es war im Jahre 1795, als der Nywengadmer bei Ruoppelingen prophezeite, es werde baldigst schlechtes Wetter einfallen, das Wildmannli am Geissberg habe gejauchzt. Und in der Tat, schon am nächsten Tage fiel Schnee, und eine Lawine sauste bis nach Stalden hinunter. » Durch bösartige Neckereien waren aber auch diese sonst immer dienstfertigen und so menschenfreundlichen Zwerge, Gottwärggini, Heinzelmännchen oder Bergmannli dazu zu bringen, dass sie Lawinen loslösten und dadurch grosses Unglück herbeiführten:

« Ds lescht Derfli gägen Gadmen hinderhi ischd Obermad. Im Üüstagen old schon im Winter, we 's towwed, ghijen d'Lowweni zringetum über d'Siiti inha. D' Huser und d'Schiireni stään eng anenandren und lää si zsämen zun enem chliinnen Hiifli. Dr Chatzenhubel räised d'Gadellowwi ab, das em Derfli wenig old nid vil cha gscheen.

Äis wän us e Fleenen es Zwäärgli abhachun. Aber niidverfäänd Bööben häin nnd Gschiiders gwissd z'töön, wan das Zwäärgli z'eellen und z'ääken. Am And heds ne chennen eggaan, und in allem Furtloiffen heds greefd:

„ Wee ischd die Wald so gross Und d' Untriww so gross Und d'Faltschhäit so gross, Obermaad mööss driimal undergaan. "

Das ischd eso chun. Äis ischd Obermaad verbrunnen. Ds ander Mal heds d'Gadellowwi über ds Derfli inhagreerd, und wäis Gott, was ds dritt Mal sol gaan! » ( Sooder. ) ( Am 11. Dezember 1808 zerstörte eine Lawine in Obermad 3 Häuser und mehrere Scheunen, 22 Personen verloren das Leben. ) Die Lawine ist die Strafe für Undank und Respektlosigkeit hier gegenüber den Zwerglein, aber auch bei anderer Gelegenheit treffen wir dies:

« In einem Taldorfe des Oberwallis waren die Leute bös und streitsüchtig. In den Familien zankten sich nicht nur die Geschwister beständig untereinander; sie stritten selbst mit ihren alten Eltern fort und fort und von Geschlecht zu Geschlecht, weil der alte Vater immer abzubüssen hatte, was er selbst in der Jugend an dem seinigen verbrochen.

Einst hielten da die jungen Leute im Gemeinhaus Fastnachtstanz, mochte auch draussen der Schnee stürmen, der Pfarrer mahnen, der Vater zürnen, die Mutter jammern. Bei schallender Musik kreisten die lustigen Paare in der grossen Stube, und in der Küche wurde ein muntres Feuer angeschürt zum Kochen und Braten - Aber sieh! Auf einmal lösten sich grosse Schneemassen oben vom Berge und stürzten ins Dorf, viele Gebäude fortreissend. Dem Talbach verrammelte die Lauwine das Bett und trieb das Wasser ins Dorf - und das Feuer der Tanzgesellschaft, in der Verwirrung nicht beaufsichtigt, griff um sich und loderte bald hoch zum Dach hinaus. So hatte das arme Dorf Feuer-, Wasser- und Schneelawinennot auf einmal. Aber die jungen Leute tanzten fort. » ( Tscheinen. ) Nicht nur Berggeister und Zwerge finden wir häufig im Zusammenhange mit Lawinen, sondern ebensooft, wenn nicht noch mehr, das Totenvolk oder die sogenannten armen Seelen.

In früheren Zeiten war der Glaube an die Wiederkehr der Seele Verstorbener in leibähnlicher oder gar leiblicher Form oder die Wanderung und Busszeit der von uns abgeschiedenen Seelen sehr weit verbreitet - ja Allgemeinglaube. Davon zeugen viele Bräuche. Der Totenkult ist aber auch heute noch lebendig, und den unwahrscheinlichsten Dingen wird Gehör und Glauben geschenkt.

Die Toten sehen und wissen mehr als die Lebenden. Sie können auch mehr, und deshalb ist man ihnen gegenüber ängstlich. Man fürchtet die Rache für jede ihnen bei Lebzeiten angetane Ungerechtigkeit oder Nachlässigkeit und Schuld. Daraus hat sich ein solches Verhältnis entwickelt, dass man sich hütet, über einen Verstorbenen übel zu reden. Man bringt ohne weiteres den Mut auf, einem Lebenden die « Lévite » zu lesen - aber einem Leichnam ein grobes Wort sagen -nein - das kann man nicht. Dies hat nichts mit Pietät zu tun, sondern ist begründet im magischen Weltbild, bei welchem bekanntlich Leib und Seele eine unzertrennbare Einheit bilden.

Wer den Toten einen guten Dienst erweist, der wird früher oder später den Dank dafür empfangen, und wenn es jemandem gut geht, so heisst es auch gleich:

« dem heint d' Abgstorbnu g'holfu! Schi läint nix u'vrgoltu! » Das erlebte ein Säumer am St. Gotthard:

« Von allen Seiten tosten die Lawinen zu Tale, als ein kecker Säumer mit seinem Ochsengespann durch die Schöllenen hinaufstieg. Bei der Sprenggi wurde er gänzlich von den Schneemassen umringt. Eine Lawine verwehrte ihm das Weiterkommen, eine andere sauste hinter ihm in den Abgrund und versperrte ihm den Rückzug. Verlegen schaute er nach allen Seiten nach Hilfe um. Da auf einmal erschienen vier starke Männer mit Schneeschaufeln und öffneten den Weg. So rasch und wacker arbeiteten sie darauflos, dass der Säumer nicht imstande war, sie einzuholen, obschon es sein sehnlichster Wunsch war. Gerne hätte er ihnen gedankt und sie zu einem Imbiss und zu einem Glas Wein eingeladen. In der Nähe des ehemaligen Pfarrhofs bei der alten St. Ko-lumbanskirche hörte er sie noch den Schnee von ihren Schuhen und Schaufeln abklopfen, dann hörte und sah er nichts mehr von ihnen. Jedenfalls sind diese Helfer in der Not arme Seelen gewesen; denn der brave Säumer unterliess es nie, die verlassenen armen Seelen zu trösten und für sie zu beten, wenn er am ehemaligen Friedhof bei der alten Kirche vorbeiging. » ( Müller. ) Die Toten formieren in gewissen Nächten lange Züge ( Totenvolk, Gratzug usw. ) und ziehen singend, murmelnd, oft auch pfeifend ihren Weg. Aber auch einzeln werden sie gesichtet und verkünden meistens einen baldigen Tod, Unglück oder schwere Krankheit.

« Als vor etwa 50-60 Jahren die Lauine nachts über das Haus in der Blüemlismatt hinausfuhr, hörte man eine Stimme rufen: „ Hinecht chumi-n-i und nah hundert Jahrä chumi-n-i wider. " » ( Müller. ) Als am Sonntag Misericordia ( 22. April ) 1917 eine Lawine das Haus im Gapyl und mehrere Ställe verschüttete und 4 Menschenleben forderte, da behaupteten viel, sie hätten « es am Samstagabend vorher mehrmals am Schnüerstock, wo eine der beiden Lawinen losgebrochen, jauchzen gehört; andere hörten es unmittelbar, bevor die Lawine losbrach. Was es gewesen, ob Wildmannli, Hexe, arme Seele oder sonst etwas, wusste mir niemand zu sagen ».

Über der Gegend der Wylerlaue an der Grenze von Erstfeld und Gurtnellen sah man einige Jahre hindurch von Zeit zu Zeit ein Weibsbild hin und her laufen. Es trug einen schwarzen Rock und drüber ein weisses Mäntelchen. Da kam dann eines Winters ein Mädchen aus der Gegend in der Lawine ums Leben. Jetzt sagte man, jene Erscheinung sei ein Vorbot gewesen. ( Müller. ) Erscheint ein Toter im Traum und äussert dabei einen Wunsch, so ist dieser unbedingt sofort, d.h. bei erster Gelegenheit, zu erfüllen, ansonst ein grosser persönlicher Schaden unabwendbar eintrifft. Dieser Glaube ist auch bei verschiedenen Völkern des Ostens noch lebendig.

Pfarrer Tscheinen berichtet aus dem Wallis:

« Dem Franz Biner träumte vor zwei Jahren, seine Mutter selig sei an sein Bett gekommen und habe ihm gesagt, er solle am folgenden Tage für sie einem durstigen Menschen zu trinken geben; sie wolle dann ihm im spätem Leben, auf einem hohen Berge, Hilfe leisten. Am Tag daraufkommt richtig ein sehr durstiger Mann, Peter Anton Biner, ganz im Schweiss; diesem gab er zu trinken, worauf derselbe manches „ Vergeltsgott " sagte. Allein, „ wo mochte wohl der hohe Berg sein ", dachte er oft, denn diesen Traum hatte er schon vor mehreren Jahren gehabt. Franz Biner machte seit einigen Jahren den Führer. Er wollte im letzten Jahre mit einigen Engländern den Monte Rosa besteigen. Es trat Föhnwetter ein, und der Schnee wurde erweicht; dem Führer war, als wenn ihm jemand sagte, sie sollen nicht weitergehen. Der vor einigen Jahren gehabte Traum trat lebendig in sein Gedächtnis. Er schilderte den Reisenden die Gefahr, man kehrte um, und kaum dass sie aus der gefährlichen Stelle waren, so stürzte eine Lawine gegen jene Richtung hinunter, wo sie, wenn sie nicht umgekehrt wären, von derselben erreicht und über einen hohen Felsen geworfen worden wären; denn mit entsetzlichem Krachen donnerte die Lawine über diesen Felsen in den Abgrund hinunter. Jeder von uns erkannte mit klopfendem Herzen die gütig rettende Hand Gottes aus dieser nahen Todesgefahr. » Als allegorische Darstellung tritt uns die Lawine vereinzelt auch als Tier entgegen: « Alljährlich donnert im Frühling die Wylerplangglawine von der Höhe der Rienzenbergkette zu Tale. Zur Zeit, als die Franzosen im Lande waren und man ihnen von der alles mitreissenden Gewalt der Lawinen erzählte, meinte einer aus ihnen, das Läuwitiär, das möchte er doch einmal sehen und möchte probieren, ob er nicht imstande wäre, ihm standzuhalten. Er sollte bald Gelegenheit bekommen, sich mit ihm zu messen. Sobald man die Lawine zuoberst losbrechen hörte, rief der Weibel, der im Wyler auf der Stall-Eggen wohnte, dem Franzosen: „ So jetz lauf, ds Läuwitiär chunnt !", und der Franzose lief und stellte sich der Lawine mitten in der Wylerplangg entgegen. Aber der Luftdruck, der Lawine vorauseilend, fuhr mit ihm Totz über Totz den Rain hinunter gegen die Reuss zu; mit knapper Not entging er dem Tode. „ Aber ", meinte er, „ wenn man mit Waffen dahinter ginge, könnte man es doch bändigen. " » ( Müller. ) Das unter Umständen sehr langsame, mit Recht als Kriechen bezeichnete Rutschen gewisser Frühjahrslawinen, verbunden mit der Bildung des kugeligen « Lawinengerölls », mag auch den Ausdruck « Schnecken » gebracht haben. Nie aber wurden die eigentlichen, grossen Schadenlawinen so bezeichnet.

Das überraschende und oft blitzartige Auftreten mag einzelne Humanisten dazu bewogen haben, sie als Löwin anzusprechen, daneben aber wurde auch versucht, die Bezeichnung Lawine vom lateinischen « lenae » = Löwin abzuleiten. Ausschlaggebend für die Animalisierung der Erscheinung dürfte aber die uralte Darstellung aller Naturerscheinungen als tierische oder menschenähnliche Dämonen sein.

Ein ganz besonderes, beinahe unerschöpfliches und nicht weniger trauriges Kapitel bildet die Hexerei. In den alpinen Gegenden sollen überall Hexen und Hexenmeister Lawinen verursacht haben, und wir wollen deshalb etwas näher darauf eingehen.

Der Glaube an Hexen und Hexenkünste ist uralt. Im wesentlichen handelt es sich um bösartige Zauberei, und es ist heute nicht mehr so leicht abzuklären, wann und wo dieser Glaube an die teuflischen Beziehungen begonnen hat. Es ist aber bekannt, dass schon die alten Griechen solche Zauberer aburteilten und später den Hexenglauben verwarfen, dann hat man auch Zoroaster ( Zarathustra ) beschuldigt, dass er dieses Unwesen gebracht habe. Die Ursprünge aber dürften, wie wir noch sehen werden, viel älter sein.

Die Bezeichnung Hexe wird meistens hergeleitet von hazassa, hazusa, hazessa, hagazusse, hagazisse, hagazesse, hagzessa, hagze, hexse. Dies ist eine Person, welche im Sturmgewölk daher-fährt, d.h. übertragen ist sie ein Schaden verursachendes Individuum ( zessa = Sturm, Unwetter ).

Nach Mone ist der Name von Hekate hergeleitet. Diese dreifaltige, sehr mächtige griechische Göttin war die Herrin der Unterwelt. Sie schwärmte des Nachts mit den Totenseelen umher, deren Zug von Hundegebell begleitet war. Sie half oder bedrängte die Frauen im Wochenbett und wurde durch kundige Frauen herbeigerufen, immer entweder um zu helfen oder zu schaden. Von ihr sollen die Beschwörungen, Zaubersprüche und Zaubertränke stammen. Sie war bekränzt mit Schlangen und Eichenlaub, und zu ihren Salben gehörte das Gift.

Schon in uralten Zeiten waren in den Tempeln Frauen als Priesterinnen; sie weissagten dem Volke. In babylonisch-assyrischen Tempeln wurden diese in 20 Rangstufen eingereiht. Eine andere Unterteilung erfolgte in zwei Gruppen, die sich in bezug auf ihre Funktionen sehr merklich voneinander unterschieden. Während die eine in strenger Klausur und Keuschheit zu leben hatte, pflegte die andere, Hierodulen genannt, die sakrale Prostitution. Die Fürsten waren göttlichen Geschlechts, und um sie für gewisse Zwecke zu gewinnen, wurde die List dieser Frauen bzw. ihre körperliche Schönheit ausgenutzt. Sie waren als Dienerinnen der Liebesgöttin geweiht. So hören wir doch bei Gilgamesch ( ca. 2400 Jahre vor Christi ) von der Überlistung des starken unbändigen Gottessohnes Enkidu durch eine solche Priesterin:

« Dann erhob er die Hand und sprach zu Gilgamesch:

Fernher vom Gebirge ist ein Mann gekommen, seine Kräfte sind stark wie die Heerschar des himmlischen Gottes. Seine Macht ist gross in der ganzen Steppe, er treibt sich umher auf dem Felde beständig. Seine Füsse sind stets mit dem Vieh vor der Tränke. Furchtbar ist er zu schauen, ich mag ihm nicht nahen. Er hindert mich, Gruben zu graben, Netze zu legen, Fallen zu stellen. Gefüllt hat er meine Grube, zerrissen die Netze, zerstört meine Fallen. Meinen Händen lässt er entkommen das Tier meines Feldes.

Gilgamesch sprach zu ihm, zu dem Jäger:

Geh nur, mein Jäger, nimm mit dir ein blühendes Weib aus Ischthars heiligem Tempel. Führe sie hin zu ihm Wenn er kommt mit den Tieren zur Tränke, werfe sie ab ihr Gewand, damit ihre Fülle er nehme. Wird er sie sehen, so wird er ihr nahen. Also wird er entfremdet werden dem Vieh, das mit ihm wuchs auf dem Felde.

Sein Wort vernahm der Jäger und ging. Er holte ein blühendes Weib aus dem Tempel der Ischthar. Sie machten sich auf den Weg und trieben das Maultier die kürzeste Strecke. Am dritten Tage kamen sie an und fanden sich ein auf dem Feld der Bestimmung. Jäger und Weib lassen sich nieder nicht fern von der Tränke. Einen Tag, einen zweiten Tag lagerten sie an selbiger Stelle. Es kommt das Vieh und trinkt an der Tränke. Die Wassertiere tummeln sich in der Flut. Da ist auch er, Enkidu, des himmlischen Gottes gewaltiger Spross. Mit den Gazellen isst er die Kräuter, mit dem Vieh schlürft er gemeinsam das Wasser. Munter tummelt er sich mit dem Gewimmel der Flut.

Ihn sah das heilige Weib, den Menschen voll Kraft, den wilden Gesellen, den Mann vom Gebirge. Er schreitet über das Feld, spähet umher, kommt näher...

Da löste das Weib das Tuch ihres Busens, enthüllte den Hügel der Freude, damit ihre Fülle er nehme. Sie zögerte nicht, nahm wahr seine Lust. Hin sank das Gewand, er sah sie und warf sie zu Boden. Begierde erregte sie ihm, das Fangwerk des Weibes. Fest ruhte seine Brust auf der heiligen Dienerin Gottes.

Sie waren allein. Sechs Tage und sieben Nächte erkannte Enkidu das Weib, vereinte sich ihr in der Liebe.

Von ihrer Schönheit Fülle gesättigt, erhob Enkidu sein Antlitz und blickte umher auf der Steppe. Er spähte nach den Tieren. Kaum sehen sie ihn, da jagen im Sprung die Gazellen davon. Die Tiere des Feldes scheuen vor ihm zurück.

Staunen ergriff Enkidu. Still stand er wie angebunden. Er wendet sich um zum Weibe und setzt sich zu ihren Füssen. Er blickt ihr ins Auge, und wie sie nun spricht, da horchen auf seine Ohren.

Enkidu, schön bist du, wie ein Gott bist du! Warum willst du mit wildem Getier hinjagen über die Felder? Komm mit mir nach Uruk, in die umfriedigte Stadt. Komm zum heiligen Tempel, der Wohnung Anus und Ischthars!...

Das Weib und Enkidu gehen zur Stadt und schreiten durchs Tor. Bunte Teppiche sind auf den Strassen gebreitet. In weissen Kleidern, die Binde ums Haupt, gehen die Menschen einher. Harfen klingen von ferne, es tönen die Flöten. Ein Fest wird gefeiert bei Tag und bei Nacht. Schön gestaltete Mädchen tanzen vorbei, Fülle des Lebens in allen Gliedern. Jauchzend stören sie auf die Helden aus ihrem Gemach... » Auch bei den Kanaanitern, der Bevölkerung von Palästina vor der Einwanderung der Israeliten, hören wir von Priesterinnen, die sich der Kultprostitution zu widmen hatten; ähnliche Verhältnisse sind auch bei den Kelten und alten Germanen vorgefunden worden. Bei der christlichen Lehre ist an die Stelle der früheren Gottheiten der Teufel gesetzt worden, und die Funktionen der Priesterinnen wurden den Hexen übertragen.

Bei den Indern sind seit ältesten Zeiten hexenähnliche Wesen bekannt: die Dâkinîs. Sie sind dem Menschen feindlich, mit den Dämonen verbündet und wohnen an abgeschiedenen, also unheimlichen Orten, wie Stätten der Leichenverbrennung usw. Ursprünglich galten die Dâkinîs aber als Erleuchtete und besonders als wissende Mahnerinnen. Es wird berichtet, dass sie in Häusern aus Menschenschädeln wohnten. Als Symbole trugen sie die Damaru ( sanduhrförmige Doppeltrommel, heute noch als Ritualtrommel benutzt ) und eine Schädelschale, teilweise mit Blut gefüllt. Sie waren die Meisterinnen der eso- und exoterischen Lehren, und zu ihnen kamen die gläubigen Schülerinnen und Schüler. Sie waren ursprünglich die Helferinnen bei der Mediation, die ja im Buddhismus eine zentrale Bedeutung hat.

Im Tibet werden die Dâkinîs Khadoma ( mkhah-hgro-ma ) genannt ( mkhah = Raum, hgro = Gehen, Fortbewegen, ma = Suffix für die weibliche Form ). Die Khadoma ist also nach dem Sinn der Benennung ein weibliches himmlisches Wesen und verfügt als solches über höheres Wissen und die Möglichkeit, göttlich und menschlich zu erscheinen. Sie kann sich verwandeln, wie sie will.

Im Mittelalter begann in sozusagen allen Völkern Europas das Hexenunwesen aufzuleben. 1275 finden wir den ersten eigentlichen Hexenprozess, und von nun an häuften sich solche Gerichtsverhandlungen epidemisch. Den Auftakt dazu aber gab die berüchtigte Bulle von Papst Innozenz VIII. Diese räumte einem Ketzergericht uneingeschränkte Vollmachten zur Aburteilung der sogenannten Hexen ein. Sprenger brachte daraufhin sogar eine Anleitung für die Durchführung der Prozesse, Folterungen und Verbrennungen heraus.

Da die genannte päpstliche Bulle recht deutlich die damaligen Rechtszustände vor Augen führt, sei sie hier in der Übersetzung nach Römer wiedergegeben.

« Bischof Innocenz, der Knecht der Knechte Gottes. Zu Urkund.

Von den glühendsten Wünschen für das allseitige Gedeihen und Erblühen des katholischen Glaubens namentlich in unseren Zeiten und für das Fernhalten jeder gottlosen Ketzerei von den Ländern der Gläubigen, gemäss Unseres Hirtenamtes beseelt, verfügen und gewähren Wir gern von neuem das, wodurch sothanes gottseliges Verlangen zur Ausführung gelangen und deshalb nach Ausrottung aller Irrtümer mit Hilfe Unseres Dienstes als mit der Hacke eines vorsichtigen Arbeiters der Eifer für den Glauben und der Gehorsam gegen denselben den Herzen der Gläubigen noch tiefer eingeprägt werden möge. Jüngst nämlich haben Wir nicht ohne grosse Betrübnis erfahren, dass es in einigen Gegenden von Oberdeutschland, namentlich in den Provinzen, Städten Dörfern, Örtern und Bistümern von Mainz, Cöln, Trier, Salzburg und Bremen, sehr viele Personen beiderlei Geschlechtes gebe, welche, ihres eigenen Heiles uneingedenk, vom katholischen Glauben abgefallen, mit Buhlteufeln und Buhlteufelinnen ( Incuben und Succuben ) Umgang pflegen und durch ihre Zauberformeln, Sprüche, Beschwörungen und andere gottlose abergläubische Handlungen, Wahrsagerkünste, Vergehen, Verbrechen und Gräuel die Geburten der Weiber, die Jungen der Tiere, die Früchte der Erde, die Trauben der Weinberge, das Obst der Bäume, ja sogar Männer, Frauen, das Vieh, Schafe und verschiedene andere Tiere, auch Weinberge, Obstgärten, Wiesen, Weiden, Felder, Getreide- und Gemüsepflanzungen aller Art vernichten, ersticken und ertöten; ferner, dass sie sogar Männer und Frauen, das Vieh, Rinder, Schafe und Tiere überhaupt, mit entsetzlichen äusseren und innerlichen Schmerzen und Qualen plagen und peinigen und die Männer am Zeugen, die Weiber an der Empfängnis, beide an der ehelichen Beiwohnung verhindern; ausserdem scheuen sie sich nicht, den Glauben selbst, den sie in der hl. Taufe empfangen haben, mit gotteslästerlichem Munde zu verleugnen und viele andere gottlose Dinge, Vergehen und Verbrechen, auf Anreizung des Feindes des Menschengeschlechts, zum Verlust ihrer Seelen, zur Beleidigung der göttlichen Majestät und zum verderblichen Beispiel und Ärgernis vieler zu begehen und zu vollbringen.

Und obgleich Unsere geliebten Söhne, Heinrich Institor für die erwähnten Gegenden von Oberdeutschland, worin auch die Provinzen, Städte, Dörfer, Bistümer ( Diözesen ) und die anderen dergleichen Orte alles mitinbegriffen erachtet werden, und Jacob Sprenger für bestimmte Gegenden des Rheingebietes, beide Mitglieder des Predigerordens und Lehrer der Gottesgelahrtheit, als Untersuchungsrichter der gottlosen Ketzerei durch päpstliche Erlasse bestellt waren, wie sie es noch sind: so schämen sich doch in jenen Gegenden etliche Geistliche und Laien, die mehr wissen wollen, als sich für sie ziemt, nicht, aus dem Grunde, weil in den Erlassen Unserer diesfallsigen Verfügung die Provinzen, Städte, Dörfer und die andern vorerwähnten Orte, sowie die oben bezeichneten Personen und Verbrechen dortselbst nicht namentlich und besonders genannt worden sind, hartnäckig zu behaupten, dass diese nicht unter denselben Gegenden begriffen seien und deshalb den besagten Untersuchungsrichtern nicht erlaubt sei, in den vorgenannten Provinzen, Städten, Bistümern usw. das bezügliche Richteramt auszuüben und über Personen ebendieser Gegenden wegen der angeführten Vergehen und Verbrechen Strafe, Einkerkerung und Zurechtweisung nicht verhängt werden dürfe. Deshalb bleiben in den benannten Provinzen, Städten und Dörfern usw. solche Vergehen und Verbrechen nicht ohne offenbaren Seelennachteil und nicht ohne Verlust des ewigen Heiles unbestraft.

Darum wollen Wir jedes Hindernis, wodurch die Ausübung des Amtes dieser Untersuchungsrichter irgendwie hintangehalten werden könnte, aus dem Wege räumen, und damit nicht die Pest der gottlosen Ketzerei und der übrigen betr. Verbrechen zum Verderben anderer Unschuldiger ihre Ansteckung ausbreite, wollen Wir mit geeigneten Gegenmitteln Unserem Amte gemäss vorsehen, und bestimmen deshalb, wozu Uns hauptsächlich der Eifer für Reinerhaltung des Glaubens antreibt, kraft Unseres päpstlichen Amtes durch Gegenwärtiges zu dem Zwecke, damit es nicht fernerhin vorkomme, dass die genannten Provinzen, Städte, Bistümer usw. in jenen Gegenden von Oberdeutschland ohne das nötige Glaubensgericht seien, folgendes, dass nämlich eben jenen Untersuchungsrichtern in besagten Gegenden die Ausübung des Untersuchungsrichteramtes zustehe und über die Einwohner derselben wegen der besagten Vergehen und Verbrechen Zurechtweisung, Kerker und Strafen verhängt werden dürfen, kurz, Wir bevollmächtigen jene durchgehends in jeder Beziehung zu allem, dergestalt, als ob in den früheren Erlassen die Provinzen, Städte usw. ebenso jene Personen und Verbrechen namentlich und ausdrücklich bezeichnet gewesen wären.

Indem Wir zu grösserer Vorsicht Unsere früheren Erlasse und Anordnungen ( nämlich die Bestellung der zwei Ketzerrichter ) auf jene Provinzen, Städte, Bistümer und Orte, wie auch jene Personen und Verbrechen ausgedehnt wissen wollen, erteilen Wir von neuem kraft desselben Unseres Amtes den obenerwähnten Richtern volle und unumschränkte Vollmacht, dass sie selber oder einer von ihnen unter Zuziehung ihres neuen Gehilfen, Unseres geliebten Sohnes Johannes Gremper, Geistlicher des Konstanzer Bistums, Meister der Wissenschaften, oder unter Zuziehung irgendeines anderen öffentlichen Schreibers in jenen Provinzen, Städten usw. mit diesen oder wen immer sie zeitweise aufstellen, in bezug auf jede Person, welchen Standes und welcher Auszeichnung sie auch sein möge, dieses Richteramt ausüben und diejenigen Personen, welche sie der erwähnten Verbrechen schuldig befunden haben, gemäss deren Schuld zurechtweisen, einkerkern, strafen oder büssen dürfen; auch in jeder Pfarrkirche jener Provinzen dem gläubigen Volke Gottes Wort, so oft dies erspriesslich sein möge und ihnen gutdünkt, vortragen und predigen dürfen, überhaupt in den besagten Rechtssachen alles hierin Notwendige und Geeignete anordnen und gleichfalls nach Gutdünken und ohne alle Einschränkung ausführen dürfen.

Und ebenso beauftragen Wir durch dieses Unser päpstliches Schreiben Unsern ehrwürdigen Bruder, den Bischof von Strassburg, dass er selber persönlich oder durch Vermittlung eines oder mehrerer anderen Anordnungen treffe, wo, wann und so oft dies ihm angezeigt erscheint, oder er von den benannten Richtern gesetzlich angerufen worden ist, diese Anordnungen feierlich bekannt mache und nicht gestatte, dass jene ( nämlich die Ketzerrichter ) deshalb ( in Ausübung ihres Richteramtes ) vor irgend wem und unter Berufung auf was immer für eine Vollmacht, im Widerspruch mit dem Inhalt Unserer früheren und jetzigen Erlasse, incommodiert oder sonstwie behindert werden; ferner: dass er mit Unserer Vollmacht alle Gegner, Behinderer, Widersacher und Empörer, welcher Würde, welcher Auszeichnung und welchen Adels, überhaupt welchen Standes sie auch immer sein mögen, und mit welchem Vorrecht von Straffreiheit sie auch geschützt seien, mittels der Strafe der Ausschliessung aus der Kirchengemeinschaft, der Amtsenthebung und des Interdiktes oder nach Gutdünken mit noch schrecklicheren Strafen und Bussen, unter Aufhebung des Rechtes zur Berufung, zur Ruhe zu bringen und sogar noch bei den deshalb anhängig zu machenden Rechtsklagen das Strafurteil, so oft es nötig, zu verschärfen und abermals zu verschärfen Sorge trage, auch erforderlichen Falles die Hilfe des weltlichen Armes ( des Staates ) hiebei anrufe.

Alle früheren päpstlichen Erlasse und Anordnungen, welche ( dieser Bulle ) entgegenstünden, sind aufgehoben. Sollte jedoch einer Genossenschaft oder einzelnen Personen von dem päpst- lichen Stuhle ein Freibrief erteilt worden sein, auf Grund dessen sie nicht mit Interdikt, Amtsenthebung oder Ausschliessung aus der Kirchengemeinschaft bestraft werden dürfen, kraft päpstlicher Erlasse, die nicht ausführlich und ausdrücklich und buchstäblich Erwähnung thun von einem solchen Freibrief oder von was immer für einer anderen besonderen päpstlichen Ablass-erteilung ( sei 's vollkommener, sei 's unvollkommener ), was sie immer betreffen mag, in Folge deren Nichterwähnung in dieser Bulle die Wirkung jenes Ablasses möchte behindert oder aufgehoben werden, und was es überhaupt seinem ganzen Inhalte nach betreffen mag, so geschieht dessen in Unseren Erlassen besonders Erwähnung. Keinem Menschen mithin sei erlaubt, diese Unsere Verfügung, Anordnung und Bestimmung zu brechen oder frechen Wagnisses denselben sich zu widersetzen. Wer aber dies zu versuchen wagen sollte, der möge wissen, dass er dem Zorne des allmächtigen Gottes und seiner seligen Apostel Petrus und Paulus anheimfallen wird.

Erlassen zu Rom am Sitze des heiligen Petrus im Jahre 1484 nach Christi Geburt, den C.De-zember, im ersten Jahre Unserer päpstlichen Amtsführung. » Die Dörfer und Städte wurden nun durchstreift und verdächtige Personen festgenommen und verhört. Immer war bei diesen Einvernahmen der Tatbestand unbestritten, d.h. wer vor Gericht gezogen wurde, war einfach schuldig, und durch die schrecklichsten Foltermethoden konnte in jedem Falle auch ein « vollumfängliches Geständnis » erpresst werden. Wer die vorgehaltenen Untaten nicht eingestand, dem hatte der « Teufel den Mund verstopft », und ward erst recht schuldig befunden. Den Schluss solcher Prozesse bildete die Verbrennung der unglücklichen Opfer auf dem Scheiterhaufen. Die Asche wurde in alle vier Windrichtungen oder in fliessendes Wasser gestreut. Wer Mitleid hatte mit den Verurteilten, war sogleich vom selben Bunde, wurde geprüft und immer schuldig befunden. So haben Tausende von Unschuldigen ihr Leben auf dem Scheiterhaufen verloren.

Es ist nicht möglich, in diesem Rahmen die ganze Geschichte des Hexenwesens darzulegen, das Wesentliche liegt in den Geständnissen, die alle nach dem gleichen Schema erfolgten. Es sind hauptsächlich 7 Punkte zu erkennen:

1. Verführung, 2. Verleumdung der Religion, 3. Ehe mit dem Teufel, 4. Begattung, 5. Hexentanz, 6. Schadenstiftung an Mensch und Vieh, 7. Übel niemals beichten, die Hostie verwerfen.

Anmerkung: Beim Vergleich dieser Punkte mit dem Vorgehen der Priesterin von Uruk im Gilgamesch-Epos erkennen wir leicht die Parallele:

1. Die Verführung des Enkidu von der Steppe mit ihren Tieren ( also aus seiner natürlichen Umwelt heraus ).

2. Die Verleumdung seiner göttlichen Herkunft, indem er seine Lustbegierde befriedigt, also gegenüber dem ersten weiblichen Wesen schwach wird, anstatt sein Verlangen unterdrückt und seine Kräfte bändigt, wie dies Gilgamesch tut.

3. Die Vereinigung mit der Priesterin.

4. Das Tanzfest.

5. Die Schadenstiftung in Uruk durch Auftreten als Gegenspieler Gilgameschs, des rechtmässigen Gottesfürsten.

Diese Übereinstimmung zeigt uns, dass die Hexen ihren Ursprung sehr wahrscheinlich, wie eben dargestellt, bei den Tempelpriesterinnen haben.

Als Beispiel möge ein Prozess in Ernen ( 14.16.März 1587 ) dienen:

In Ulrichen im Goms soll eine ganz berüchtigte Hexe, Barbara Bigginer, gelebt haben. Sie wurde schliesslich vor Gericht gestellt und zu einem Geständnis gezwungen. Drei Tage lang wurde sie immer stärker gefoltert, und am dritten Tage, als die Schmerzen zu stark wurden, hat sie ein ganz umfassendes « Geständnis » abgelegt, welches nach Am Herd wie folgt gelautet:

« Erstens sei vor zehn Jahren, als ihr Mann abwesend war, der „ Thüffel " in Gestalt eines jungen Mannes, grau gekleidet, in die „ Stuben " gekommen Als sie ihn fragte, wer er sei, habe er geantwortet, er heisse „ Jagi ", und sei der „ bösse Fynnd ". Darauf habe er ihr versprochen, ihr „ Gutz gnug " zu geben, wofern sie Gott den Allmächtigen, den Erlöser und dessen Mutter Maria verleugne und ihm „ Crysam und Touff " hergebe. Leider habe sie dieses Anerbieten angenommen, und zum Pfand des Bündnisses einen „ wyssen Rümen " oder Nistel ( Schnur ) erhalten. « Zweitens gestand sie, dass sie sich ihrem Meister, dem Jagi, vollständig habe unterwerfen müssen. Als ihr eigener Mann in den Bergen weilte, sei der „ Thüffel " mehrere Mal gekommen, und ( als Incubus ) mit ihr ungebührlich umgegangen, worüber sie, weil gar unnatürlich, ein Grausen empfunden habe. « Drittens sei sie mit andern Verbündeten, nämlich mit Jakob Brangien, Verena Bigginer, Greta Naters und Greta zum Loch, zum Danz ( Hexentanz ) geführt worden, und zwar ins „ Niedern Thal ", auf den „ Galen ", im „ Blasswald auf dem Hubel ", an der „ Lauinen " und in der „ Honey ". Nach dem „ Danz " hätte es morgens in der Frühe einen „ Rüffen " gemacht, wodurch in den Äckern das „ Kiren " geschädigt worden sei. « Viertens habe der Meister Jagi ihr in einem Horn „ grawes Salb und in einer Büchsen auch Pulver " gegeben, damit sie Menschen und Gütern Schaden zufüge. Mit der Salbe habe sie die „ Uter und Strichen " von vier oder fünf Geissen, die dem Caspar Imahorn gehörten, bestrichen, worauf sie die „ hehlen Milch " gegeben. « Fünftens wäre sie Ursache, dass in den „ Teueren " grosser Schaden entstanden sei. Denn ihr Mann hätte ihren Sohn Hans etlichen „ Puren " verdinget, um im Sommer die Schafe zu hüten. Aber die Alpknechte hätten ihn gehasst, und ihm „ Kasslep " in die Milch gethan, die er trinken sollte. Als dies der Knabe ihr geklagt, hätte sie mehreren Kühen die „ hehle Milch " gemacht, nämlich zweyen des Caspar Imahorn, zweien des Caspar Seyler, zweien des Hans Naters und je Einer des Peters Seyler, des Bastian Thenen und des Marti an der Blatten. Zudem sei sie in den „ Teueren " in des „ Thüffels " Namen „ aufgesprungen ", und habe sich in einen „ Rappen " verwandelt, um das „ Ve " zu „ steipen ", und zu Grund zu richten. Auch habe sie im „ Oberthal ", nicht weit vom Bach, einem Rind des Anton Werlen mit einem Stein einen „ Stoss " gegeben, worauf dasselbe todt zu Boden fiel. « Sechstens habe sie mit den obgenannten Verbündeten im Bach ob Ulrichen eine grosse „ Lowena " gemacht, damit die „ Lüt " desto mehr zu „ rumen " hätten; dessgleichen eine andere an den „ Wylern ", damit der „ Wynterroggen " zu Grunde ginge. Um eine „ Lowena " zu machen, „ palle " sie Schnee zusammen, bestreiche den „ Pallen " mit ihrem Pulver und werfe sie in des „ Thüffels " Namen in den Schnee, worauf die „ Lowena " sogleich losbreche. « Siebentes endlich habe sie noch andere Missethaten begangen, indem sie der „ Cylia, einer hussfrauw Gilig Garbeis von Ulrichen ", Pulver in die „ Kässmilch " gethan, damit sie „ verderbe ", die denn auch schwach und krank geworden... » ( Hier fehlt eine halbe Seite in der überlieferten Schrift. ) 20 Die Alpen - 1958 - Les Alpes305 « Aber der „ Thüffel ", ihr Meister, habe von ihr noch viele andere Misstaten verlangt, die sie nicht ausführen wollte. Dafür sei sie von ihm drei oder vier Mal in der „ Stuben " hinter dem Ofen geschlagen worden. Hiemit habe sie alles was sie wisse, bekannt, und bäte den Richter inständig, dass sie sich damit begnügen, und sie ja nicht wieder auf den „ Stock der Gichten " ( Folterstuhl ) setzen zu wollen. » Die Richter waren scheinbar zufrieden, es wurde Protokoll aufgenommen, unterzeichnet und versiegelt. Die unglückliche Barbara Bigginer aber wurde sofort zum Scheiterhaufen verurteilt und in Gegenwart einer grossen Volksmenge zu Ernen verbrannt.

Die meisten Lawinen, unzeitigen Schneefälle, grossen Fröste usw. waren Werke von Hexen, und in einer Unmenge von Sagen und Dokumenten aus all den Prozessen wird darüber berichtet.

Allgemein heisst es, dass überall dort, wo die Hexen fahren, später die Lawinen niedergehen.

« Im Herbst des Jahres 1808 kam ein fremdes Wybervölchli nach Bürglen, das an einem Bein einen roten, am andern einen schwarzen Strumpf trug. Auf dem Kopf sass ihm eine Kappe mit Spitzen, die beständig auf- und abwackelten. Es betrat auch die Kirche, wo gerade Gottesdienst abgehalten wurde, kniete in einen Stuhl zu den Andächtigen und hauchte und mumpfelte da, als ob es allein alles erbeten müsste. Einem Kind, das ein wenig rückwärts schaute, gab es einen Klaps, „ äs Tschäppi ". Nach dem Gottesdienst stand es lange unter dem Gallenbirnbaum zwischen dem Pfarrhelferhaus und dem Sigristengarten und deutete mit dem Zeigefinger bald da-, bald dorthin und murmelte dazu: „ Da isch ä Kapällä, dert isch ä Kapällä, da isch au eini, dert isch au eini. " Pfarrhelfer Pflanzer gab ihm einen Almosen. Dann wanderte das Guschi dem Schächental zu und durch die Berge; und, wo es hinkam, lösten sich im folgenden „ Läuwiwinter " die Lawinen. » ( 12.Dezember 1808. ) « Oft sahen die Leute von Erstfeld eine Weibsperson vom Bürtschen her durch die Ortschaft bis nach Wyler wandern. Sie trug ganz schwarzes Gewand, auf dem Kopf ein altmodisches schwarzes Häubchen, am rechten Arm ein Körbchen. Woher und wer sie eigentlich war, wusste niemand. Man munkelte allerhand von ihr, so z.B., dass sie nachts den Leuten das Vieh von den Ketten löse. Als einst die Lawine durch das Wylertal hinunter kam, da war bei Gott! die Hexe vor darauf, sass an einem Spinnrad und spann. Das schlug aber dem Fass den Boden aus. Vier Männer packten sie, als sie einst wieder im Lande war, und in einer Gand im Wylerwald wurde sie auf einen Scheiterhaufen geworfen und verbrannt. » « Vor gar nicht vielen Jahren ging eine Lawine von dem grossen Windgällen über Bernetsmatt und den Golzersee bis in die Stössialp nieder. Auf ihr fand man ein schwarzes Haarnetz ( äs Gä-räli ), wie es die Frauen auf dem Kopf zu tragen pflegen. Sofort wussten die Talleute, woher es gekommen Als nämlich zu Luzern die letzte Hexe verbrannt worden, hatte sie bekannt, sie habe auf einem Berg in Uri auch noch etwas hinterlassen, dass Rübi und Laui Schaden stiften mögen, und das war nun sonder Zweifel dieses Haarnetz, anders lässt sich ja die Sache gar nicht erklären! » « Eines Herbstes wanderte ein Weibervolk durch das Maderanertal und machte mit den Händen allerlei Manöver gegen die Berge hinauf. Im Winter ging dann eine Lawine nieder an einem Ort, wo noch nie und wo mit rechten Dingen keine niederstürzen kann. Auf dem Lawinenschnee fand man das Brusttuch jener Hexe, die im Herbst beobachtet worden war. » « In der hintern Bitzi zu Erstfeld steht ein grosser, oben ebener, freiliegender Felsblock. Den hat die Riedtal-Lawine gebracht, und der Besitzer des Gutes hat oben auf ihm ein Stück von einem Spinnrad gefunden. Man schloss daraus, eine Hexe habe die Lawine in Bewegung gebracht und sei mit ihr auf dem Steine zutal gefahren, wie solches auf der nahen Wylerlaui auch schon beobachtet worden. » « Auf einer niedergegangenen Lawine in Gurtnellen fand man einen roten Halbstrumpf und einen Schuh oder Pantoffel von einer Hexe. » ( Nach Müller. ) Wurde eine Hexe nicht abgeurteilt, d.h. konnte sie eines natürlichen Todes sterben, oder wurde ihre Asche nicht in alle Windrichtungen zerstreut, so konnte sie auch nach dem Tode noch ihr Unwesen treiben.

« Einst wohnte in Giornico ein Mann. Der hatte ein schneeweisses Pferd. Es ging von ihm die Sage, er sei ein Hexenmeister, und häufig sahen ihn die Bewohner aus seinem Dorfe wegreiten auf seinem von ihm unzertrennlichen Schimmel.

Zur damaligen Zeit hätten die Bauern von Giornico gar gerne eine Alp gehabt und beauftragten den Mann mit dem weissen Pferd, ihnen eine solche zu verschaffen. Dieser versprach es, und eines Nachts streifte er zu Pferd über all die Alpweiden des Livinentals und fand dabei, dass die Alp Cristallina im Bedrettotal die schönste von allen sei. Er suchte sie für seine Landsleute zu erwerben. Die Alp gehörte jedoch der Gemeinde von Bedretto.

Die Bürger von Bedretto zeigten sich geneigt, den Bauern von Giornico ihre Alp abzutreten unter der Bedingung, dass diese ihnen auf den St.Martinstag einen „ stei ", d.h. ein Mass von 25 Litern, voller Geldstücke gäben. Dabei waren aber die Bedrettesen der Meinung, dass die Geldstücke aus Gold bestünden. Sie wurden jedoch arg getäuscht und erhielten als Zahlung bloss solche aus Kupfer und Messing.

Der Betrüger starb bald nach dieser schlechten Tat. Gott der Herr verurteilte ihn dazu, dass er mit seinem weissen Pferd fortwährend das Valle Torta durchstreifen musste. Das war ein Teil der Alp Cristallina. Viele Jahre lang erschreckte er mit seinem weissen Pferd die Hirten der Umgebung. Er rief Lawinen hervor, versetzte Kühe und Geissen in Schrecken und bewirkte, dass sie in grossen Sprüngen davonjagten oder auch in ihrer Verwirrung über eine Felswand stürzten. Auch raubte er manchmal die Käselaibe aus den Alphütten. Vor lauter Angst getrauten sich die Sennen und Hirten nicht einmal mehr nachts aus ihren Blockhütten, denn sie fürchteten, wenn der weisse Reiter sie sähe, würden sie vor Schrecken vom Schlag getroffen.

Schliesslich wurde es ihnen zu arg. Sie liessen den Pfarrer von Bedretto kommen, der die Alp segnen musste.Von da an wurde das weisse Pferd mit seinem gespenstischen Reiter nicht mehr gesehen, und die Hirten hatten fortan Ruhe. » ( W. Keller. ) Hier begegnen wir einem weitern wesentlichen Punkt dieses Sagenstoffes, nämlich der Bannung der Lawinen bzw. der Hexen, welche letztere verursachen.

Im alten China und auch Japan wurden zur Abwehr der Dämonen und bösen Geister in den Tempeln grosse, meist zylindrisch geformte Gefässe geschlagen. Schon bereits vor mehr als 2000 Jahren vor Christi Geburt, also heute vor mehr als 4000 Jahren, wurden dort solche gegossen. Mit feinen Ornamenten und Inschriften waren sie verziert. Mit einem hölzernen Hammer geschlagen, erklangen sie in dumpfem Ton. Ihre Wirkung auf die menschenfeindlichen Mächte soll sich auf die Hörweite erstreckt haben. Dieser Umstand bewog vermutlich die Leute, die Glocken erhöht anzubringen ( auf Dächern, in Türmen ), wodurch natürlich die Reichweite der Klänge und damit der Wirkungsbereich des Schutzes wesentlich vergrössert wurden. Auch bei den As- Syrern, alten Persern und andern damaligen Kulturvölkern wurden Glocken zum Anrufen der Götter und zur Abwehr der feindlichen Mächte geschlagen und teilweise auch geläutet. Die Grosse wurde hier reduziert, dafür aber ihre Anzahl erhöht. Jetzt hatten nicht nur die Tempel solche Geräte, sondern auch auf andern Gebäuden wurden sie zum Schütze angebracht. Zu uns sind die Glocken vermutlich durch die Römer gekommen, und von diesen haben die Klöster den Kult übernommen und entsprechend modifiziert. Als Trommeln Gottes schrieb man ihnen ganz besondere Wirkungen zu, und seit der Zeit Papst Gregors I. ( 590-604 ) hat sich die Gewohnheit eingebürgert, die Güsse zu segnen, mit Sprüchen zu beschwören und auf Namen von Heiligen zu taufen. Diese gesegneten und geweihten Glocken galten dann als erste Feinde des Teufels und seiner Trabanten. Letzteren jagte er den sogenannten Glockenhass ein, und wer dem Teufel verschrieben war, der konnte das Geläute nicht ertragen. Mit andern Worten heisst dies, dass der Ton der Glocken die Wetterdämonen und Wetterhexen zu bannen vermochte. Darüber haben wir unzählige Zeugnisse in all den Wetterglocken und alten Bräuchen über das Wetterläuten. Aus diesem Motiv heraus haben sich vielleicht auch die Viehglocken entwickelt. Zum Schütze der Herde auf den Alpweiden vor Unwetter und Unglück aller Art, welches bekanntlich immer irgendwelchen Teufelsmächten zugeschrieben wurde, hat man mindestens einer Kuh, und zwar in der Regel der stärksten, der Leitkuh, eine Glocke umgehängt. Durch das dauernde Geläute vermochten sich die Unwesen nicht an das Vieh heranzumachen.

« Weh mir! ich erliege den Nebelgesichtern.

Herbei, herbei und zur Hilfe Genossen, Das Bethaus erschlossen, Ziehet die Stränge und läutet das Glöcklein, Das die Dämonen der Wildnis verscheuche. » ( Scheffel. ) Der Teufel soll persönlich und in Gestalt von Hexen oder andern Unwesen immer wieder versucht haben, die Glocken zu zerstören. Man hört, dass Hexen mit ihren Zähnen Stücke aus dem Glockenkranz herausgebissen hätten, um den Klang zum Verschwinden zu bringen. Einzelne Glocken wurden in der Folge auch direkt als Hexenglocken bezeichnet und wurden geläutet, wenn man die Unwesen in der Nähe vermutete. Die Hexen selbst bezeichneten die Glocken ihrerseits vielfach mit Tiernamen wie Hund, Schwein, Stier oder Katze.

Wie wir gesehen haben, wurden Lawinen vielfach als Hexenwerke betrachtet. Mit dem Geläute hatten die Leute nun ein Mittel in der Hand, um diese teuflischen Aktionen zu verhindern -Glockengeläute konnte die Lawinen bannen. Darüber haben wir besonders in der Sammlung von Müller eine ganze Anzahl von Sagen:

« Durch das Rohrtobel hinunter fuhr die Lawine oder die Rübi. Vorn und hinten auf ihr sass oder stand je eine Hexe. Da läutete es in der dem heiligen Gallus geweihten Pfarrkirche zu Wassen mit der grossen Glocke über Wetter, und die Lawine oder Rübi kam zum Stillstand. „ Stoss hinnä !" schrie die vordere Hexe, „ zieh, zieh !" die hintere. „ Ich mag nimmä ziäh, der Galli briälet z'fast " oder „ Diä gross Vrenä briälet, " schnerzt noch die erstere, und beide verschwinden.

Einst kam die Lawine im Rohrtal ganz besonders gross, so dass der besorgte Sigrist der Sankt-Josefs-Kapelle daselbst eiligst lief und aus allen Kräften das St.Verena-Glöcklein läutete. Jetzt hielten plötzlich die erschreckenden Schneemassen in ihrem tollen Sturze inne, die Lawine stand still, und eine Stimme oben im Rohrtal rief: „ Ds Vreni hed üff, m'r keemet nimmä wytters. " An jenem Abend fanden die Leute eines Hauses zu Wattingen, dass im Giessfass am Buffet der Hahnen verschwunden war, statt dessen ein Tannenzweiglein darinnen steckte.

Eine Lawine ging am Guschen in Ursern nieder, und man läutete die grosse Glocke zu Hospental. „ I mag nimmä gstossä entgegnete die Hexe hinten auf der Schneemasse, „ d'r gross Hund z'Hoschbidall ballet. "

Im Lauiwinter 1808 bedrohte eine Lawine sogar die Pfarrkirche St. Michael zu Spirigen. Wie aber der Sigrist zu läuten begann, hörte man eine Stimme rufen: „ Miär chennet nytt machä, St.Michel hed-is ergäget. " Die Lawine stand nun still. » Ähnliche Sagen sind aus allen Landesgegenden der Alpen bekannt.

Auch andere gesegnete oder geheiligte Gegenstände vermögen das Hexenwerk zu verhindern, u.a. werden den Kapuzinern ebenfalls gerne solche Fähigkeiten nachgesagt.

Die Dembachlaui bei Wyler ( im Lötschental ) hat sieben Stunden im Umfang, und von ihr geht folgende Sage:

« Dembach war in alter Zeit ein grosses Dorf von 88 Firsten. Fast jeden Winter erschien eine krumme Alte mit einem Kind an der Hand, die Kleinhandel trieb und gewöhnlich in Dembach die Nacht zubrachte. Einmal schneite es in grossen Flocken, und die Leute, bei denen sie grad hausierte, anerboten ihr ein Bett zum Übernachten, damit sie nicht Gefahr laufe, in eine Lawine zu geraten. Die Alte erwiderte, sie sei schon über alle Berge gelaufen bei dem Schnee, und es sei kein Lauitier z'brachen ( es sei keine Lawinengefahr vorhanden ). Da glaubten die Hausleute, dass sie eine Hexe sei, und jagten sie fort. Die Alte erhob drohend die Faust und brach am Dembach-horn eine Lawine los, die das ganze Dorf bis zur letzten First verschüttete. Nur ein Wiegenkind vom Geschlecht der Ebinen blieb am Leben. Die Hexe aber wurde in Kippel von dem Pfarrer und zwei starken Männern gefangen und auf den Richtplatz geschleppt. Dort schrie sie: „ Bevor es nachtet, wird ein Unwetter entstehen. " Der Pfarrer aber rief: „ Solange ich da bin, wird es sich nicht entladen !" Von allen Hörnern kam es schwarz herab, doch die Wolken verzogen sich, und der Sturm brach nicht los. Als die Hexe auf dem Scheiterhaufen stand, bekannte sie, den grössten Schaden in Lötschen mit der Dembachlaui gemacht zu haben. ( Jegerlehner. ) « Oberhalb Londadusa liegt eine grosse Steinplatte, la piatta dil barlot, welche früher der Tanzplatz der Hexen war. An einem Seidenfaden hatten die Hexen sie vom Badus hergetragen. Giachen Biart, ein Sedruner und Pfarrer daselbst, stieg nach der Sage hinauf und weihte die Platte. Dadurch wurden die Hexen vertrieben. Sie sannen auf Rache. Weil er aber seine Stola umhatte, konnten ihm auch nachgesandte Steine nichts anhaben. Als er aber 1749 den Lawinenverschütteten in Rueras mit Männern von Sedrun zu Hilfe eilen wollte, hatte er in der Eile vergessen, seine Stola umzulegen. Das sahen die Hexen und lösten am Chischle eine neue Lawine los. Biart wollte sich hinter einem Stall in Zarcuns sichern. Aber die Lawine warf den Stall um, und Biart wurde erdrückt. Das Volk gedenkt des Pfarrers als „ Sur Giachen della Lavina ". » ( Derichsweiler. ) Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein Bericht der « Neuen Zürcher Zeitung » vom 4.April 1817, wonach selbst ein Engel gegen die Macht der Hexerei nichts ausrichten konnte:

« Letzthin wurde das Dach der Kirche zu Salvan vom häufig gefallenen Schnee eingeschlagen. Einem Manne des Orts, der nicht geliebt ist, wird das Unglück zugeschrieben, das er durch Hexerei bewirkt haben soll. Des Nachts hörte man einen Engel, der schrie: „ Ich kann den Dachstuhl nicht mehr halten !" Jener Mann antwortete: „ Es ist Zeit, dass er falleund er fiel. » Also im vergangenen Jahrhundert lebte der Hexenglauben immer noch. Die Prozesse waren verschwunden - aber wirklich nur die Prozesse, und selbst heute noch spukt dieser Irrglaube in vielen Köpfen, und zwar nicht nur der einfachen Gebirgsbevölkerung, sondern in vermehrtem Masse in den « gebildeten Köpfen hochzivilisierter » Stadtbewohner. Bei den letzteren hat sich die Form etwas geändert. Es ist nicht leicht, diesen Glauben wegzuschaffen, denn durch ihn wie auch durch diverse Sagen lassen sich sehr viele Vorkommnisse, die sonst unverständlich oder nur schwer erklärbar sind, einleuchtend und leicht begreifen.

Schutz gegen Lawinen bieten auch Karfreitagseier, d.h. Hühnereier, welche am Karfreitag gelegt wurden:

« Als sie an der Grenze zwischen Erstfeld und Silenen das Drahtseil über die Reuss errichteten, gab ein alter Mann den Rat, in den Erdboden unter dem Drahtseilhäuschen im Namen der hochheiligsten Dreifaltigkeit drei Karfreitagseier zu versenken, das sei gut gegen Rübenen und Lawinen. Sie handelten nach diesem Rat, und er hat sich als gut erwiesen. Als vor einigen Jahren die Rübi aus dem Brusttal ringsum alles verhergete, blieb sie grad vor dem genannten Häuschen stehen. » ( Müller. ) Der Freitag und ganz speziell der Karfreitag spielt im Volksglauben eine ausserordentlich grosse Rolle. Er ist an gewissen Orten der Unglückstag, « ein schöner Tag zum Sterben, aber ein unglücklicher zum Werden ». An andern Orten kann auf das Gegenteil geschlossen werden: Alles, was man an diesem Tage unternimmt und tut, bringt viel Erfolg.

An diesem Tag kommen all die Unseligen an die Erdoberfläche, man denke nur an die Pilatusoder die Claridensage. Während der Karfreitagsprozession heben sich alle Schätze ans Tageslicht. Die Fingernägel an Karfreitag geschnitten, bewahrt vor Zahnweh. Ein Schnitt ins rechte Ohr der Tiere, schützt sie vor Unheil. Vor Sonnenaufgang die Stube gefegt, hält das ganze Jahr Flöhe und Wanzen fern. Kartoffeln an diesem Tage gesteckt, gedeihen besonders gut. Vor Sonnenaufgang je drei Schluck dreierlei Wasser getrunken, schützt vor Brüchen. Hühnern die Schwanzfedern ausgerissen, schützt diese vor dem Habicht...

Beinahe endlos könnte diese Reihe fortgesetzt werden. Vom Ei wird behauptet, dass es nie fault, und es ist nicht nur gegen die Lawinen wirksam, sondern schützt, wenn im Hause, dieses auch vor Blitz und Wasser, hält die bösen Geister fern und ist ganz kurz gesagt das Allerwelts-heil- und Schutzmittel gegen alle Gebrechen. Ein Karfreitagsei wird nie verkauft, und ein solches geschenkt bekommen, muss als ein ganz besonderes Glück geschätzt werden und gilt als das beste Zeichen aufrichtigen Wohlwollens von Seiten des Gebers. Nüchtern ein solches Ei getrunken, schützt vor dem Lawinentod. Ich kenne zwei Leute, die einen Eid darauf leisten können, dass sie nicht mehr lebendig aus Lawinen ( einer davon schon zweimal ) herausgekommen wären, wenn sie nicht jedes Jahr ein Karfreitagsei getrunken hätten.

Während es uns nicht schwer fällt, beim Wesen um die Lawine den Glauben von den objektiven Tatsachen zu trennen, ist es anderseits sehr schwierig, eine solche Unterscheidung dort herbeizuführen, wo es sich um die Wirkung dieser Naturerscheinungen handelt. Wer die Lawinen aus seiner eigenen Erfahrung und besonders aus seinem eigenen Erleben heraus kennt, weiss nur zu gut, dass die unwahrscheinlichsten Vorkommnisse eintreten können, die einerseits mit der heu- tigen Logik in direktem Widerspruche stehen, aber anderseits dem alten Volksglauben über Wunderzeichen immer wieder neue Nahrung geben.

Viele der Sagen sind heute noch lebendig, weil der Glaube an sie noch lebt, und dies hat eine grosse ethische Bedeutung, denn Glauben heisst ja bewusst und in vollem Vertrauen so leben, wie man notgedrungen muss, wenn das Geglaubte wahr ist. Der sogenannte intellektuelle, theoretische Wahrheitsbeweis darf für die Sagen niemals verlangt werden, weil die Erzählungen Glaubensgut sind.

Literatur Am Herd:Denkwürdigkeiten von Ulrichen.Laistner L.:

Burckhardt G. :Gilgamesch.Manz W.:

Celander H. :Saga och sed 1943.Michel H.:

Derichsweiler W.: Alpen 1929.Müller Jos.:

Geiger P. :Archiv für Volkskunde 1951.Peuckert W.:

Govinda A. :Tybet. Mystik.Römer W.:

Hoffmann-Krayer: Handbuch des deutschen Aberglaubens. Renner E.:

Jegerlehner:Sagen aus dem Unterwallis.Scheffel V.:

Jegerlehner:Sagen aus dem Oberwallis.SooderM.:

Keller W. :Am Kaminfeuer der Tessiner.Vogt C.:

Nebelsagen.

Volksglauben im St. Galler Oberland.

Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen.

Sagen aus Uri I—III.

Volkskunde.

Die Hexenbulle.

Goldener Ring über Uri.

Bergpsalmen.

Zelleni us em Haslital.

Im Gebirg und auf dem Gletscher.

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