Die Reise zum Gran Sasso d'Italia
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Die Reise zum Gran Sasso d'Italia

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Alfred Graber, MuzzanoBilder g bis 14

Erinnerung an eine Abruzzenfahrt « Sacro de sommi ogni ricordo » VIER MÄNNER UND EIN AUTO Vier Männer hatten sich in einem Auto zu einer Reise durch Mittelitalien zusammengefunden, vier Männer aus verschiedenen Berufen mit verschiedenen Auffassungen vom Reisen.

Da war der Dichter. Doch wie hatte er sich gewandelt: Seine Beschaulichkeit war in dem Augenblick verlorengegangen, als er das Lenkrad des Wagens zwischen seinen Händen spürte. Er trieb den Motor die ganze Tonskala hinauf bis zu den höchsten Drehzahlen. Er wurde zum Stürmer und Tatmensch, und seine grösste Qual war es, wenn er in seinem Ungestüm nach stets neuen Horizonten anhalten musste, weil es etwa eine Stadt oder eine Landschaft näher zu betrachten galt. Oft brachte er uns um Mittagsrast und Essen. Sein geheimes Ziel aber war - was wir erst im Verlauf der Reise erkannten -, sich von seiner Hast durch eine Pilgerschaft nach Assisi zu befreien.

Auch der Verleger verspürte einen grossen Erlebnisdrang in sich, wenn auch anderer Art. Er wollte jeden Tag etwas Vollgültiges sehen: eine Kirche, ein Denkmal, ein Museum, einen Badestrand oder einen Berg. « Alte Steine mit einer glorreichen Vergangenheit liebt er sehr », sagte von ihm der dritte, der Kaufmann, der sich für das Leben schlechthin entflammte, für Volk und Volksseele, für hübsche Frauen und abgerissene Vagabunden. Auch ich war erfüllt von einem Erlebnishunger, wie er jede Reise begleiten soll, einem Hunger nach Landschaften, Kulturen und Menschen. Zudem wollte ich die auf mich einstürmenden Eindrücke des flüchtigen Augenblicks in Wort und Bild festhalten. Was für ein schwieriges Unterfangen, zusammen mit so verschiedenartigen Kameraden! Heimlich grollte ich ihnen, wenn sie mir keine Zeit für meine Passion liessen.

Man könnte nach dem Gesagten vielleicht glauben, wir hätten keine harmonische Reise erlebt; doch das wäre ein Trugschluss. Es ging bis auf einige kleine Zwischenfälle sogar sehr gut. Denn wir alle hatten ein Gemeinsames, das uns band und verband: Wir waren Wanderer.

Umbrien und die Toscana waren unsere Ziele, die wir über die Abruzzen erreichen wollten. Norditalien wurde deshalb geopfert, und die Adria flitzte so rasch an uns vorbei, dass wir nur zweimal zum Baden kamen.

« Man muss sich auf einer Reise auf weniges beschränken und nicht wahllos alles sehen wollen », gab der Dichter weise von sich und drückte das Gaspedal durch.

Blick vom Galmihorn zum Finsteraarhorn Photo Hans Rätzer, Rapperswil 2Das Finsteraarhorn vom Scheuchzerhorn aus ( NO-Ansicht ) Pholo Hans Steinbichler, D-Oed'Hittenkirchen 3P. Plavna Dadaint ( 3166 m ) von Il Foss aus Photo Seffi Püntener, Schattdorf 4Laschadurellakette, vom Val Plavna aus gesehen. Mitte: P. Murtèrs ( 301s mrechts: P. Sampuoir ( 3023 mlinks die Fuorcla Val dal Botsch Photo Hans Gerber, Thun Vor Porto d' Ascoli gestanden der Verleger und ich unseren beiden Kameraden, dass wir in der Tiefe des Wagens Bergschuhe und Windjacke verborgen hätten, weil wir die Absicht hätten, den Gran Sasso d' Italia, den höchsten Gipfel der Abruzzen, zu besteigen. Und da wir auf unserem Wege nach Umbrien ohnehin den Apennin überqueren müssten, wäre der Zeitverlust ja kein sehr grosser. Nur anderthalb Tage würden wir zur Ausführung unseres Vorhabens benötigen. Irgendwo müsste es zudem, wie wir in Erfahrung gebracht hätten, eine Seilbahn geben, die vielleicht zur Kürzung des Anmarsches in Frage käme.

Der Dichter und der Kaufmann waren ob dieser Eröffnung sichtlich wenig erfreut; einstweilen stimmten sie nicht zu und lehnten auch nicht ab.

« Wir wollen das erst einmal an Ort und Stelle sehen », lautete ihr lakonischer Kommentar.

Durch die Abruzzen zu fahren war zwar auch dem Dichter recht, doch an einer Bergfahrt wollte er sich nicht beteiligen, da er jeden Winter als Skilehrer übergenug mit den Bergen zu tun hatte. Der Kaufmann schliesslich fühlte sich bedrängt von allzu hohen Bergen. Er liebte, wie die Menschen des Mittelalters, das Gebirge nur, solange es sich fruchtbar und anmutig zeigte.

Damit waren wir, wenn uns auch gegenseitig immer wohl gesinnt, doch zwei Parteien geworden, als wir Ascoli Piceno, ein Provinzstädtchen voller Heimatlichkeit, erreichten. Inmitten enger Gassen nächtigten wir in einem stilvollen alten Gasthaus. Um die Stadt gruppierten sich die ersten Höhenzüge. Sie waren sanft und grün, aber die Welt hatte doch wieder bucklige Formen angenommen, und jenseits der jahrhundertealten Türme, Arkaden und Denkmäler lag das Abenteuer... die Abruzzen, die uns von der Kindheit her als ein Paradies der Räuber bekannt waren: heisse, sonnverbrannte, von Felsnestern gekrönte Berghänge — Männer mit finsteren Blicken und drohender Flinte in der Faust.

5Lärchen am Gletscherrand ( Palü ) 6Lärchen am Berninapass 7Arve am Weg zum Findelengletscher 8Arven auf der Riffelalp Photos Eugen Thrier, *Winterthui ROMANTIK In der Frühe des nächsten Tages zogen wir westwärts, den Abruzzen entgegen. Allen unseren Phantasien zum Trotz blieb die Landschaft leuchtend grün. Die Berge zeigten weiterhin sanfte Formen, und wir begegneten ruhigen und freundlichen Menschen, die ein heiteres Gemüt besassen und auch nicht den kleinsten finsteren Seelenwinkel zu verstecken schienen. Noch hatte es die Sonne nicht vermocht, die Wiesen zu verbrennen und die Gehirne zu erhitzen. Hoch an den Hügeln klebten Dörfer, ja ganze Städtchen. Auf und ab führte die Strasse; eine breite Staubfahne zog hinter uns her. Plötzlich aber schien sich die Landschaft zu verändern; etwas Neues verwandelte das Bild von Grund auf. Aus dem Dunst der Ferne, aus dem wirren Wolkenge-schiebe glänzte der hohe, weisse Gebirgszug des Gran Sasso d' Italia. Es war, als ob seine Gipfel losgelöst über der Erde schwebten. Hoch lag diese Welt über den heissen Strassen, über den kalk-weissen Häusern. Es war wie immer: der Berg lockte, die Musse und das bequeme Leben fahren-zulassen und in sein Reich zu kommen über die Himmelsleiter aus Geröll, Firn und Fels.

« Es steht fest, wir gehen auf den Gran Sasso », sagte ich angriffslustig; « ihr könnt uns das nicht verweigern! » « Unser Programm !? » jammerte der Kaufmann, und der Dichter pflichtete griesgrämig bei.

« Zum Teufel mit dem Programm! » schrie der Verleger.

Dem Dichter fuhr diese Unterhaltung in die Knochen; über das Lenkrad gebeugt, liess er den Wagen laufen, soviel er vermochte. Nichts schien ihm wichtiger zu sein als das flimmernd weisse Band der Strasse. Da geschah das Unheil: Ein schwarzes Huhn flatterte unschlüssig vor den daherbrausenden Wagen- und schon endete sein Leben unter den Rädern. Den Dichter beschäftigte das jähe Ende dieses Federviehs nicht wenig, und es tröstete ihn auch nicht, als es ein behender Vagabund gleich aufhob und uns seine 9 Hirte aus den Abruzzen ( Passo Capanelle ) 10 Der Doppelgipfel des Gran Sasso d' Italia ( 2914 m ), vom 13 Ausblick vom Gran Sasso auf die Abruzzo im Südosten Campo Imperatore aus gesehen 14 Pizzo Intermesoli, einer der formschönsten Berge des 11 Blick vom Passo Capanelle in die Vorberge des GranGran-Sasso-Massivs Photos Alfred Graber, Muzzano Freude über das unverhoffte Geschenk durch ein langes Nachwinken mit seinem zerschlissenen Hut ausdrückte. Eine Staubwolke verhüllte den Rest der Tragödie; aber der Dichter blieb weiterhin bekümmert, und so fuhr er um die Mittagsstunde an Teramo vorbei.

Als sich unser Hunger immer deutlicher meldete, waren wir auch schon unterwegs in die Berge. Im Nest Montorio hielten wir endlich im Schatten der Häuser.

Ein Müssiggänger hatte Mitleid mit uns, als wir ihn nach einem Gasthof fragten: « Warum haben Sie nicht in Teramo gegessen? Sie werden ja sehen, wie das hier ist! » Schliesslich fanden wir mit seiner Hilfe doch eine Trattoria, und zwar etwas so Urwüchsiges, dass der Dichter ob dieser Romantik seine gute Laune wieder fand. Ein hoher, gewölbter Raum mit schmutzigen Stühlen und Tischen, hinter der Theke ein ovales Rie-senfass und eine rundliche Frau Wirtin!

« Treuherzig und bieder, ehrlich und gesund! » rief der Dichter begeistert. Was brauchte es mehr; das waren die echten Abruzzen. Ein schwerer, erdiger Wein in ungewaschenen Gläsern, scharfer Salami und duftendes Brot, das war das Essen. Und als gar ein kugelrunder Käse aufgetragen wurde, schnitt ihn der Dichter beglückt an -und schob das Stücklein wortlos wieder zurück. Der Kaufmann nahm es, entfernte die sich tummelnden Maden und meinte, das sei in Ordnung, das müsse einfach so sein. Und der Käse mundete schliesslich allen.

Der Poet triumphierte; er liess es mich fühlen, dass ich samt meinem Misstrauen restlos geschlagen sei.

Als schliesslich die Zeche beglichen werden sollte, die höhere Zahlen aufwies, als wir bisher in Italien auch für das beste und auserlesenste Essen je gesehen hatten, nahm unsere « Einkehr » eine ganz unromantische Wendung: Es gab Streit, und der ernüchterte Kaufmann marktete. Draussen sammelten sich die Männer des Dorfes an, nicht etwa drohend, nur rechtschaffen neugierig. Und einer, der sich etwas auf seine Fremdsprachen 12 Kurz unterhalb des Gipfels am Gran Sasso d' Italia zugute tat, erklärte dem Dichter langatmig, die Preise seien richtig; es sei hier so und nicht anders, alles gehe mit rechten Dingen zu. Schliesslich bahnten wir uns durch die murmelnde Menge einen Weg zum Wagen und fuhren ab. Wir kamen uns sehr übervorteilt vor. Dichter und Kaufmann waren kleinlaut; der Vorfall hatte der Romantik ihrer Abruzzenträume einen argen Stoss versetzt.

ENTZAUBERTES LAND Nun rückten die Berghänge näher zusammen. Ein langes, vielfach gewundenes Tal führte aufwärts, die Strasse stieg an, wir gelangten in die Wildnis. Aber es war eine zahme Wildnis. Felspartien wechselten mit üppiger Vegetation, von den Anhöhen schaute hie und da ein Dorf auf uns herab; dann tauchten Gipfel auf, überhöht von satten weissen Wolken, und immer neue Täler öffneten sich. Bei einer Wegbiegung trafen wir zwei bärtige Männer mit breitkrempigen Hüten. Hinter ihnen her zogen beladene Gäule und eine grosse Schafherde, die von den Hunden mustergültig zusammengehalten wurde. Nun-die Männer waren gutgesinnt und stellten sich bereitwillig vor die Kamera.

Wie ganz anders hatten wir uns doch Land und Leute vorgestellt! Und dennoch war diese blühende Voralpenlandschaft mit den sanften Kuppen, auf denen Reste des Winterschnees lagen, unvoreingenommen betrachtet, herrlich schön. Auf der Höhe des Passo Capanelle öffnete sich uns ein Blick gegen Westen auf ein hügeliges, fruchtbares Land, das vor uns ausgebreitet lag wie ein Fächer und sich im Dämmer der Ferne verlor, das Städte barg und Kornfelder und Dämme und Seen. An frisch aufgeforsteten Hängen entlang ging es in manchen Windungen abwärts.

Inmitten dieser Berge und Hügel liegt Aquila, die Hauptstadt der Abruzzen, mit Toren und Arkaden aus vergangenen Jahrhunderten.

Hier teilte uns der Dichter bei Kaffee und Kuchen, die wir zur Ergänzung unseres Mittags- mahles genossen, grossmütig mit, dass er unseren Wunsch nach dem Gran Sasso begreife und uns mit dem Kaufmann bis an dessen Fuss begleiten werde. Und der Kaufmann war kein Spielverderber.

So erkundigten wir uns nach den Möglichkeiten, kauften eine topographische Karte des Gebietes und erfragten die Abfahrtszeiten der Seilbahn nach dem Campo Imperatore. Und da sich unter dem Volke von Aquila eine gar sträfliche Neugierde zeigte - für den Dichter wegen seiner kurzen Hosen, für den Kaufmann wegen seiner Blondheit und seiner schlichten Sandalen, für den Verleger wegen seiner faltenlosen Leinenkleidung und für mich wegen meiner ganz unsüdlichen Länge-, beschlossen wir, unverzüglich aufzubrechen.

Noch fünfundzwanzig Kilometer mussten durchmessen werden. Bald war das heisse Aquila hinter dem fliehenden Wagen zurückgeblieben. Es ging dem Herzen der Abruzzen entgegen.

DIE SEILBAHN Die untere Station liegt auf i ioo Meter, die obere bei 2 r 26. Der Gran Sasso selbst, 2914 Meter hoch, musste also in einem etwa dreistündigen Marsch von der oberen Station aus erreichbar sein.

Das waren unsere Überlegungen, als sich der Wagen den vor uns aufsteigenden Berghängen immer mehr näherte. Über ihre Gleichförmigkeit hinaus ragte, aus einer der hinteren Ketten, ein herrischer Dreikant: der Gran Sasso. Zunächst fuhren wir an Assergi vorbei, einem sicherlich hochromantischen Bergnest. Dann wand sich die Strasse entschlossen die baumlosen Hänge hinauf. Alles war hier unmittelbar und ohne Übergang: da war die Ebene - und da der Berg.

Zehn Minuten vor Abfahrt der Seilbahn trafen wir vor dem in der Sonne schmachtenden Gebäude der Talstation ein, hatten also Zeit genug, den Wagen einzustellen und das Gepäck herzurichten.

Zunächst nahm kein Mensch von uns Notiz; alsdann kam ein Mann, der uns so nebenbei fragte, was wir hier zu tun gedächten. Hinauffah-ren, das war doch klar. « So, so! »Ja, er wolle mal fragen; er wisse nicht, ob man fahre. Nein, berichtete er nach geraumer Weile, heute fahre man nicht mehr.

Wir waren ehrlich erstaunt und aufgebracht. Und der Fahrplan? Da stand es doch schwarz auf rot. Nein, der gelte nicht, jetzt sei Zwischensaison, und ausserdem werde die Strecke gerade überprüft. Morgen früh ginge es vielleicht. Nun unterhandelten wir mit einem Beamten, an den uns der Mann gewiesen hatte. Unser Verleger nahm sich mit Feuereifer der Sache an; schliesslich wurde sogar der leitende Ingenieur am Telephon erwischt.

Unterdessen hatten sich Dichter und Kaufmann schon längst mit der Tücke des Schicksals abgefunden; ja sie freuten sich offenkundig über diese Wendung der Dinge. Hatten sie nicht ihren guten Willen gezeigt? Und dass unser Wunsch sich nicht erfüllte, war gewiss nicht ihr Fehler. Kurz entschlossen luden sie die Koffer wieder auf den Wagen.

« Heute abend sind wir in Assisi! » frohlockte der Dichter.

Doch da trat der Verleger wie ein Sturmwind dazwischen; er hatte es in zähem Kampfe geschafft. Gleich jetzt könnten wir hinauf. Auch ich hatte mich - ich muss es gestehen - zu den andern geschlagen und meinen Bergsteigerehrgeiz nur allzu bereitwillig begraben. So gab es einen heftigen Streit, und begreiflicherweise entlud sich des Verlegers jäher Zorn über mir. Auch die Friedfertigen, die zum Besuche von Bruder Franziskus bereit waren, zeigten ihre Empörung. Was konnte ich da Besseres tun, als ein salomonisches Urteil vorzuschlagen? Mit dem üblichen Fahrpreis wären wir einverstanden. Müssten wir aber eine teurere Extrafahrt bezahlen, so würden wir verzichten. Das Schicksal war uns Bergsteigern gnädig: Wir fuhren in die Höhe. Die Fahrt zum Gran Sasso war gerettet; aber sie hatte an einem dünnen Faden gehangen.

Im Wagenkästchen schwebten wir durch die Luft, schauten auf die kahlen Hänge und in die unter uns wachsende Tiefe. Auf der Zwischenstation begrüsste uns der Ingenieur.

« Für den Gran Sasso müssen Sie sechs Stunden rechnen. Wenn Sie aber morgen wieder herunterfahren wollen, dann muss es vor io Uhr oder nach 14 Uhr sein; anders geht es nicht. » « Vor to Uhr », bestimmte der Dichter. Das bedeutete für uns eine gewaltige Hetze.

Noch nie wurden wir so rasch aus südlichen Gefilden mitten in die Bergwelt getragen. Vor Minuten hatten wir noch in der Hitze geschmachtet, und jetzt umwehte uns bei der oberen Station empfindlich kühle Bergluft.

Den massigen Gipfel des Gran Sasso, von Firncouloirs durchzogene Felshänge, hatten wir nun unmittelbar vor Augen. Der Westgrat erschien uns für den Aufstieg am geeignetsten, war doch hoch am Kamm eine Clubhütte sichtbar. Vor uns dehnte sich die riesige Weite des Campo Imperatore, eines Skigeländes ohnegleichen, aus, hinter uns, gegen Westen, aber lag die Ebene, das fruchtbare Land.

Das grosse, sturmsichere Hotel hat die halbrunde Form eines Orangenschnitzes und ist mit den letzten Errungenschaften unserer Zivilisation versehen, und noch nie hatte ich zwei Welten so hart aufeinanderprallen sehen wie hier: die kahle und rauhe des Gebirgs und die eines behaglichen Komforts. Aber da der Luxus unaufdringlich war, schwand unser Misstrauen bald. Wir fühlten uns wohl, und wir assen überraschenderweise ausgezeichnet zu bescheidenen Preisen. Nachher besprachen wir den erfreulichen Stand der Dinge in der Bar, während der Mixer uns von Nebel, Schneetreiben und Kälte und von den vielen Menschen erzählte, die im Winter hier oben Sport treiben. Jetzt freilich waren wir die einzigen Gäste. Nur der Verleger fehlte bei unserem gemütlichen Beisammensein. Er trieb sich bereits in den Felsen umher, um seine Seele wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Nachdem wir zu unserer Erleichterung erfah- ren hatten, dass es nicht sechs, sondern höchstens - wie wir es uns schon gedacht hatten - drei Stunden bis zum Gipfel wären, legten wir uns zu einem allzu kurz bemessenen Schlaf nieder.

GRAN SASSO D ITALIA Schon bald nach 3 Uhr stiess ich den schweren Riegelladen auf. Mond und Sterne verhiessen gutes Gelingen. Was aber erwartete uns? Wie war der Berg, von dem wir so wenig wussten? Zudem trugen wir ja nichts anderes in den Händen als einen hier geborgten Skistock!

Um 4 Uhr fiel die Tür hinter uns ins Schloss. Wir standen mitten in der Nacht. Das Himmelsgewölbe war wolkenlos und funkelte mit der ganzen Kraft seiner fremden Welten auf uns hernieder. Eine tiefe, unverwundbare Stille umfing uns. Wir durchschritten sie behutsam. Wie Stufen der Urwelt lagen die Absätze der Täler unter uns und verloren sich im Dunkel der Weite. Nur einen sichern Pol schien es in dieser Welt zu geben: den festgefügten, stummen Berg vor uns. Alles andere erschien traumhaft, ungreifbar und fragwürdig. Schon begann der Osten sich aufzuhellen, und aus dem Dunkel schälten sich einige Wolkenbänke. Sie lagen schwimmend im hellgelben Raum und luden ein zur Fahrt nach traumfer-nen Küsten. Ihre Zackenränder waren in ein strahlendes Weiss getaucht, und die ganze Welt schien durch sie in Bewegung zu geraten.

Jetzt standen wir am Kamm auf der Höhe des Rifugio « Duca degli Abruzzi » und wandten uns gegen den Sattel am stumpfen Monte Aquila, vor uns stets das Ziel - den Corno Grande, den Hauptgipfel des Gran Sasso. Der Verleger war längst versöhnt und meinte abenteuerlustig, man sollte den Berg über seine Südwand angreifen. Bei unserer mangelhaften Ausrüstung war ich jedoch gegen ein solches Wagnis und schlug vor, an unserem ursprünglichen Plan, Westgrat oder Nordwestflanke zu benutzen, festzuhalten. Zunächst gab es einen kleinen Abstieg und einen Schneemarsch bis in die steileren Firnhänge der Südostflanke, die wir stufentretend bis zur Grathöhe durchstiegen. Neue, einsame Weiten taten sich auf. Da war der Pizzo Intermesoli, dessen Struktur in diesem reinen Morgenlicht klar und eigenartig hervortrat; da war der schlanke Spitz des Pizzo Cefalone. Und hinter dem allem - immer wieder musste man sie erahnen - die Ebene. Sie, die den Berg umgürtete und irgendwie beherrschte, sie,die seinem Dasein erst die Grosse gab.

Statt dem Westgrat folgten wir, verführt durch ein paar alte Spuren, der Nordwestflanke. Das bedeutete für uns eine lange Tretarbeit im beinharten Firn. Erst einmal drin, fühlten wir uns verdammt, den mühsamen Weg weiterzugehen, da uns ein Wiederanstieg zum Grat ohne Eispickel nicht ratsam schien. Es verging geraume Zeit, ehe wir den Felskopf des Corno Piccolo unter uns hatten. Überraschend plötzlich aber wurden wir aus der Flanke entlassen, traten auf den Grat - und ins Sonnenlicht, kaum wenige Meter unter der Spitze. So nahe hatten wir sie nicht geglaubt. Einige leichte Klimmzüge noch, dann standen wir zuhöchst im kühlen Morgenwind der dreitausend Meter. Nicht ganz drei Stunden hatten wir gebraucht.

Wolken und Nebelfetzen flatterten auf, beschränkten das Blickfeld und schenkten gleichzeitig die Illusion eines unendlichen Blickes, der bis zur Adria zu reichen schien. Drohend verloren sich die Ostwände in den Abgründen. Unmittelbar vor uns zog sich eine Kette von Zacken und Grattürmen hin, wie sie sich der Kletterer nicht schöner und abwechslungsreicher wünschen könnte. Der felsgepanzerte Ostgipfel war ihr höchster Punkt.

Wir aber waren glücklich, den Corno Grande erklommen zu haben. Es kam uns vor wie ein grosses, unerwartetes und auch unverdientes Geschenk. Weitab lagen noch weitere Schneegipfel im Dunst der Ferne am Horizont. Wie waren ihre Namen? Wir wussten es nicht, und wir waren nicht einmal neugierig, sie zu erfahren.

Eine gute Gipfelstunde gehörte uns. Dann aber meldete sich die Zeit; um to Uhr mussten wir ja bereits vom Campo Imperatore fort. Der Verleger lechzte nach einem verkürzten Weg durch ein sehr steiles Firncouloir der Südflanke, ich war für den leichten Klettergrat nach Westen und nahm ihn auch sogleich in Angriff, gefolgt von meinem Freund. Es ging leicht und rasch. Über einen grossen Firnhang stoben wir abwärts, dann kam der Gegenanstieg zum Sattel zwischen dem Monte Aquila und dem Rifugio. Wir wollten ihn möglichst abkürzen und suchten ein Couloir nach Süden. Die ersten beiden Rinnen waren zu stark überwachtet, die dritte schien begehbar. Zuerst mussten wir uns zwar auch hier über eine fast zwei Meter hohe Wächte hinunterschwindeln, dann stob der Schnee gegen das Gesicht, und wir sahen nichts mehr, bis wir sanft in einer Mulde landeten. Mancher Schweisstropfen fiel noch zur Erde, ehe wir die Herberge erreichten. Es war nicht ganz halb io.

AUSKLANG Der Dichter, der den ganzen Morgen auf der begrasten Kuppe gelegen hatte, begrüsste uns und mahnte zur Eile. Wir zogen uns um und schlürften im Vorbeigehen den herrlichen Früh-stückskaffee. Wie herrlich hätte es sich länger dabei verweilen lassen! Aber wir wollten pünktlich sein und sassen schon vor to Uhr auf unsern Koffern in der Kabine der Seilbahn. Es konnte losgehen.

Aber es ging nicht! Aus einer Viertelstunde wurde eine halbe. Kein Mensch zeigte sich. Das Warten griff allmählich an die Nerven. Der Dichter lärmte, der Verleger und ich legten eine drohende Rede zurecht, nur der Kaufmann erklärte gelassen, ihm mache es nichts aus, er hätte das Warten gelernt, setzte sich lächelnd hin und wandte seinen Blick nach innen. Wären wir seinem Beispiel gefolgt! Der Dichter nahm die Verzögerung als eine höchst persönliche Beleidigung seitens des Ingenieurs, der Verleger und ich stürmten die Maschinenräume und konnten endlich unsere schäumende Rede bei einem Mechaniker anbringen.

« Bald », sagte der beschwichtigend, « in einer Viertelstunde. » - Darauf vernahmen wir eine Stunde lang nichts mehr. Und als wir unseren Gewährsmann wieder einmal auftrieben, da fragte er, warum wir es denn so eilig hätten? Ob wir auf den Autobus müssten? Nein, wir hätten selbst einen Wagen unten. Das schien ihn unendlich zu beruhigen. « Na, dann ist ja alles in bester Ordnung! » meinte er.

Nach einer weiteren halben Stunde präsentierte sich des Rätsels Lösung: Der Mechaniker sagte uns, dass noch acht Personen im Hotel seien, auf die man warten müsse.

So wurde es 12 Uhr; wir hatten zwei Stunden in und um die Kabine der Luftseilbahn verbracht, bis die anderen Fahrgäste endlich eintrafen, kei-fende Frauen, furchtsame Greise und zwischen ihnen ein liebliches Mädchen mit schwarzen Fingernägeln. Und sie alle schimpften wacker und wortreich über uns. Wir seien schuld daran, dass man ihnen die Teller noch halb gefüllt unter der Nase weggezogen hätte, wir hätten sie um den Genuss eines herrlichen Mittagessens gebracht, und uns sollte mit Fug und Recht der Teufel holen. So gelangten wir in an- und aufgeregter Gesellschaft zur Talstation. Dort trafen wir den

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