Die Urschweiz und die ersten Bewohner am Vierwaldstätter See
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Die Urschweiz und die ersten Bewohner am Vierwaldstätter See

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Wilhelm Amrein

Mit 2 Bildern.Luzern ).

Von den hohen Zinnen des Bürgenstocks aus lassen wir die wechselvolle Geschichte unserer Gegend an unserm geistigen Auge vorüberziehen. Mit Ehrfurcht betrachten wir die leuchtenden Firnen der Alpenwelt, den märchenhaften, vielgestaltigen Vierwaldstätter See. Der Altmeister der schweizerischen geologischen Forschung, Professor Dr. Albert Heim, hat ihn als den schönsten See der Erde bezeichnet. In dieser herrlichen Landschaft nehmen wir aber auch tiefe Wunden wahr, die der Mensch der Natur angetan hat. Hässliche Steinbrüche, Uferstrassen, Quaianlagen, unpassende Bauten und Reklamen beleidigen das Auge des Natur- und Heimatfreundes. Die schönsten Uferpartien des Vierwaldstätter Sees sollten vor dem Eingriff des Menschen geschützt und als Naturschutzreservation erklärt werden. Angesichts der Schädigungen im Landschaftsbild schweifen die Gedanken des stillen Wanderers gerne in die Vergangenheit zurück. Ungezählte Bewunderer des Vierwaldstätter Sees wissen oder bedenken nicht, dass das geliebte Antlitz unserer schönen Heimat nicht immer denselben Ausdruck hatte. Je weiter wir in die Erdgeschichte zurückblicken, um so unähnlicher wird unsere Gegend dem heutigen Bild.

In der Tertiärzeit war das Gebiet der Alpen noch ein Hügelland. Zwischen dem entstehenden Alpenwall und dem Jura breiteten sich im heutigen Mittelland abwechselnd ein riesiger Süsswassersee, dann ein Meeresarm und nachher wieder ein Süsswasserbecken aus. Die Landschaft wurde von Pflanzen und Tieren belebt, die wir sonst in tropischen Zonen treffen. Im Laufe der Tertiärzeit entstanden im Süden die Alpen. Die frühern Meeresablagerungen wurden durch die Einwirkung der Alpenfaltung vertikal gestellt. Mächtige Gesteinsschichten wurden kilometerweit geschoben und auf andere hinaufgetragen.

Wohl infolge von Klimaschwankungen folgte das Eiszeitalter oder Diluvium. Die Alpengletscher flössen in mächtigen Firn- und Eisströmen in das Vorland und füllten den Raum zwischen Alpen und Jura aus. Die Landschaft war derjenigen von Grönland ähnlich. Der Reussgletscher drang vom Gotthard her, überflutete das Gebiet des Vierwaldstätter Sees und breitete sich weiter aus. Der Reussgletscher hatte zur Haupteiszeit in der Gegend von Luzern eine Mächtigkeit von ungefähr 1000 Meter. Während der Zwischeneiszeiten war die Herrschaft des Eises für Jahrtausende gebrochen. Das Klima war dem heutigen ähnlich, sogar noch etwas wärmer. Die Landschaft wies eine reiche Pflanzenwelt mit ausgedehnten Wäldern auf. Als Vertreter der Tierwelt sind uns bekannt: Höhlenbär, Höhlenhyäne, Höhlen-panther, Höhlenlöwe, Renntier, Steinbock, Riesenhirsch, Lemming, Murmeltier, Alpenhase sowie verschiedene Elefanten- und Nashornarten, u.a. das Mammut.

Die Eiszeit hat auch in unserm Lande deutliche Spuren ihrer unbändigen Naturkraft hinterlassen: mächtige Moränen, Findlinge, Drumlins, Rund- höcker sowie Gletschermühlen und Gletscherschliffe. Wohl die interessantesten Zeugen der letzten Vergletscherung finden sich im heute -weltberühmten Gletschergarten in Luzern. Dieses Denkmal der Urwelt, eine Wirkung des Reussgletschers, macht auf den Beschauer einen unvergesslichen Eindruck. Die im Jahre 1872 entdeckten 32 Gletschermühlen wurden bis 1875 ausgegraben. Sie verdanken ihre Erhaltung dem Entdecker, J. W. Amrein-Troller ( 1842—1881 ).

Erst gegen das Ende der Eiszeit trat die Einsenkung der Alpen und damit auch die Bildung des Vierwaldstätter Sees ein.

Die Gegenden von Luzern und des Vierwaldstätter Sees galten noch vor wenigen Jahren als ein an urgeschichtlichen Funden armer Fleck Erde. Die früheste Geschichte war in vollständiges Dunkel gehüllt. Allgemein war die Ansicht verbreitet, dass die Urschweiz erst in historischer Zeit von Menschen besiedelt war. Als Grund wurden angegeben die steilen Ufer, die keine Siedlungsmöglichkeiten böten, und die herrschende Wildnis, in die sich kein menschlicher Fuss hineinwagte. Tatsache ist, dass Spuren von menschlichen Wohnstätten in der Innerschweiz schwer nachweisbar sind. Die schwankenden Seestände des Vierwaldstätter Sees und die mächtigen Ablagerungen von Geröll und Sand durch Bäche und Flüsse haben das Landschaftsbild wesentlich verändert. Viele Reste von Siedlungen wurden entweder vernichtet oder meterhoch eingedeckt. Während der Zwischeneiszeiten und nach dem Abschmelzen des Reussgletschers scheint das Niveau des Sees bedeutend höher gewesen zu sein. In der Jüngern Steinzeit und in der Bronzezeit dagegen war es mindestens 4-5 m tiefer als heute.Von diesem Gesichtspunkte aus müssen die nachfolgend geschilderten Ergebnisse urgeschichtlicher Forschung beurteilt werden. Nur durch systematisches Suchen und Benützung aller möglichen technischen Hilfsmittel ( Bagger, Erdölbohrer u.a. ) konnte in mühsamer Arbeit während mehr als zwei Jahrzehnten die Vergangenheit erhellt werden.

Die frühesten Spuren des Menschen reichen auch in der Urschweiz in das Eiszeitalter zurück. In der 25 m tiefen Nagelfluhhöhle « Steigelfadbalm » an der Rigi ( 960 m ü. M. ), unter der mächtigen Felswand des Dossen, konnte 1922 der Nachweis geleistet werden, dass der eiszeitliche Mensch während der letzten Zwischeneiszeit dort oben gelebt hat. Im Laufe der Grabungen, die von 1913 bis 1937 während 180 Arbeitstagen unter der Leitung des Verfassers durchgeführt wurden, kamen zahlreiche Reste des Höhlenbären ( ursus spelaeus ) und anderer Tierarten zum Vorschein. Viele Knochen in der Höhlenbärenschicht weisen aber auch deutliche Kennzeichen auf, dass der Höhlenbärenjäger damit gearbeitet hat. Auch Werkzeuge aus Stein wurden festgestellt. Die Frage der Steinwerkzeuge war angesichts des vielen, für Werkzeuge geeigneten Nagelfluhmaterials nicht leicht zu lösen. Vollständig neu in der paläolithischen Höhlenforschung sind eine Anzahl künstlich durchbohrter Wirbel des Höhlenbären, die vom Menschen offenbar als Amulette oder Jagdtrophäen getragen wurden. Im vordersten, belichteten Teil der Höhle wurden zahlreiche Feuerstellen festgestellt. Sie waren meist in natürlichen Vertiefungen, im ursprünglichen Höhlenboden. Es ist dies - ein Beweis, dass der eiszeitliche Mensch bald nach dem Abschmelzen des Reussgletschers nach der dritten Vergletscherung ( Riss ) in die Rigihöhle eingezogen ist. Feuerstellen auch in obern Lagen geben uns Kunde, dass diese Höhle lange bewohnt war. In unmittelbarer Nähe der Herdstellen konnte ein Lagerplatz des Höhlenbärenjägers festgestellt werden. Er war kenntlich an vielen kleinen und grossen Rollsteinen, die aus dem Nagelfluh-boden hervorragten und mit ihm noch fest verkittet waren. Alle hatten eine fein polierte Oberfläche. Ringsherum lagen Knochenwerkzeuge. Auch in späteren Zeiten haben Jäger der jungem Steinzeit und der Bronzezeit die Höhle besucht, wie Funde gezeigt haben. Die Forschungen in dieser ältesten menschlichen Siedlung der Innerschweiz sind im Jahre 1937 zum Abschluss gekommen. Diese Rigihöhle ist die erste Höhlenbärenfundstätte im tertiären Gebiete überhaupt, in Nagelfluh-Mergel-Schichten eingelagert. Sie ist die erste altsteinzeitliche Station in der Urschweiz und gleichaltrig wie die bekannten eiszeitlichen Höhlen der Ostschweiz, Wildkirchli, Drachenloch, Wildenmannlisloch, die von Dr. Emil Bächler in St. Gallen vorbildlich erforscht wurden.

Durch methodische See- und Bodenuntersuchungen, die seit 1916 Jahr für Jahr durchgeführt wurden, gelang es, in der Umgebung von Luzern Spuren von weiteren urgeschichtlichen Siedlungen festzustellen.

Bereits im Jahre 1898 wurden bei Bahnbauten im Hochmoor « Lärchen-bühl », bei Meggen, Knochenfunde von Renntieren und anderen Tierarten des Jüngern Paläolithikums gemacht. Es sind Anzeichen vorhanden, dass dort vor 15 000-20 000 Jahren eine Renntierjägerstation war. In der Mittelsteinzeit, dem sogenannten mesolithischen Zeitabschnitt, um 8000 v. Chr., ist das Gebiet des Langackerwaldes in Winkel-Horw mindestens begangen worden. Der Fund einer typischen Tardenoisienspitze und anderer Mikrolithen bestätigen diese Annahme.

Als wichtige Entdeckung des Jahres 1927 erwähnen wir die Feststellung von Spuren einer Siedlung auf einer kleinen Insel am See bei Winkel-Horw, in einer Tiefe von 4,5-5,2 m. Das Fundmaterial lässt den Schluss zu, dass es sich um eine jungsteinzeitliche Pfahlbaute handelt. Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen. Auf einer Anhöhe, 100 m oberhalb, fand sich eine ausgedehnte Landsiedlung aus der Jüngern Steinzeit, etwa 2000 v. Chr. In einem Felskamin wurden über 50 Feuerstellen, treppenförmig übereinander gelagert, Feuersteine, Topfscherben, Knochen und auch einzelne Werkzeuge gefunden. Diese Höhensiedlung liefert erstmals den sichern Beweis, dass Menschen der Pfahlbauzeit am Vierwaldstätter See gelebt haben. Auch in der Bronzezeit bis in die Eisenzeit ( Hallstattperiode, ungefähr 600 v. Chr. ) waren die drei Terrassen ununterbrochen bewohnt. Zur Zeit der dichtesten Besiedlung wird die Höhe des Langackerwaldes etwa 75 Wohnstätten von ungefähr 5x3,5 m getragen haben. Die Herdstellen scheinen jeweilen in der Mitte der Hütte, nicht an der Wand, angelegt gewesen zu sein. Nach der Zusammensetzung und der Mächtigkeit der Kulturschicht ( bis 1,2 m ) zu schliessen, hat die Besiedlung am Südhang eingesetzt. Der geringe Inhalt der Kulturschicht erklärt sich durch die Zersetzung des Knochenmaterials .'und der Tonscherben infolge der Witterungsverhältnisse im Gebiete des Langackerwaldes durch die Einlagerung in die schlecht konservierenden Lehmschichten. In unmittelbarer Nähe wurden im Jahre 1932 Spuren einer Siedlung mit Rundhütten und einem Schmelzofen festgestellt, die wahrscheinlich aus der La Tène-Zeit stammen. Weiter südlich befindet sich eine andere interessante Stätte. Bei einem mächtigen Granitfindling, der heute leider zerstört ist, befand sich, wenn nicht alle Anzeichen trügen, eine Siedlung aus der Jüngern Steinzeit. Feuersteinsplitter und eine starke Brandschicht weisen darauf hin. Wir vermuten, dass sich bei Schönbühl südlich von Tribschen ein Pfahlbau befindet. Es scheint, dass diese ehemalige Insel auch in römischer Zeit bewohnt war. Die Resultate dieser Forschungen hat der Verfasser in der « Urgeschichte des Vierwaldstätter Sees und der Innerschweiz » 1939 veröffentlicht.

Durch systematische Bodenforschung ist der Nachweis geleistet worden, dass die Gegend von Luzern und das Gebiet der Waldstätte in der Urzeit seit dem Eiszeitalter mit Unterbrechungen bis in die geschichtliche Zeit, wenn auch spärlicher als in der übrigen Schweiz, von Menschen besiedelt waren.

Aber die noch zu leistende Arbeit zur Abklärung dieser Besiedlung ist grösser, als das, was bisher getan wurde. Die Forschungen müssen fortgesetzt werden, um die Siedlungsgeschichte der Urschweiz immer mehr zu klären und volles Licht in das Dunkel zu bringen.

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