Die Tatra im Laufe der Zeit
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Die Tatra im Laufe der Zeit

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

MIROSLAV ROZEHNAL, OSTRAVA

Mit 2 Bildern ( 55, 56 ) Es waren Zeiten, in denen die Tatra zusammen mit den Pyrenäen nach den Alpen in internationalen Bergsteigerkreisen die bedeutendsten Berge waren! Jedes Zeitgeschehen unterliegt einerseits der Entwicklung der Gesellschaft, in welcher Persönlichkeiten, Gedanken und Sachen zu uns sprechen und andererseits in Vergessenheit geraten. An dem Ausfall der Tatra aus dem internationalen Alpinismus trägt ausser der natürlichen alpinistischen Entwicklung zu den Weltbergen die Zersplitterung der Nachkriegszeit Schuld.

1 Wir veröffentlichen diesen Aufsatz, der uns einen Einblick in die Gebirgswelt der Tatra gibt, die ja seit 1939 praktisch für die Bergsteiger « westlicher Welt » geschlossen ist, und der uns über die Bergtouristik in diesem Gebiet interessante Aufschlüsse gibt. Dabei haben wir uns allerdings erlaubt, alle « politischen Hinweise » zu streichen, da die Bergsteiger ohne solche auskommen wollen und sollen, denn Bergsteigen ist Naturverbundenheit, und die Natur kennt keine Politik menschlicher LebewesenMax Oechslin Heute noch finden wir ausgediente Bergsteiger, in welchen die Tatra lebhafte Erinnerungen an erstklassige Erlebnisse hinterlassen hat, aber das neue Antlitz dieser Berge bedeutet für die heutige Generation oft genug ein unbekanntes Geheimnis wie das Bild der Berge auf dem Mond.

Wie eigentlich die Tatra aussieht und was sich dort abspielt, davon soll in kurzen Zügen dieser Aufsatz berichten.

Dieser in den nördlichen Raum der Karpathen eingegliederte Gebirgskamm an der polnisch-slowakischen Grenze kann sich kaum mit den Alpen messen. Unbedeutende Ausdehnung der Tatra ( 17 x 25 km, ca. 260 km2 - die Alpen 1200 km, 220 000 km2 ) und geringe Höhe ( Gerlsdorferspitze, heute Stalinûv stit, 2663 m ) wird aber durch wild zerklüftete Granitszenerien ersetzt, die mit dem Bergellgranit und den Nadeln von Chamonix wetteifern können. Die Abhänge sind hier so steil, dass sie nicht einmal Firnfeldern Platz bieten. An Stelle dessen belohnen zahlreiche glaziale Bergseen und der Reichtum an Hochgebirgswelt den Besucher dieser « hinteren Berge ».

In den Alpen und Pyrenäen spielte sich der Verkehr schon längst auf errichteten Wegen ab, Petrarca bestieg den Ventoux und die Luzerner erreichten den Pilatus, als die Tatra noch immer in den undurchdringlichen Nadelurwäldern des Karpathenkammes begraben lag. Erst vom 16. Jahrhundert an drangen die ersten polnischen und slowakischen Bergbewohner auf der Suche nach Wild, mythischen Schätzen und später nach Gold in die Bergtäler, ja sogar bis zu den Höhen des Krivan, vor. Ob irgendeiner der Goldsucher aus dem 17. Jahrhundert bis zu seinem leicht erreichbaren Gipfel gelangte, wissen wir nicht. Die Taten der analphabetischen Einwohner entbehren jeder Chronik.

Erst die geistige Entwicklung der Intelligenz der deutschen Enklave, der Nachkommen sächsischer Einwanderer aus dem 13. Jahrhundert ( Zipser Deutsche ), legte die ersten Zeilen der Geschichte der Tatra nieder. Von dieser Zeit an bis zum Jahre 1914 hielten die Deutschen der hiesigen Niederlassungen und die Fremden « das blaue Band », welches die Erschliessung der Berge kennzeichnet, fest.

Damals bestieg ein unternehmender junger Mann, späterer Professor des Lyzeums in Kesmark ( Käsemarkt ), David Fröhlich, als erster einen unbestimmten Gipfel der Lomnitzer Gruppe ( 1615 ). Etwas später, im Jahre 1664, finden wir den ersten Aufstieg des evangelischen Geistlichen Johann Buchholz auf die Schlagendorferspitze ( 2453 m ) vermerkt. Währenddessen benützten die polnischen Bergbewohner und Schmuggler regelmässig die leichteren Übergänge. Über den Kopa-pass transportierten sie ihre Ware sogar zu Pferd, und auch die polnischen Schmuggler benützten den Sattel, welcher noch heute « Polnischer Kamm » genannt wird.

Zu Saussures Zeit wurde der Alpinismus auch in der Tatra in die Wissenschaft einbezogen. Der Arzt Sören Wahlenberg ( aus Upsala ) leitete im Jahre 1751 auf einer Forschungsreise ( von Kaiser Franz angeregt ) die wissenschaftliche Erforschung der Flora der Tatra ein. Der evangelische Pfarrer A.J. Czirbes ( aus Zipser Neudorf ) stand als erster « zur Stillung seiner Sehnsucht » auf dem Gipfel des erwähnten Krivan ( 2446 m ). Den Gipfel der Lomnitzerspitze, welche damals als höchste Erhebung galt, erreichte kurz darnach der schottische Arzt und Geologe Robert Towsen. Weiter betätigte sich hier der französische Arzt und Geologe B. Hacquet; aber Werke von grosser Forschungstätigkeit betreffs des verwickelten Reliefs brachten unbewusst die einheimischen Schatzsucher, von denen ein Deutscher, Johann Papyrus, im Jahre 1771 im « Gefrorenen Tal » den Tod fand. Nach der deutschen Nomenklatur wird es daher Papyrustal genannt.

Die Engländer brachten in die Alpen den sportlichen Alpinismus, obschon dieser schon vor ihnen unbewusst existierte. Nicht anders war dies in der Tatra, und wenige wissen, dass der erste von ihnen John Ball war, der spätere Mitgründer und Vorsitzende des Alpine Club, welcher im Jahre 1843 mit einem wackligen Fuhrwerk in die Tatra kam und mit den jaworinischen Gemsjägern die Eistalerspitze bestieg.

Und wiederum ähnlich wie in den Bergen von Anderegg und Kederbacher verläuft die Chronik der Karpathen. Aus den auserwählten Jägern, Schmugglern und Hirten des vergangenen Jahrhunderts entwickelten sich die ersten Generationen einheimischer, klassischer Führer, welche mindestens zur Hälfte an der Ersteigungsgeschichte der Tatra beteiligt waren. Noch im Jahre 1834, als Johann Still zum erstenmal den höchsten Gipfel ( Gerlachspitze ) bestieg, begleiteten ihn vier unbekannte Jäger. Aber sieben Jahre später, bei der Erstbesteigung der Meersugespitze, führte der berühmte Ruman senior, aus dem Dorfe Stola. Mit ihm beginnt die lange Reihe der Führer, welche fast bei allen Erstbesteigungen mitwaren und welche erst durch Entfaltung des führerlosen Nach-kriegsalpinismus an Bedeutung verlieren: M. Spitzkopf, die beiden Ruman, J. Hunsdorfer, J. Paster-nak, die Polen M. Sieczka, W. Roj u.a.

Durch Eröffnung der Kaschau-Oderberger-Eisenbahn und die Gründung der Sommerfrische-orte Csorbersee-Strbské pleso, Schmecks-Smokovec und Lomnitz-Lomnica wurde die Tatra eifrig aufgesucht, ja sogar internationale Mode. In den achtziger Jahren kam aus Preussen, über Zakopane, inmitten des Winters, der berühmte Soldat, Pionier-Lichtbildner und Bergsteiger Theodor Wundt in die Hohe Tatra und gründete die Tradition der Winterbesteigungen. Er bewältigte sieben Hochgipfel im Winter. Der in alpinen und kaukasischen Kreisen gut bekannte Ungar Moritz von Déchy bestieg mit seinen Führern die Pyramide der Tatraspitze-Vysokâ ( 1874 ). Zur gleichen Zeit bestieg Dr. E. Téry den Mittelgrat-Stredohrot, Kesmarkerspitze und Téryspitze und wurde sowohl durch seine botanischen Studien als auch die Erstbesteigungen berühmt. Seinen Namen trägt noch heute die von ihm begründete Schutzhütte.

Der Deutsche Alexander Münich bestieg die Koncista, O. Gömeri die Botzdorferspitze-Bati-zovsky stit, P. Tetmayer ( 1899 ) den verwitterten Gipfel der Warze-Bradovice. Martha Dévalée und K. Jordan erreichten als erste die Marthaspitze-Zlobivâ und E. Dubke die Böhmische Spitze-Cesky stit. Der bekannteste Sammler von Erstbesteigungen war in dieser Zeit der Deutsche Karl Englisch mit seiner Frau Antonie. Aber er ging in seinem Ehrgeiz nach Ruhm so weit, dass er in seinen bombastischen Schilderungen auch Erstbesteigungen schilderte, die er gar nie ausgeführt hatte, was erst nach Jahren enthüllt wurde.

Dadurch war der deutsche Anteil aber nicht im mindesten erschöpft. Ähnlich wie in den Alpen, als alle Berge schon bestiegen waren, suchten die neuen Bergsteiger neue Ziele, neue Wege. Sie fanden diese in den bisher « unüberwindlichen » Kämmen und Wänden. L. Darmstädter, welcher den bekannten Dolomitenführer Stabeier mitbrachte, überwältigte als erster 1899 den NW-und NO-Kamm der Gerlsdorferspitze. Durch diese Tat wurde das Tor der deutschen Jugend zur Gesinnung eines Lammer und Zsigmondy geöffnet. Sie verweigerten die Begleitung hiesiger Führer und bahnten sich den Weg zur Selbständigkeit. Die Höchstleistung dieser führerlosen Kletterer war die Durchsteigung der Südwand des Froschseeturms-Zabi kûn durch S. Häberlein und seiner Begleiterin K. Bröske, aus Breslau.

Aus dem weiteren deutschen Anteil an der Erschliessung der Karpathen in den Vorkriegsjahren hinterliessen unauslöschbare Spuren die Brüder Komarnicki ( Ostwand Lomnitzerspitze, Südwand Botzdorferspitze, 1912, mit A. Hefty, die grösste Leistung vor Ausbruch des Weltkrieges, die Nordwand der Kleinen Kesmarkerspitze ). Die bis heute berühmte, fast 1000 Meter hohe Nordwand der Mengsdorferspitze-Mengusovsky stit durchstieg kein anderer als der durch seine Alpen- und Spitz-bergenfahrten bekannte Emil Hacker. Er vervollständigte bald darauf diese Tour durch seinen Alleingang auf den brüchigen Turm der Warze.

Die genannten Besteigungen bedeuten Höchstleistungen im Tatra-Alpinismus bis 1914. Allein die Polen erreichten von allen hier angesiedelten Slawen Meisterstufe. Im besondern zeichneten sich Dr. Kleczinski aus durch die Erstbesteigung des Ganek 1895, Jan Chmielowski der Ruman-spitze 1902 und Ententalspitze-Kaci stit 1914, Dr. St. Krygowski und A. Znamiecki des Gabelgrates und M. Swierz. 1911 erfolgte die Durchkletterung der 500 Meter hohen, senkrechten Nordwand-Galerie des Ganek durch junge Polen. Wenn wir die damalige politische und soziale Lage der Polen in Betracht ziehen und die begrenzten Möglichkeiten, die Bergsteiger hatten, dürfen wir ihnen den Platz auf dem internationalen Forum nicht bestreiten. Schon eine Generation später standen auch die polnischen Alpinisten in der vordersten Front der « Welt-Avantgarde » und zeigten grösste Leistungen auf Spitzbergen, am Kilimandscharo, am Nanda Devi und in den Anden am Los Ojos del Salado, den erst nach 20jähriger Pause wieder H. Rebitsch als zweiter erreichte.

Der Weltkrieg hat durch die politischen Umwälzungen die ausländischen Bergsteiger fast gänzlich aus der Tatra ausgeschaltet. Deutsche und ungarische Bergsteiger, welche bis dahin an der Spitze standen, blieben aus und überliessen das Feld den Ansässigen. Jetzt hatte jeder Gelegenheit, zu zeigen, was er leisten könne. Was geschah? Während die Slowaken in dieser Zeit ihren idealistischen JAMES ( Idealismus, Alpinismus, Moral, Eugenik, Solidarität ) gründeten und in genussreichen Wanderungen über die Berge zogen, widmeten sich die Tschechen eher lokaler Felskletterei in den schönen Sandsteinformationen der Prachower Felsen bei Prag. Die Polen allein gerieten an die führende Stelle und hatten erstklassige Erfolge. Im Sinne des modernen Weltalpinismus entledigten sie sich der ästhetischen Genussrichtung und setzten ihre Ziele auf Leistung und Sport.

Im Juni 1926 bewältigten W. Stanislawski, Lida Skotnicowa und B. Czech die senkrechte Nordwand des Froschseeturmes und gaben damit das Signal zur systematischen Arbeit der Jugend Polens in der Tatra.

Die Zahl der von ihnen durchstiegenen kühnen Wände, von welchen zuvor noch niemand etwas Näheres wusste, ist unübersichtlich. Ebenso ist die Reihe grosser Kletterer unbekannt. Nur einige Namen können hier erwähnt werden: In den Märztagen 1928 verwirklichten, trotz Sturm und Unwetter, in 13 Tagen und 12 Nächten Karpinski und Narkiewicz-Jodko den ersten Übergang über den ganzen Kamm der Tatra. Diese Fahrt lässt sich mit einer Übersteigung des Col des Hirondelles—Col du Géant ( zwar um 2000 m höher, aber dafür zweimal kürzer ) vergleichen.

Von dieser Zeit an bis zum zweiten Weltkrieg hinterliessen die Polen « monopolistische Unternehmungen », über welche erst nach Jahren Berichte bekannt wurden. Die schwerstüberwmdlichen Kämme und Wände, vielleicht im Ausmass kürzer, aber technisch schwerer als die Meistertouren im Wilden Kaiser und im Gesäuse, wurden begangen. Es ist deshalb kein Wunder, dass sie nach einem solchen « Training », als sie in die Alpen kamen, Routen wie Peuterey, Sentinelle Rouge, Innominata oder Südwand der Meije im ersten Ansturm bewältigten.

Dank dem mutigen sportlichen Geiste und den gesunden Bedingungen in den Vereinen Polskie Towarysztwo und Club Wysokogorski PTT konnte die polnische Expedition nach den Grossen Bären-Inseln ( 1932/33 ), Spitzbergen, in den Grossen Atlas und mehrere Expeditionen in die Anden, bei denen sie den Gipfel des Aconcagua nebst mehreren Erstbesteigungen als Ernte heimbrachten, zustande kommen Sie konnten Besteigungen im Kaukasus durchführen und fuhren nach Grönland. Dr. Bernadzikiewickz erreichte mit seinen Kollegen den Gipfel des Ruwenzori. In Polen kam es schon 1936 zur Gründung der Himalaya-Sektion. Ohne langes Erwägen verwandelten sie Träume in Wirklichkeit und standen als erste auf dem Gipfel des Nanda Devi East ( 7430 m ).

Zur Karte der Hohen Tatra:

1. Krivân - 2496 2. Satan-2432 3. Velky Mengusovsky, Gr. Mengsdorferspitze - 2437 4. Volovâ veza, Ochsenrückenturm - 2355 5. 2abi kûn, Froschseeturm - 2269 6. Rysy, Meeraugespitze - 2503 7. Vysokâ, Tatraspitze - 2565 8. Ganek-2465 9. Zlobivä, Marthespitze - 2433 10. Konêistâ - 2475 11. Kaöf, Ententalspitze - 2395 12. Batizovsky, Botzdorferspitze - 2458 13. Stalinûv stit, Gerlachovka, Gerlsdorferspitze - 2663 14. Bradovica, Warze - 2492 15. Slavkovsky, Schlagendorferspitze - 2453 16. Javorovy - 2424 17. Stredohrot, Mittelgrat - 2440 18. Ladovy, Eistalerspitze - 2630 19. Lomnicky, Lomnitzerspitze - 2634 20. Ke¾marsky, Kesmarkerspitze - 2556 Zum Leidwesen der Polen kehrten Adam Karpinski und S. Bernadzikiewicz von ihren Unternehmungen nicht mehr zurück. Es ereilte sie ein ähnlicher Tod wie die Expedition Wiens auf dem Nanga Parbat. So vermehrten sich die Schatten, welche von allem Anfang an die fast aussergewöhnlichen polnischen Bestrebungen begleitete. Denn vom Sturm der Sportler in der Jagd nach Spitzenleistungen ist im Alpinismus nur ein kurzer Schritt in den Abgrund. Eine so bittere Bilanz wie in den « polnischen Gipfeljahren » kann man nur beim stürmenden deutschen Aufschwung der dreissiger Jahre finden: Die bekannten Bergsteigerinnen Schwestern Skotnicowa starben am Fusse der Zamarla Turna, als sie deren Südwand besteigen wollten. Der leuchtende Stern Stanislawskis erlischt nach extremen Taten an der unbedeutenden Felswand im Botzdorfer Tal. Der berühmte Birkenmeyer erlag im Schneesturm im April 1933 beim Versuche des Durchstieges der Nordwand des Ganek. In der winterlichen Nordwand der Mengsdorferspitze erlag Abgarowicz. Es verging keine Saison, ohne dass einer aus der ersten Reihe der polnischen Bergsteiger ausschied.

Die schweren Verluste des polnischen Alpinismus in den Bergen vermehrten sich noch während des zweiten Weltkrieges in den Konzentrationslagern. Es hatte den Anschein, dass sich der Alpinismus in diesem schwergeprüften Lande nicht mehr erholen würde. Und doch! Nach der alten Tradition überstiegen im Jahre 1947 Piotrowski, Sedlecki und Warwa die Grandes Jorasses als zweite Partie; zwölf Jahre nach den französischen Erstbesteigern. Alles wies darauf hin, dass die Polen an Seite der westlichen Alpinisten in den Himalaya-Ring eintreten würden.

Statt dessen kam es aber zu einem plötzlichen Erlahmen. Der nährende Boden verdorrte durch die Einschliessung bis auf einen kleinen Teil der Tatra. Die früher hohen Leistungen polnischer Bergsteiger gingen zurück, wurden seltener. Und nun haben tschechische Bergsteiger die Tatra entdeckt!

Die Tschechoslowaken traten in den Alpinismus im heutigen Sinne des Wortes erst spät ein. Nach der alten Generation zu Anfang unseres Jahrhunderts, die sich in der Felsentouristik der Julischen Alpen auf nationaler Basis entwickelte, fuhren nur einige Einzelgänger bewusst in die Alpen. In den dreissiger Jahren waren es besonders Janeba, Rozehnal, Vrzak u.a. Sie vermochten gegen 50 Viertausender vom Biancograt des Bernina bis zum Mont Blanc zu besteigen, und einer von ihnen gelangte bis in den Atlas und in die Rockies. Aber zu einem bemerkenswerteren Alpinismus auf breiter Basis kam es bei den Tschechen nicht.

Ein noch kleinerer Anteil fiel auf die Slowaken, die in ihrem Land ein einfaches Leben führen mussten. Das bergsteigerische Leben in der Hohen Tatra entwickelte sich eher in der Richtung einer nationalen Massentouristik, die weiteste Kreise zu erfassen vermochte, was aus der folgenden Statistik ersichtlich ist: Die höchste Tatraspitze besuchten 1871: 2 Personen, 1899: 46, 1904: 72, 1928: 125, 1930: 390, 1932: 661 und 1937 fast 1000 Personen. Die Tatra wurde in den letzten zwei Jahrzehnten zur Mode, zum Mittelpunkt der Touristik.

Nur einzelne Tschechen hinterliessen bemerkenswerte Leistungen. Vlasta Staflovâ durchstieg kurz vor ihrem tragischen Ende die Ostwand des Ochsenrückenturmes. Dr. Baron durchging mit seinen Gefährten die Nordwand des Froschseeturmes. Auf dem Felde der lokalen Fachliteratur zeichneten sich Kroutil, Gellnar und Veverka aus. Die eigentliche Wiege des tschechischen Bergsportes lag in den böhmischen Sandsteinfelsen. So endet 1938 seine Bilanz.

Nach dem zweiten Weltkrieg und durch die Umorientierung der Tschechoslowakei kam es zu einer radikalen Änderung. Touristische und bergsteigerische Organisationen wurden aufgelöst und dem Staatssport einverleibt. Der Zweck wurde zum Mittel: Bergsteigen sollte auf Grundlage der Massenbetätigung zur Erhöhung der körperlichen Leistungsfähigkeit des Volkes dienen.

Die Tore der ehemals schweigsamen Berge, Eigentum von Auserwählten, die keine Anstrengung scheuten, öffneten sich dem breiten Strome der Sommerfrischler. Hotels, frühere Tummelstätte der Abendtoiletten, verwandelten sich in Mittelpunkte der Rekreanten, welche nach der Arbeit hierher kamen, um Erholung zu suchen, aber manchmal so wie ihre Vorgänger wenig Gemeinsames mit der Bergnatur hatten. « Vermassung der Berge » geschah hier auf andere Weise wie im « Circus Alpinus ».

Vom frühen Morgen an belebt heute die Menschenmenge den Rand des Czorber Sees nicht weniger als den Wiener oder Münchener Rathausplatz. Die Drahtseilbahn bringt Ströme von Besuchern auf die zweithöchste Spitze. Die alten Schutzhütten genügen nicht dem Andrang der Saison-besucher, so dass der verjagte Naturfreund alten Schlages seine Welt erst im Nebel der Herbstmonate aufsuchen kann.

Zum Schütze der Natur wurde der ausgedehnte Tatra-Nationalpark TANAP errichtet, dessen Teil auf den nördlichen Abhängen die Reservation des früheren Adelsgutes war, eine Perle, die selbst dem berühmten Nationalpark am Gran Paradiso kaum nachsteht. Gemsherden begleiten überall die Schritte des Bergsteigers. Über den Häuptern kreist der Adler, der in den Alpen selten geworden ist. Murmeltierkolonien sind überall zu treffen und z.T. recht zutraulich geworden. Es ist keine Seltenheit, dem König der Bergwälder, dem geschützten Bären, zu begegnen. So konnte das Weisswassertal ( Poduplazki, Bëlovodskâ dolina ) zu einem Naturschutzgebiet von grösster Bedeutung werden.

Der Staat sorgt heute für die Bergsteigererziehung. In staatlichen Kursen werden Instruktoren ausgebildet. In Tabellen werden die Bergsteiger in Klassen nach vorgeschriebenen Leistungen eingeteilt. Die höchste Stufe ist der Repräsentationsrang eines « Meisters des Sportes ». Dabei ergibt sich das Paradoxe, dass ein « Meister des Alpinismus » keinen Gipfel über 3000 m oder einen Gletscher erblickte. Aber auch ein Comici, Piaz oder andere haben ja ihre Unsterblichkeit auf Felsen ohne Viertausender und Gletscherwelt errungen!

Unter diesen Umständen gelangte das Bergsteigen in der Tschechoslowakei in eine « dynamische Bewegung » und konnte in seinen Bergen erstklassige Leistungen hervorbringen. Für die neue Generation blieben allerdings keine jungfräulichen Gipfel mehr, und auch die Mehrzahl der Wände und Kämme lag ihres Zaubers beraubt. Dennoch fand sie viele neue technische Probleme, aber von Bedeutung 2. oder 3. Klasse. Durch natürliche Entwicklung und in der Suche nach dem Ersatz für die Gletscherwelt gelangte sie zum Winteralpinismus in der Tatra und ihren Vorbergen.

Die slowakische Jugend trat auf breiter Front in die vorderen Reihen des heimatlichen Sportes. Arno Puskas mit Gefährten bestieg die Nordwand des Froschseeturmes im Winter, eine Tour, die schon im Sommer die V. VI. Schwierigkeitsstufe erreicht. In der Wintersaison 1951/52 stieg die Zahl der winterlichen Erstbesteigungen auf 28 und erreichte diejenige der Polen, welche in dem begrenzten Fünftel der polnischen Tatra 30 Erstbesteigungen aufwiesen. Im folgenden Winter stieg die Zahl auf das Zweifache und fand ihren Höhepunkt in der Besteigung der Kleinen Kesmarkspitze durch die vereiste Nordwand ( Puskas, Cerman ) und in der Durchkletterung der Mittelführe in der Nord-wandgalerie des Ganek.

Die staatliche Mannschaft und andere überquerten den winterlichen Tatrakamm in mehreren Variationen in Ost- und Westrichtung, im Stafettenklettern und -laufen. Hunderte von Bergsteigern kampieren in Schneestollen und winterlichen Lagern; in letzter Zeit konnte es auch zu gemeinsamen Unternehmungen mit polnischen und rumänischen Bergsteigern kommen.

Kurz und gut: man kann sich jetzt nicht beklagen, dass die Tatra von den einheimischen Sportlern nicht besucht wird! Nach Puskas'Statistik verzeichnete die Wintersaison 1953/54 50 Erstbesteigungen. Dabei spricht man nicht einmal von den Wiederholungen. Bei einem solchen Ansteigen der Ziffer wird es nicht lange dauern, bis die Wände des Tatraparadieses von den Händen so abgegriffen sein werden wie die Felsen der Fleischbank oder der Lalidererwände!

Die einst verlassene Tatra ist zum Gebiet des Volkstourismus geworden. Der alte Wundt würde sich verwundern, wenn er die bunte Menschenmenge statt der frühern menschenleeren, verschneiten Täler sehen würde!

Für den heutigen ausländischen Spitzenbergsteiger verliert die Tatra aber an Anziehungskraft, gleichwie die heutigen Pyrenäen und Korsika, ja sogar die Alpen. Aber dem bescheideneren Sportler bietet dieses Land mit seinen wildzerklüfteten Türmen dieselbe Befriedigung wie das Granitparadies des Bergells. Dem Freund der Hochgebirgsfauna vermag es im Naturschutzgebiet soviel unberührte Schönheit und lebendige Tierwelt zu zeigen, wie wohl nicht in manchem Gebiet.

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