Die Verwilderung unserer Hochgegenden
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Die Verwilderung unserer Hochgegenden

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Ein Beitrag zur alpinen Kulturgeschichte.

Von B. Eblin ( Sektion Rhätia ).

Die Hülfsmittel der Verwilderung des Alpengebirgs und seiner lokalen Erkältung entgegen zu wirken, beschränken sich auf Erhaltung und Herstellung des Rasens der höchsten Alpenweiden und auf Erhaltung und Herstellung der Alpenwälder.

K. Kasthofer, 1822.

Die Bezeichnung einer „ Verwilderung " ist für unser Hochgebirge seit ungefähr einem Jahrhundert sowohl beim Älpler als in der alpinen Litteratur eine ziemlich gebräuchliche. Man spricht von einer „ Verwilderung unserer Hochgebirgsnatur ", sodann von einer „ Verwilderung unserer Hochgegenden ". Wenn von der Verwilderung unserer Hochgebirgsnatur die Rede ist, so denkt man im allgemeinen an die Verwilderung des Alpenklimas, welche sich hauptsächlich in häufiger und heftiger gewordenen trocknenden und kältenden Winden kund giebt, man denkt ferner an die Zunahme verderblicher Elementarkatastrophen, wie Bergstürze, Erdschlipfe, Steinschläge, Wildbachverheerungen, Lawinenfälle und dergleichen, ferner an die Folgen dieser Vorgänge: an den Zerfall der alpinen Bodenkultur in Forst und Feld. Spricht man hingegen von der Verwilderung der Hochgegenden, so hat man meist die wirtschaftlichen Folgen der veränderten Hochgebirgsnatur im Auge: die zunehmende Verarmung, Entvölkerung und Verödung der in Frage kommenden Alpengebiete.

Schon zu Anfang dieses Jahrhunderts machten patriotische Männer auf die Verwilderung unserer Alpennatur und deren wirtschaftliche Folgen aufmerksam und bezeichneten die Zerstörung der Alpenwälder als in erster Linie für diese bedeutsamen Vorgänge verantwortlich. Namentlich war es Podestà Albertini, der schon ums erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts der unter der Gebirgsbevölkerung noch heute so verbreiteten irrigen Anschauung entgegentrat, daß eine allgemeine Verschlechterung des Alpen- klimas den Rückgang unserer alpinen Bodenkultur bedingt habe. Mit besonderm Nachdruck betonte dieser Patriot im „ Neuen Sammler für Bünden ", daß die durch eine fehlerhafte Forstbehandlung und Forstbenutzung erzeugten lokalen Boden- und Klimaverschlechterungen vor allem es seien, welche die Verwilderung unserer Alpengegenden herbeigeführt haben.

Aber selbst heute, am Schlüsse des Jahrhunderts, sind unsere Älpler von diesen Anschauungen noch keineswegs überzeugt, im Gegenteil. Mit einem geradezu unerklärlichen Gleichmute stehen in unserm Gebirge das Volk und zum Teil auch die Behörden der noch andauernden Entvölkerung und Verödung unserer Hochthäler gegenüber, diese Vorgänge gleichsam als eine unvermeidliche Fügung des Himmels betrachtend. Es ist unbegreiflich, wie unsere Gebirgsbevölkerung die Notwendigkeit der Walderhaltung nicht einsehen will, trotzdem als Folgen der Waldzerstörung die Lawinen so gewaltige Opfer fordern, trotzdem unter dieses Volkes Augen nicht nur, sondern sogar Füßen, ganze Dörfer in Bewegung sind, unter seinen Augen einst blühende Dorfschaften jetzt der Verödung entgegengehen, unbegreiflich, wie dieses Volk in seinen zahlreichen Alpsagen für die ihm der Thatsache nach nur zu wohlbekannte „ Verwilderung " nach einer Erklärung sucht, diese doch so nahe liegende bis auf den heutigen Tag aber nicht finden will.

So kann denn nicht genug betont werden, daß diese Vorgänge in unserm Hochgebirge zum Großteil die Folgen forstlicher Raubwirtschaft sind und keineswegs in der Natur unserer Alpengegenden begründete Erscheinungen. Immer von neuem muß darauf hingewiesen werden, daß wir in weitgehendem Maße die Mittel in Händen und daher die Pflicht haben, durch wirtschaftliche Maßnahmen die Kulturfähigkeit unseres Hochgebirges zu heben und, wenn möglich, auf ihren frühern Stand zurückzuführen.

I. Der Wald als Klima-, Boden- und Kulturschutz.

In folgendem wollen wir den Wald in seinem Einflüsse als Klima-und Bodenschutz und als Schutz der landwirtschaftlichen Kulturen kurz betrachten. Es wird uns dies die Erscheinungen der Verwilderung unserer Hochgebirgsnatur und unserer Hochthäler etwas verdeutlichen und die hochwichtige Rolle, die der Wald im Haushalte unseres Alpengebirges als Schutzmantel zu spielen berufen ist, etwas klarer vor Augen führen.

A. Der Einfluss des Waldes auf das Klima unserer Alpenthäler.

Es ist eine allbekannte Thatsache, daß das Alpenklima kein konstantes ist, sondern einem mehr oder weniger bedeutenden Wechsel unterworfen war und noch ist. Diese Veränderungen im Klima unseres Hochgebirges sind doppelter Natur, allgemeiner und lokaler. Schon seit längerer Zeit sind allgemeine Veränderungen im Alpenklima periodischer Natur erkannt und in neuester Zeit näher erklärt und beleuchtet worden. Diese Klimaschwankungen periodischer Natur, welche sich in Verschiebungen der Schnee- und Gletschergrenzen und in Verschiebungen der Vegetationsgrenzen auch dem Auge kund geben, dürften wohl kaum von gerade hoher wirtschaftlicher Bedeutung sein. Allenfalls können günstige Perioden im Klima unseres Hochgebirges dazu benutzt werden, durch das Mittel des Anbaues unsere rückgängigen Grenzen von Wald, Weide und Kulturpflanzen zu heben.

An ökonomischer Bedeutung werden diese Klimaschwankungen allgemeiner Natur weit übertroffen von den Veränderungen lokaler Natur im Klima unserer Alpen, die wir als „ Klimaverwilderung " bezeichnen müssen und als eine Folge der forstlichen Raubwirtschaft zu betrachten haben.

Über den Einfluß des Waldes auf das Klima überhaupt und auf die Witterungserscheinungen im besondern sind von zahlreichen forstlich-meteorologischen Instituten bereits seit einer längern Reihe von Jahren umfangreiche systematische Untersuchungen eingeleitet worden und schon gewaltige Bände sind über die „ Waldklimafrage " vor die Öffentlichkeit getreten. Ich kann mich hier auf diese Erörterungen nicht einlassen und halte dies für um so weniger nötig, als die tausendfältigen Standortsverhältnisse unseres Hochgebirges einen so unendlichen Wechsel in dessen klimatischen Verhältnissen bedingen, daß der Einfluß einer speciellen Lokalität oft selbst wichtige andere Beeinflussungen total verwischt; es gelangt in unserem Alpengebirge das lokale Klima zu seiner denkbar größten Bedeutung. So müssen wir denn auch die Klimaverwilderung unseres Hochgebirges, obwohl im ganzen Alpengebirge nachweisbar, als eine, wie bereits erwähnt, lokal entstandene Klimaveränderung bezeichnen.

Einen, wenn auch nur in engerem Sinne, etwas allgemeinern Charakter haben diese durch die Zerstörung der Alpenwälder bedingten lokalen Klimaveränderungen dadurch erhalten, daß die Verminderung des Waldareales bedeutende Verschiebungen der Schnee- und Gletschergrenzen zur Folge hatte, welch letztere ihrerseits ganze Thalschaften merklich zu beeinflussen vermögen. Hören wir, was Kasthofer in seinen „ Betrachtungen über die Veränderungen im Klima des Alpengebirgs " 1822 über diese Dinge schreibt: „ Je mehr der Holzwuchs auf den Abhängen der Thäler, die am Fuße der hohen Alpen streichen, geschwächt wird, je mehr durch die Folgen dieser Schwächung die nackten Felsen zu Tage kommen und der Rasen nach verschwundenem Schütze zerstört wird, desto mehr steigt während der Sommermonate die Temperatur der Thäler, besonders wenn sie von Ost nach West streichen, desto mehr fällt diese Temperatur, wenn diese Thäler den kältenden Nordwinden offen stehen. Im ersten Falle also wird die Schneelinie überhaupt hinauf, im zweiten herunter rücken. In beiden Fällen aber werden die Strömungen der Winde häufiger und heftiger, die Winter kälter werden, und es fällt die Möglichkeit in die Augen, daß in den Thälern wie auf den hohen Alpen die Zerstörung des Holzwuchses, obgleich durch sie die mittlere Jahrestemperatur erniedrigt werden kann, die Erhöhung der Schneelinie einerseits und zu gleicher Zeit das Sinken der Vegetationsgrenze einzelner Pflanzengeschlechter anderseits zur Folge haben könne. " So hat denn das Verschwinden oder die Schwächung des Baumwuchses in den Thälern sowohl als in den Hochalpen in mehrfacher Hinsicht die bedeutsamsten Folgen.

Durch seine günstige Beeinwirkung des lokalen Klimas unserer Alpen hat der Wald einen großen Einfluß auf die Kulturfähigkeit einer beschränkten Gegend. Wir wollen dies an einem Beispiele erläutern, auf das Kasthofer aufmerksam macht; dabei hat für unsere Untersuchung der Umstand keine Bedeutung, daß im vorliegenden Falle das schützende Medium nicht durch einen Wald, sondern durch eine Felswand repräsentiert ist. Wir denken an das Bergell ob Porta und an dasjenige unter Porta. Wie durch Zauberschlag scheint das untere Bergell gegenüber dem obern verändert und die Ruine Porta, die ehemals von einem Berghang zum andern das Thal verschlossen, die Grenze zwischen dem nördlichen und dem italienischen Himmel zu sein. Ob der Porta, d.h. an der Mera aufwärts gegen Borgonuovo hin, finden sich wenige Nußbäume und keine Kastanienbäume noch Feigenbäume mehr; aber dicht an dem Felsen, auf dem der Turm aus grauer Vorzeit sich malerisch erhebt, haben sich auf dem granitenen Gestein schöne Nußbäume und die schönsten Kastanienbäume angesiedelt, deren Zweige unter der Last der Früchte sich beugen. Unweit unterhalb Porta, gegen Bondo hin, sind die Gärten schon überall mit Feigenbäumen geziert. Ähnliche Vegetationsscheiden haben wir auch im Livinenthal, ferner im Misox in der durch die Felsen der alten Veste Misocco gebildeten Thalverengung. Wohl selten aber findet man so scharf ausgesprochene Unterschiede in der Vegetation naheliegender Standorte, wie dies bei dem untern und obern Bergell in der Nähe der Porta der Fall ist.

Die Erklärung dieser Vegetationsscheiden liegt in erster Linie in der hemmenden Wirkung solcher die Thäler durchquerender Felswände oder Wälder auf gefährliche, trocknende und kältende Windströmungen. Solche Wälder sind klimatische Schutzwälder, speciell Windbrecher. So unterscheidet auch Bergrat Zötl in Hall, ein bewährter Gebirgsförster, im Jahre 1844 in seiner Schrift über Behandlung und Anlegung der Bannwälder im Hochgebirge als besondere Waldkategorie solche „ gegen Winde und Verwilderung des Hochgebirgsdenn auch in den österreichischen Alpen wurde die Erscheinung, daß die Entwaldung des Hochgebirges den Winden unbezähmten Zug gestattet über Alpenweiden, Mähder und Gehänge, wie auch in den Thälern, die fortschreitende Zerstörung des Rasens in den Alpen und das Zutagetreten des unfruchtbaren Gesteines, die Abnahme der Fruchtbarkeit in den Höhen und selbst in den Thälern, immer allgemeiner beobachtet. Die Erklärung erwähnter Klima- und Vegetationsscheiden liegt aber zum Teil auch noch in der Wirkung der betreffenden Lokalitäten als Wärmekessel; nicht nur werden, wie bereits erwähnt, schädliche Windströmungen abgehalten oder doch gebrochen; sehr oft werden auch milde Strömungen aufgehalten, angesammelt. Selbstverständlich äußern sich diese wohlthätigen Schutzwirkungen des Waldes nicht nur in den Sohlen der Thäler, sondern, wenn auch oft abgeschwächt, ebenso an den Gehängen.

Aus dieser lokalen Schutzwirkung des Waldes, welche mit zunehmender Windstärke, also auch mit zunehmender Meereshöhe, sich fortwährend steigert, zieht Kasthofer einige für die Kulturfähigkeit und Wohnlichkeit unseres Alpengebirges wichtige Schlüsse, die ich hier, mit notwendigen Abänderungen, wiedergeben will. Nicht die Quelltemperaturen oder die Beobachtungsresultate unserer meteorologischen Stationen sind es, welche die mögliche Mitteltemperatur einer Thal- oder Berggegend angeben. Nicht die absolute Höhenlage der Gebirge und nicht einmal immer die relative Höhenlage über den Thalsohlen ist es, welche dem Gedeihen wirtschaftlicher Nutzpflanzen das Ziel setzt; nicht diese Höhenlagen sind es, welche entscheiden, ob eine gegebene Alpengegend zur alpenwirtschaftlichen Niederlassung werden, d.h. von Menschen bewohnt werden kann, deren Erwerb der Landbau und die Viehzucht sind. Alle diese Grenzen des möglichen Klimas einer gegebenen Gegend und des möglichen Gedeihens gegebener Pflanzen hängen von der Beantwortung der Frage ab, ob auf solchen Standorten Waldungen so gepflanzt und erzogen werden können, daß sie trocknenden und kältenden Winden Schranken zu setzen vermögen.

Die lokale Schutzwirkung des Waldes in klimatischer Hinsicht ist für unser Alpengebirge ein Faktor von weitgehendster Bedeutung und der Hauptschlüssel zur Erkenntnis der klimatisch bedingten Verwilderungs-erscheinungen in unserm Hochgebirge.Vergessen wir nicht, daß die Wucht der Winde mit zunehmender absoluter Meereshöhe und mit zunehmender Höhe über den Thalsohlen sich steigert, daß somit die heute vielfach waldlose oder doch waldarme Region der Hochalpen klimatisch gerade die schutzbedürftigste ist. So ist denn auch die Zerstörung unserer alpinen Waldbestände thatsächlich schon früh als die erste Ursache der folgenschweren Verwilderung unseres Alpenklimas betont worden. „ Sowohl nach meinen eigenen Erfahrungen, als nach denjenigen anderer Leute, welche Witterungsbeobachtungen gemacht haben, " schreibt in seinen „ Riflessi intorno alla conservazione dei boschi in un paese di montagna " Graf Hieronymus von Salis 1817, „ habe ich alle Ursache, anzunehmen, daß der grenzenlose Wälderhieb, der in diesen letzten Jahren auf der großen Kette der Alpen, welche die Schweiz und Deutschland von Italien trennt, geduldet wurde, die Hauptursache der Klimaverwilderung sei, deren jeder Schweizer sich beklagt. " In vollster Übereinstimmung hiermit schreibt 5 Jahre später der bernische Oberförster Kasthofer als Resultat sehr umfangreicher Studien über die Ursachen der Veränderungen im Klima unseres Alpengebirges: „ Die klimatischen Veränderungen, die in unsern Gebirgen beobachtet werden und nachteilig auf die Benützung der Alpen und der Thalgrunde wirken, rühren von der Zerstörung der Alpenwälder her. "

Zwei konkrete Beispiele, die ich Kasthofers erwähnter Arbeit über die Veränderungen im Alpenklima entnehme, mögen uns die durch die Zerstörung der Alpenwälder herbeigeführte Klimaverwilderung unserer Gebirgsthäler etwas verdeutlichen: das bernische Gadmenthal und Guttannenthal.

Das von Osten nach Westen streichende Gadmenthal verengt sich bei der sogenannten Schafftelen gegen das anstoßende, etwas mehr nördlich fallende Nessenthai. In der Verengung des Thales liefen dichte Fichtenwaldungen, der Sohleckwald und der Orgetliwald, an den steilen Berghängen bis in den Hintergrund des Thales. Vor 30 - 40 Jahren nun, schreibt unser Gewährsmann 1822, wurden diese Waldungen von der damaligen Bergwerksverwaltung kahl geschlagen. Seither ist der Berghang teils wegen mangelnder Besamung, teils wegen der Ziegenweide kahl geblieben, und es ist nach allgemeiner und übereinstimmender Angabe der Bewohner das Gadmenthal rauher geworden. Es wird geklagt, daß zuvor die Schneelawinen nie so häufig, die Nordwest- und Südwest-Winde nie so heftig gewesen, daß mehrere Gartengewächse nicht mehr wie vormals gedeihen und daß z.B. der Kabis selten mehr Köpfe bilde. Im Jahre 1788 haben nach der Versicherung bejahrter und glaubwürdiger Männer auf den Wiesen des Dorfes Gadmen noch bis 30'hohe und 8-10'im Umfange haltende Kirschbäume gestanden, die bisweilen Kirschen reiften. Seit etwa 35 Jahren, schreibt Kasthofer, sind hier keine Kirschen mehr zur Reife gelangt. Die alten Kirschbäume, von denen unser Gewährsmann noch Stöcke gesehen hat, sind zu Grunde gegangen und die jungen, die man nachzupflanzen versuchte, sind verdorben, nachdem sie kaum die Höhe von 8'erreicht hatten.

Im südlich gegen die Grimsel ansteigenden Guttannenthal liegt bei 1073 m Meereshöhe das Dorf Guttannen und tiefer in einer Thalverengung das Dörfchen Imboden. Seitdem zur Wiedererbauung des mehrmals abgebrannten Dorfes die Wälder von Guttannen entweder kahl oder doch sehr licht gehauen worden sind, weht der Föhn häufiger und heftiger das Thal hinunter. Vor der Einäscherung des Dorfes Guttannen wurde sowohl auf den dortigen Wiesen, als auch bei Imboden häufig Hanf gebaut; seither wegen früher eintretendem Schnee niemals mehr. Auch wurde in Guttannen sowohl als in Imboden vor Zeiten viel Kirschwasser gebrannt. Als Kasthofer schrieb ( 1822 ), geschah dies schon seit langer Zeit nicht mehr, weil die zwar noch vorhandenen Kirschbäume nicht mehr Früchte trugen.

B. Der Einfluss des Waldes auf die Elementarkatastrophen.

Sehr wohl bekannt, wenn auch oft zu wenig gewürdigt, ist zunächst der günstige Einfluß der Holzbestockung auf den Ablauf des Wassers in unsern Gebirgen. Gleich einem Seebecken oder einem künstlichen Wassersammler wirkt der Wald regulierend auf den Wasserablauf, indem sowohl das Kronendach der Bäume, als die durch Verwesung organischer Substanzen gebildete Humusdecke des Waldbodens das Sammeln und den Ablauf des Wassers bedeutend zu beeinflussen vermögen. Diese Wirkung des Holzwuchses offenbart sich sowohl bei starken Regenfällen als auch bei raschem Abschmelzen bedeutender Schneemassen infolge anhaltenden Föhnwetters als eine für unser Gebirge äußerst heilsame und es wird hiedurch die Wiederbewaldung zu einem wichtigen Momente unter den Faktoren der Verbauung unserer Wildwasser.

Sehr wichtig ist sodann der verzögernde Einfluß der Holz-Bestockung auf die Erscheinungen der Gebirgsabtragung in ihren verschiedenen Phasen, vor allem der Einfluß des Waldes auf die mechanischen Vorgänge der Gebirgsabtragung. An diese mechanische Schutzwirkung des Waldes knüpft sich die Bewohnbarkeit unzähliger Alpenthäler, welche ohne den Holzwuchs zu vegetationslosen Steinwüsten würden.

Nicht selten ist an Steilhängen die Zerstörung des Rasens eine direkte Folge der Waldzerstörung. An solchen der schützenden Pflanzendecke beraubten Lagen wirken dann die Regengüsse immer unwiderstehlicher, immer weiter hinab am Gehänge wird die Erde, die bis anhin durch die Vegetation gefestigt war, abgespült, um nicht selten das Material für die Stauungen der verheerenden Wildbäche zu liefern.

Noch eine weitere Erscheinung in der Gebirgsabtragung müssen wir erwähnen. Sobald nämlich in unserm Gebirge, der Vegetation und Erdschicht entblößt, einmal die kahlen Felsen zu Tage treten, zersetzt sich das Gehänge leicht durch die Gewalt des Wassers in flüssigem und festem Zustande. So beobachtet man in unserm Alpengebirge, daß da wo umfangreiche Waldschläge gemacht wurden, nachdem die Erde, die früher die Felsen bekleidete, vom Wasser längs der Berghänge fortgewaschen wurde, die nun der Wirkung der Atmosphäre und des Wassers ausgesetzten Felsen nach und nach selbst verwittern; gewaltige Felsblöcke lösen sich ab, um verheerend in die Thäler zu stürzen. Eine ganze Reihe verderblicher Felsstürze in unsern Alpen, zum Teil ganze Ortschaften begrabend, lassen sich direkt auf die Entwaldung zurückführen.

Eine weitere Schutzwirkung des Waldes von umfangreicher Tragweite ist seine Beziehung zu den Schneelawinen. Daß die Holzbestockung die Lawinenbildung verhindert, ist eine allbekannte Thatsache. Wo eine genügende Bestockung vorhanden ist, entstehen nie weder Staub-, noch Grund-, noch Rutschlawinen. Nicht selten sind aber die durch Abholzung der Gehänge häufiger gewordenen Lawinenfälle in den höchsten Alpenthälern die Ursache größerer Anhäufung der Gletschermassen, die ihrerseits zu sehr nachteiligen Beeinflussungen der alpinen Vegetation und Vegetationsgrenzen führen können. Sehr oft auch sind die Lawinen eine Folge der Waldzerstörung in höhern und eine Ursache der Waldzerstörung in tiefern Lagen zugleich.

Für das rhätische Alpenland bezeichnet A. von Sprecher als Thalschaften, welche häufigen und verderblichen Lawinenfällen besonders ausgesetzt waren und noch sind: St. Antönien, Avers, Davos, Rheinwald und mehrere Ortschaften des Unterengadins, besonders Fettan. Vom Unterengadin abgesehen, fällt uns an dieser Zusammenstellung sofort auf, daß wir es mit sehr schwach bewaldeten Thalschaften zu thun haben; es fällt uns dabei aber ferner auf, daich erwähne Avers, Davos, Rheinwald — unter diesen besonders lawinengefährdeten Alpenthälern namentlich diejenigen auch vertreten sind, welche erst im Mittelalter kolonisiert wurden. Der Umstand, daß diese mittelalterlichen Kolonien in den Waldverhältnissen zu den schlechtesten Thalschaften Bündens gehören, legt die Vermutung nahe, daß diese Ansiedler zum Zwecke der Weidelandgewinnung besonders umfangreiche und verderbliche Entwaldungen vorgenommen, daß diese Kolonisten die Raubwirtschaft auf forstlichem Boden besonders wohl verstanden haben.

Auch für das Unterengadin erklären sich übrigens die bedeutenden Lawinenfälle ebenfalls aus den Waldverwüstungen, lieferten doch einige Gemeinden dieser Thalschaft an die Salinen von Hall in Tyrol Jahrhunderte lang unermeßliche Quantitäten von Holz. So anerboten sich im Jahre 1799 diese Gemeinden, der Salzpfanne in Hall neunzigtausend Klafter stehendes Holz zu 8, 10 bis 12 Kreuzer Tyroler Währung zu liefern; ein Anerbieten, welches dann der damalige Präfekturrat von Rhätien allerdings kassierte.

Die nachteilige Einwirkung der Entwaldung auf die Elementarkatastrophen giebt sich, kurz zusammengefaßt, etwa in folgendem kund: Häufiger- und Verderblicherwerden der Lawinen, Steinschläge und Felsstürze, Zunahme verderblicher Erdschlipfe und Abschwemmungen; durch diese Vorgänge Schädigung und Unsichermachung unserer Ansiedelungen, Kulturen und Verkehrswege; größere Verheerungen unserer Wildwasser und Flüsse in den Niederungen und starke Schwankungen im Wasserstande derselben.

C. Der Holzwuchs in seiner Beziehung zur Bodenkultur, insbesondere zur Weidewirtschaft unseres Alpengebirges.

Im Tieflande, wo der Verbrauchswert und der Verkaufswert des Holzes ein sehr hoher ist, lohnt sich die Waldkultur selbst auf guten Standorten, die auch einer landwirtschaftlichen Benutzung durchaus fähig wären. Anders gestalten sich diese Verhältnisse im relativ schwach bevölkerten Gebirge. Der Verkaufswert des Holzes ist hier ein geringer, hingegen wirft der Boden als Grasland benutzt infolge des großen Futter-bedarfs der betreffenden Gebiete einen relativ hohen Ertrag ab. So ist, genügende Holz Vorräte für den jährlichen Verbrauch vorausgesetzt, im Hochgebirge eine Bodenbenutzung ausschließlich als Gras- oder Weideland im allgemeinen überall da gerechtfertigt, wo der Boden dauernd ohne schützenden Holzbestand der Grasproduktion fähig ist.

Letztere Voraussetzung ist in unzähligen Fällen nicht erfüllt in der Region der Hochalpen, diesem obersten Grenzgebiete unserer Alpenkultur. Zum Teil die Steilheit und geringe Stabilität der Gehänge und namentlich auch der nachteilige Einfluß trocknender und kältender Winde sind es, die hier für einen gedeihlichen Graswuchs einen schützenden Baumwuchs zur Bedingung machen. Daher auch überall die traurige Erfahrung, daß entwaldete Alpen in erschreckendem Maße verwildern. Zu seinem unermeßlichen Schaden hat der Älpler in dem Wahn, der Wald mache die Weide naß und kalt, weitausgedehnte schutzbedürftige Gebiete entwaldet und sich dadurch vieler seiner schönsten Alpweiden beraubt. Des schützenden Holzwuchses entblößt, werden die Steilhänge vielfach zu Lawinenzügen, ferner führt der nunmehr unbehinderte rasche Abfluß des Wassers zu Verrüfungen, der Huf des Weidviehes schält Stein um Stein von der Erde los, bis das ganze Gebiet zur Schutthalde geworden ist, der Holzproduktion und Grasproduktion nunmehr gleich unfähig. Alle die erwähnten Übel werden beim Vorhandensein eines schlitzenden Baumwuchses entweder gar nicht oder nur in geringem Umfange eintreten.

Besonders gegen nachteilige klimatische Einwirkungen sind unsere Alpenpflanzen viel empfindlicher, als man gewöhnlich annimmt. Namentlich vertragen sie keine trockene Kälte ohne Schneeschutz und keine harten Nachtfröste, obgleich ein gewöhnlicher Reif ihnen wenig schadet und ausnahmsweise manche um die Gletscher wachsenden Pflanzen, z.B. der Gletscherhahnenfuß, so steif frieren können, daß man sie zerbrechen kann, und doch, an der Sonne aufgetaut, ihre frühere Schönheit und Frische wieder annehmen. Die Empfindlichkeit der Alpenpflanzen gegen trockene Kälte und gegen Vertrocknung überhaupt erklärt uns denn auch, warum früher Schneefall auf ungefrorene Erde und überhaupt ein schneereicher Winter eine Grundbedingung für ein gutes Alpjahr und warum es nicht als Vorteil anzusehen ist, wenn der Schnee allzu früh von der Alm weg- geht, weil dann Nachtfröste unausbleiblich folgen. Hieraus erklärt sich insbesondere auch die dem Pflanzenwuchs sehr nachteilige Wirkung einer zu frühen Entblößung von der winterlichen Schneedecke durch Lawinenfälle mit darauffolgenden längern kalten Trockenperioden.

Wir sehen aus dem Gesagten, und es könnten diese Ausführungen noch nach mancher Richtung erweitert werden, daß Holzwuchs und Graswuchs einen durch die Natur unserer Hochalpen bedingten und für diese Gebiete notwendigen Zweibund bilden, daß die bestockte Weide als das Ideal der Wirtschaftsform für alle steilen und windoffenen, überhaupt ungünstigem, aber dennoch auf Futter genutzten Lagen dieser Region bezeichnet werden muß.

Einen ungefähren Anhalt für die Größe der Zunahme des unproduktiven Areals in unsern Hochalpen, zum großen Teil Folge der Entwaldungen, mag uns das Glarnerland geben, wo im Laufe von 228 Jahren der Ertrag der Alpweiden von 11,073 Stößen ( Kuhrechten ) auf 8813 Stöße gesunken ist, woraus sich eine durchschnittlich-jährliche Abnahme des glarnerischen Alpertrages um rund 10 Stöße ergiebt. Diese, wenn auch nur annähernden, Zahlen gewinnen noch an Beweiskraft, wenn wir berücksichtigen, daß in besagtem Gebiete während den 228 Jahren die betreffenden Weidegebiete auf Kosten der zugehörigen Waldareale jedenfalls nicht unbedeutend sich an Flächenausdehnung vermehrt haben. Ähnlich wie in Glarus wird es auch in andern Teilen unseres Alpengebirges gegangen sein.

So weit über die Beziehung des Holzwuchses zur alpinen Weidewirtschaft. Sehr interessant wäre es, auch die Folgen der Entwaldung auf diesen wichtigsten Zweig unserer Alpenwirtschaft im einzelnen zu studieren, sodann den Einfluß der Zerstörung der alpinen Forste auf die andern Zweige der Bodenkultur unserer Alpen, auf den Wiesen- und Ackerbau, den Gemüse- und Obstbau etwas näher zu untersuchen. Leider gestattet der Umfang dieser Arbeit nicht, diesen wichtigen Erscheinungen in der Geschichte unserer Alpenwirtschaft nachzugehen, und muß ich mich auf einige Bemerkungen allgemeiner Natur im folgenden beschränken.

Schon seit langer Zeit sind zuverlässige direkte Beweise dafür erbracht worden, daß selbst kleinere Entwaldungen in unsern Alpenthälern die Grenzen unserer Kulturpflanzen unmittelbar und empfindlich zu beeinflussen vermochten. Berücksichtigt man die gewaltigen Arealverminde-rungen und Grenzverschiebungen unserer alpinen Waldbestände, deren Einfluß auf das Klima und die Elementarkatastrophen, so wird man in der Annahme bestärkt, daß der Rückgang unserer landwirtschaftlichen Kulturen in den Alpen zum Großteil unmittelbare oder mittelbare Folge der Zerstörung der Alpenwälder sei.

Keineswegs soll behauptet werden, daß nicht auch veränderte Handels- und Verkehrsverhältnisse die landwirtschaftlichen Kulturen und somit auch die Verbreitungsgrenzen unserer landwirtschaftlichen Kulturpflanzen beeinflußt haben, im Gegenteil. Doch dürften die hieraus resultierenden Verschiebungen in keinem Verhältnis stehen zu den bedeutenden durch die Verwilderung unserer Hochgebirgsnatur herbeigeführten Beeinflussungen der Vegetationsgrenzen. Daß die Nachrichten über die frühern, hohen Vegetationsgrenzen der Kulturpflanzen in unsern Alpen auf vereinzelte Kulturversuche abgeschlossener Thalschaften zurückzuführen seien, glaube ich nicht. Einmal haben wir in vielen Fällen direkte Nachricht dafür, daß es sich im betonten hohen Ansteigen der Kulturpflanzen keineswegs um kurze Versuche, sondern um langjährige Kulturen gehandelt. Wenn z.B. alte zuverlässige Leute überlieferten, daß in einer Thalschaft einst „ viel Kirschwasser gebrannt " wurde, so dürfen wir mit Sicherheit annehmen, daß es sich hier nicht um vereinzelte Kulturversuche gehandelt hat. Zum andern scheint es denn doch mehr als zweifelhaft, ob sich vereinzelte erfolglose Anbauversuche auf Jahrhunderte hinaus zu überliefern vermocht hätten.

Auch der Einwand, daß in unsern Hochthälern wenig rentable Kulturen zu gunsten des Futterbaues unterlassen worden seien, erscheint mir keineswegs stichhaltig. Viel wahrscheinlicher und für gewisse Thalschaften auch erwiesen ist, daß gerade die extensive Mehrung des Gras- und Weidelandes und die hieraus resultierende Einseitigkeit des landwirtschaftlichen Betriebes und der landwirtschaftlichen Produktion es ist, welche die Verarmung vieler Hochthäler zur Folge hatte. Die Frage nach der größern Zweckmäßigkeit einseitiger oder mehrseitiger Produktion in der Landwirtschaft ist ja gerade heute eine wichtige Tagesfrage geworden, und man neigt gern zur mehrseitigen Produktion als derjenigen, welche eine vollständigere Ausnutzung des landwirtschaftlichen Kapitales ermöglicht. Eine große Zahl höchst wertvoller Beobachtungen über den Rückgang der Bodenkultur der Hochalpen birgt u.a. Kasthofers 1822 veröffentlichte und bereits vorn erwähnte Arbeit über die Veränderungen im Klima des Alpengebirgs, worauf ich hier zu verweisen mir gestatte.

Den Zerfall der Alpenwirtschaft in Forst und Feld, in der Hauptsache unmittelbare oder mittelbare Folge der forstlichen Unwirtschaft, können wir etwa wie folgt kurz zusammenfassen.

Was den Wald selbst anbetrifft: Noch andauerndes Sinken der Vege-tationskraft und der obern Grenze vieler unserer Alpenwälder, Verminderung des Waldareals. Hand in Hand hiemit geht eine Verminderung der Holzvorräte und eine Verminderung des Waldertrages, woraus eine Ge-fahrdung andauernder Befriedigung des Holzbedarfes unserer Alpenthäler und das Eingehen wichtiger Einnahmequellen resultiert.

Für den Landbau: Wirklich sorgenerregende Verminderung der Fruchtbarkeit und des landwirtschaftlichen Ertrages unserer Alpenthäler durch Verminderung des produktiven Areals, Erschöpfung desselben an aufnehm- baren Nährstoffen und durch größere Unsicherheit der Kulturen. Vielfaches Zurückbleiben des landwirtschaftlichen Ertrages unserer Alpenthäler gegenüber dem frühern und gegenüber dem möglichen Ertrage.

D. Zusammenhang zwischen den Höhenstufen dor Alpenwirtschaft und der Höhenlage der alpinen Holzgrenze.

Da der wirtschaftliche Schutzzweck des Waldes mit dem Ansteigen ins Hochgebirge stetig an Gewicht gewinnt, liegt es nahe, einen gewissen Zusammenhang zwischen den Höhenstufen der Alpenwirtschaft und der Höhenlage der alpinen Holzgrenzen zu vermuten, und es wäre nicht uninteressant, zu untersuchen, inwieweit die frühern, weit höher als die heutigen ansteigenden, Holzgrenzen identisch waren mit der Grenze der Alpenkultur überhaupt, zu untersuchen, inwieweit mit der Depression der Holzgrenzen sich auch die Grenze des kulturfähigen Alpengürtels überhaupt nach der Tiefe zog.

Wenn ich hier nicht von alpinen Ansiedelungen überhaupt, sondern speciell von wirtschaftlichen Ansiedelungen spreche, so geschieht dies aus dem einfachen Grunde, weil Hospizien an vielbegangenen Alpenpässen, Observatorien und ähnliche, wenn auch ständig bewohnte Niederlassungen in unserm Hochgebirge den Zwecken des Menschen- und Warenpasses und der Wissenschaft dienen und mit den Klimaverhältnissen und Vegetationsgrenzen und somit auch mit dem Walde wirtschaftlich nichts zu thun haben. Anders unsere höchsten Dörfer, Höfe und Alphütten.

Ein Zusammenhang der Höhenlage der Holzgrenzen in den Alpen und der Höhenstufen der Alpenwirtschaft ist unleugbar, wenn auch zwischen der obern Holzgrenze und der obern Grenze der Bodenkultur überhaupt große Verschiebungen dadurch eingetreten sind, daß der Rückgang der alpinen Kultur in manchen Thalschaften mit dem äußerst raschen Waldrückgang keineswegs Schritt gehalten hat. Diese Verschiebungen offenbaren sich darin, daß wir heute Dörfer, Höfe und Alphütten in unsern Bergen oft in gewaltigen Entfernungen über Holz antreffen.

Dörfer über Holz finden wir in vielen unserer Alpenthäler, und zwar nicht allein als Sommerdörfer, sondern auch als ständig bewohnte, d.h. Winterdörfer, oft stundenweit über der dermaligen Waldgrenze liegend. Solche Winterdörfer über der jetzigen Holzgrenze sind z.B. die Höfe des Averser Oberthaies, von Cresta aufwärts bis und mit Juf, ferner Stalla im Oberhalbstein. Sommerdörfer über der jetzigen Holzgrenze sind a. B. Partnun im St. Antönierthale, ferner Inner-Arosa, Mädrigen und Funday im Schanfigg. Die einen wie die andern ließen sich noch zu langen Reihen vermehren. Dabei mag noch besonders betont werden, daß viele unserer heutigen Sommerdörfer einst das ganze Jahr bewohnt waren. Hiefür nur ein Beispiel: Im Dörfchen Gasteren im Berner Ober- lande, ( 1524 m ) blieben vor dem Jahre 1787 den Winter über gewöhnlich 10 Haushaltungen, seit genanntem Jahre keine mehr, aus Furcht vor den häufiger gewordenen Schneelawinen.

Was nun den Zusammenhang der Höhenlage der Dörfer und der Holzgrenzen anbetrifft, so wird eine wichtige Frage die sein, ob in unsern Alpen überhaupt jemals Dörfer über der Waldgrenze erbaut worden seien. Ich glaube, dies entschieden verneinen zu müssen, und bin der Ansicht, daß in unserm Hochgebirge nicht nur keine Dörfer über der dermaligen Waldgrenze, sondern auch keine hart an derselben angelegt worden sind. Ea scheint mir daher die Annahme gerechtfertigt, daß wir für eine Thalschaft die frühere Waldgrenze immer nicht nur ebenso hoch, sondern durchweg höher annehmen dürfen, als die in derselben liegenden Dorfschaften. Für eine große Zahl, ja für die meisten der über Holz liegenden Dörfer liefert die Geschichte und die Untersuchung der örtlichen Verhältnisse genügende direkte Beweise für die einstige Bewaldung der betreffenden Gegend. Aber auch der Vergleich der absoluten Höhenlage unserer Alpendörfer kann unsere Annahme nur unterstützen. Für die Alpenkette bleibt das höchste Sommerdorf mit 2200 m ( Wallis ) zurück, das höchste Winterdorf schon mit 2132 m ( Bünden ) und das höchste Pfarrdorf mit 2040 m ( Monte Visodas höchste Winterdorf des Jura übersteigt 1049 m nicht, währenddem wir die ehemalige und zum Teil noch die heutige Holzgrenze für diese Landesteile durchweg um 200—400 m höher annehmen dürfen.

Als eine weitere Art alpenwirtschaftlicher Niederlassungen haben wir die Alphütten bezeichnet, die wir in unserm Hochgebirge noch weit über den obersten Alpendörfern finden, und vielfach weit erhaben über die letzten Vorposten des dermaligen Holzwuchses. Ein Zusammenhang zwischen den Höhenstufen der höchsten Alphütten und den Holzgrenzen kann jedoch ohne weiteres nicht nachgewiesen werden. So steigen z.B. im waldarmen Uri die Alphütten ( Thierberg ) bis über 2400 m hinan. Immerhin scheint mir nicht unwahrscheinlich, daß mit Einschränkung auf die „ Kuhalpen " auch für die Alphütten eine ähnliche Regel gelten möchte wie für die alpinen Dörfer. Hingegen finden wir wohl „ Schafalphütten " noch in der Zone der Urweide, d.h. in denjenigen höchstgelegenen Grasflächen der Alpen, welche in historischer Zeit immer über Holz waren.

Um in dieser wichtigen Frage des Zusammenhanges zwischen den Höhenstufen der Alpenwirtschaft und der Höhenlage der Holzgrenzen sichere Aufschlüsse zu erhalten, sind unerläßliche Grundbedingungen: 1. eine Zusammenstellung der höchstgelegenen dermaligen und einstigen Bergdörfer mit Trennung nach Sommer- und Winterdörfern; 2. eine Zusammenstellung der höchstgelegenen Alphütten mit Trennung nach Kuh- und Schafalpen; 3. genaue Erhebungen über die jetzige und namentlich auch über die frühere Höhenlage der Waldgrenzen der betreffenden Gebiete.

II. Die wirtschaftliche Verarmung, Entvölkerung und Verödung unserer Hochthäler.

Die Kulturgeschichte eines Landes Ist die Zerstörungsgeschichte seiner Wälder.

Wie viele historische Funde, wie viele historische Nachrichten geben uns Kunde von der einstigen Kultur in unsern Hochthälern! Und die Volkssage bietet oft reichliche Anhaltspunkte zur Erläuterung und Ergänzung der Resultate der positiven Forschung über unsere alpine Wirtschaft in vergangenen Tagen.

Nicht selten treffen wir in unserm Hochgebirge Verbindungsstraßen, die, einst viel begangen, heute nur unfruchtbare Wildnisse verbinden, und oft findet man noch heute Überreste menschlicher Wohnungen in der Nähe dieser längst vom Verkehr unberührten Pfade. So erzählten, meldet der „ Neue Sammler für Bünden " im Jahre 1812, die ältesten Einwohner von Campodolcino im St. Jakobsthal dem Pfarrer Florian Walter, „ daß am Splügenberg an verschiedenen Stellen sich bestimmte Spuren einer mit Steinen gepflasterten Straße finden, die von Isola nicht nach Splügen, sondern links hinter dem Schneehorn durch die Rheuaalp nach Nufenen führte. Am Fuße des Schneehorns, wo nun seit undenklichen Jahren ein großer Gletscher liegt, stand ein Wirtshaus, davon eine kleine Glocke noch aus dem Gletscher hervorgebracht und nach Isola zum Gebrauch transportiert worden. " Ferner scheint ein Weg durch die Alp zur Port bei den Rheinquellen, den noch zu Beginn dieses Jahrhunderts die Disentiser mit Marktvieh benutzt haben sollen, in alten Zeiten gebräuchlich gewesen zu sein. Von einer Kapelle unweit dem Ursprung des Rheins ist die nach Hinterrhein versetzte Glocke noch vorhanden, schreibt der „ Neue Sammler ", und daß Überbleibsel verfallener Wohnungen dort gesehen wurden, meldet der Mönch Felix Faber von Ulm, der im Jahre 1489 schrieb. Wie viele Wälder, wie viele Alpen und Reste der Vorzeit mögen nun seit dem Anfange dieser Kultur durch Lawinen, Felstrümmer und Menschenhände zerstört worden sein, wo jetzt nach verschwundenem Waldschutze unter rauhem Himmel weder Natur noch Menschenhand die entblößten Bergrücken wieder der Kultur zu gewinnen vermögen!

Die Verarmung und daherige Entvölkerung der höchstgelegenen unserer bewohnten Alpenthäler ist eine zwar in ihrer Thatsache bekannte, in ihrem Wesen und in ihren Folgen aber viel zu wenig gewürdigte Erscheinung. Anstatt die lange Reihe der in bezeichneter Phase wirtschaftlichen Verfalles sich befindenden Alpenthäler aufzuzählen, möge ein Beispiel hier genügen, auf das ich etwas einläßlicher, wenn auch bei weitem nicht erschöpfend, eintreten will.

A. Das Avers, ein wirtschaftlich verarmtes Hochthal.

Das Avers, in seinem Oberthale das höchstgelegene Kulturthal Europas, ist eines der interessantesten und an Naturschönheiten reichsten unter den rhätischen Alpenthälern. Der Wanderer, der hier im Sommer eilenden Schrittes die in frischem Grün strotzenden Matten durchmißt, schätzt den Bewohner glücklich und wähnt hier ein zufriedenes und wohlhabendes Älplervölklein zu rinden. In diesem von der Natur begünstigten Thale, wo einst wohl bis hoch hinan ins Gebirge das Korn reifte, wo heute noch alte Leute von Hanf- und Flachskulturen und üppigen Gemüsegärten zu erzählen wissen, wo selbst der Handwerker Existenz fand, deckten einst prächtige Lärchen- und Arvenwälder die Gehänge und schützten die lieblichen Thalgründe vor Lawinenfällen und rauhen Winden. Noch sieht man als Zeugen einstigen Reichtums neben dem schlichten, sonnegebräunten Blockhause des Bauern stattliche, gemauerte Herrschaftshäuser.

Der aufmerksame Beobachter gewahrt aber bald, daß der Wohlstand von ehedem verschwunden ist. Die Gartenzäuue sind zerfallen, und innerhalb ihrer Trümmer gedeihen Salat und weiße Rüben fast allein noch. Der einzige Kartoffelacker des Oberavers drängt sich in Taschenformat wie furchtsam in eine sonnige Felsnische. Da und dort hat eine Lawine einem Haus oder Gaden arg mitgespielt, denn kahl sind die Gehänge, deren Wälder längst verschwunden. Heute wandert man beinahe ein und eine halbe Stunde thalaufwärts von der jetzigen Grenze des Holzwuchses bis zur Stelle, wo man noch vor wenigen Jahren Überreste ehemaliger Wälder im Moorboden fand. Dennoch scheint hier im Oberavers niemand ernstlich an Mehrung des Waldareales oder an Erhaltung der spärlichen dermaligen Waldreste zu denken. Bis vor nicht gar vielen Jahren und seit langer Zeit schon trieben die Averser gerade in diese letzten Waldbestände ihre Schafe und Ziegen, um ja allen Jungwuchs im Werden schon ersticken zu können. Sehr treffende Bemerkungen über solche forstliche Mißstände finden wir schon bei älteren Autoren. So schrieb im Jahre 1812 Podestà Albertini, indem er die drohende gänzliche Entblößung des Oberavers vom Holz wüchse beklagt: „ Hier sollte man wohl die sorgfältigste Schonung der Bäume und angelegenste Förderung ihres Nachwuchses erwarten! Die Averser hingegen treiben gerade in diese geringe Waldung ihre Ziegen, das sicherste Mittel jeden Nachwuchs unmöglich zu machen. Ist dann mit der Zeit auch der letzte Baum hier abgestorben, so wird ohne Zweifel dieses neue Beispiel den Beweis führen sollen, daß Verwilderung des Klimas unsere Wälder ausrotte! Hat man aber an solchen Gebirgshalden einmal den Holzwuchs ausgehen lassen, so ist es fast unmöglich, einen Nachwuchs zu bewirken, denn er findet — von allen größern Bäumen entblößt — keinen Schutz vor brennenden Sonnenstrahlen, vor kalten und austrocknenden Winden, vor dem Herabrutschen des Schnees und Gesteins; ja selbst der Boden verliert seine Fruchtbarkeit, weil jeder Regenguß ihn unbehindert abschwemmt und ihn seiner dünnen, fruchtbaren Erdschichte beraubt, weil die Sonne ihn vollkommen ausbrennt. " ( Vergleiche über diesen Gegenstand: B. Eblin. Die Waldreste des Averser Oberthaies. In: Berichte der schweizerischen botanischen Gesellschaft. Bern 1895. ) Der schlechte Haushalt mit den Wäldern gab sich im Averser Oberthale schon längst in einem empfindlichen Holzmangel kund, der die Thalbewohner schon früh zur Verwendung von Brennholzsurrogaten und zur Holzeinfuhr zwang. Der bündnerische Chronist Sererhardt beschreibt im letzten Jahrhundert diese beschwerlichen Holztransporte nach Juf, dem höchsten Winterdorfe Europas, folgendermaßen: „ Wenn einer eine Fuhr Holz haben will, muß er morgens vor Tag mit seinem Rind oder Pferd zu Weg fahren und kommt erst eine Stund nachts nacher Haus und mag gleichwohl sein Fuhr Holz noch nicht nacher Haus bringen, sondern es noch ein Stück unden im Thal dahinten lassen und auf gelegenere Zeit warten, bis das Thalwasser mit Eis hart überzogen, daß man es über das Eis von unten aufführen könne. " Erst in diesem Jahre, 1895, erhält nämlich das Averser Oberthal eine fahrbare Straße. Ähnliches wie Sererhardt berichtet 1812 Podestà Friedrich von Salis im „ Neuen Sammler ". Nachdem er von den Holzloosen aus den Averser Bannwaldungen gesprochen, fährt er fort: „ Sonst aber müssen die Averser ihr Holz außer ihren Grenzen auf Schamserboden holen, wo ihnen die Landschaft Schams einen großen Wald abgetreten hat unter der Bedingung, daß sie ein Stück Straße von der Averser Grenze bis Ferrera hin unterhalten. Der Transport des Holzes findet im Winter statt, die Arbeit ist erstaunlich mühsam und die Bewohner von Juf ( ein wohlgebauter Weiler von 12 Häusern und vielen Ställen ), als dem obersten Dörfchen, sind oft 20 Stunden unterwegs. Dies Holzführen nimmt den Mannspersonen im Winter viel Zeit weg und strengt sie ungemein an. "

Das Brennhoizsurrogat der Averser sind die Schaf- und Ziegenmist-Bletschen, welche im Winter alle 2-3 Wochen von den Stallböden in Form von Ziegeln abgeschrotet werden. Diese Bletschen werden dann nach der Schrotung ein, seltener zwei Jahre auf Hurten an den Sonnseiten der Ställe zur Trocknung aufgeschichtet. Die Verwendung dieses Surrogates beschränkt sich auf die Heizung und geschieht unter Zusatz von etwa einem Dritteil Holz, ohne welches der Mist nicht brennt. Ein schlechter Geruch entsteht bei Verwendung in den großen Öfen der Bauern nicht und rühmt man sehr die hohe Hitzkraft dieses originellen Brenn-materiales, welches übrigens noch in andern holzlosen oder holzarmen Hochthälern, wie z.B. im Oberhalbstein, ebenfalls zur Verwendung gelangt.

Als eine Folge der durch die Entwaldung herbeigeführten großen Kahlheit der Gehänge sind die LawinenfäUe eine häufige Erscheinung des Averser Oberthaies. Zahlreiche einst mit Gebäulichkeiten versehene Lokalitäten mußten verlassen werden, und noch heute sieht man daselbst Ställe, welche zusammengedrückt erscheinen, wie man etwa ein Kartenhäuschen zusammenbläst. An Verbauungen oder Aufforstungen der Lawinenzüge scheint dort kein Mensch zu denken. Man beschränkt sich auf lokale Schutzbauten hinter den Häusern, wie wir dieselben etwa im lawinen-zügigen St. Antönierthale auch finden.

Mit den durch die Entwaldungen herbeigeführten, ungünstiger gewordenen klimatischen Verhältnissen und mit der geringern Sicherheit des liegenden Eigentums — Gebäude wie Kulturen — durch die häufiger und verderblicher gewordenen LawinenfäUe, hängt der Zerfall des Landbaues im Avers wohl mehr oder weniger direkt zusammen und wollen wir demselben im folgenden einige Worte widmen.

Zunächst einige Bemerkungen über den Getreidebau. Noch trägt im Averser Oberthale das von der Mazzerspitze dem Dörfchen Juf zufließende Wasser den Namen Mühlebach; wohl genügender Beweis dafür, daß hier in Juf bei 2132 m Meereshöhe einst noch eine Mühle gestanden hat. Wandern wir von Juf aus thalabwärts, so finden wir noch heute vor dem Podestatenhaus ( 2042 m ), fast mitten im Thalwege liegend, einen ge-lochten Mühlstein. Vergebens suchen wir hier in der Nähe nach einem Wasserlaufe. Daß der schwere Stein thalaufwärts zu seinem jetzigen Standorte gebracht worden, ist unwahrscheinlich und dürfte derselbe wohl zweifellos erwähnter Jufer-Mühle angehört haben. Einige Minuten von Cresta, dem höchsten rhätischen Pfarrdorfe ( 1949 m ), thalaufwärts heißt noch heute eine Lokalität die Mahlecken. Bei genauerm Untersuchen findet man daselbst noch Fundament und Mahlstein einer kleinen Mühle. Dieselbe lag unweit des alten Thalweges am rechten Ufer des auf der topographischen Karte als „ Mahleckenbach " bezeichneten Wasserlaufes und hatte etwa 12 Quadratmeter Grundfläche. Das Mauerwerk ist dem Erdboden gleich gemacht und scheint seinem ursprünglichen Zwecke schon lange nicht mehr gedient zu haben.

Dermalen treiben die Oberaverser keinen Getreidebau mehr. Nun legt aber das einstige Vorhandensein zweier Mühlen in so geringer Entfernung von einander den Gedanken an einen einstigen Getreidebau der Bewohner nahe. Mit Recht wird man mir den Einwand machen, daß. vielleicht Korn eingeführt worden sei. Gewiß, wir haben selbst historische Berichte, daß die Averser ihre Zirbelnüßchen vor Zeiten nach Cleven an Reis oder Kernen vertauschten. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Warum sollte sich der Averser nicht z.B. die Gerste selbst gepflanzt haben, welche Tschudi zu Scarl im Engadin noch bis 1961,™ Meereshöhe angiebt und die, wenn ich nicht sehr irre, im Wallis.

noch höher steigt! Für Arosa ( 1872 m ) z.B. ist der einstige Getreidebau urkundlich bewiesen, indem vor Zeiten daselbst bei Anlaß eines Verkaufes ein Dreschboden erwähnt wird. Wäre das Korn eingeführt worden, so hätte der Transport natürlich ohne Stroh stattgefunden. Warum sollte in dem durch die hohe Lage der Thalsohle so begünstigten Averser Oberland zur Zeit besserer Bewaldung der Getreidebau nicht auf den für diese Thalschaft angegebenen Höhestufen angenommen werden dürfen?

Auch der Gemüsebau ist im Avers in sichtlichem Rückgange be- griffen. Viele der einstigen Gemüsegärten sind längst eingegangen und andere sind in merklichem Zerfalle. Nicht einmal den Zaun des Pfarr-gartens zu Cresta hielt die Gemeinde zu ergänzen für notwendig; im Jahre 1893 sah ich darin Ziegen und Schafe, ja selbst das Großvieh sein Unwesen treibend. Welch würdige Zierde des obersten unter Rhätiens Pfarrdörfern wäre ein üppiger und wohlgepflegter Gemüsegarten, welche Freude für den das Thal besuchenden Fremden! Im Pfarrgarten zu Cresta, der gegen Nordwest durch Gebäude trefflich geschützt ist, gedieh einst, wie berichtet wird, selbst der Blumenkohl, währenddem heute daselbst nicht einmal der Rhabarber freudig gedeihen soll. Den höchsten dermaligen Gemüsebau des Oberthaies fand ich in Juppa bei 2025 m; aber auch er war in höchster Blüte nicht; Salat und weiße Rüben bildeten den Hauptbestand seiner Kulturen.

Der Gemüsebau ist unstreitig ein sehr wichtiger Bestandteil des alpinen Landbaues, der für rationelle Volksernährung und für den Volkswohlstand namentlich unserer abgelegenen Bergthäler von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Um so mehr muß es verwundern, daß heute, wo unter dem Titel einer Förderung der Landwirtschaft doch vom Staate so große Summen gespendet werden, dieser wichtige Zweig alpiner Bodenkultur noch so stiefmütterlich bedacht wird. Könnte nicht von den bedeutenden Opfern, welche der Staat jährlich der Landwirtschaft bringt, etwas mehr zur Hebung unseres alpinen Landbaues verwendet werden, um allmählich auch das Los derer zu verbessern, die trotz beständigem und aufreibendem Kampfe mit der Hochgebirgsnatur nichts haben?

Den höchstgelegenen Kartoffelacker des Oberavers fand ich in Pürt. Derselbe ist etwa 6-8 Quadratmeter ground liegt auf einer nach Südwest exponierten Felsterrasse bei 1900 m. Im Jahre 1893 war, wie mir die Besitzerin erzählte, die Ernte „ verbrannte, d.h. vertrocknet. Außer diesem Miniaturäckerchen hat das Oberthal keine Kartoffeln. Man sagte mir, gemachte Anbauversuche wären gescheitert. Vor Zeiten soll in Cresta auch Flachs gebaut worden sein, doch erinnern sich alte Leute hieran nicht mehr. Hingegen erzählte mir eine alte Frau in Pürt, ihre Kinder, die nach Amerika ausgewandert seien, hätten in Cröt im Averser Unterthale ( 1720 m ) noch Hanf und Flachs mit Erfolg angebaut.

Selbstverständlich konnte dieser Rückgang der Alpenwirtschaft in Forst und Feld nicht ohne Folgen bleiben für die ökonomische Lage und die Zahl der Bevölkerung. So ist denn im Laufe der Jahrhunderte aus dem einst wohlhabenden und blühenden Thale ein wirtschaftlich verarmtes und stark entvölkertes geworden. Vor nicht gar langen Jahren hatte das Pfarrdorf Cresta noch eine Schmiede und eine Käserei. Heute ist die Schmiede geschlossen und aus der Käsei-ei ist eine Wirtschaft geworden. Der ganze Kreis Avers hat, wenn ich nicht sehr irre, keinen Schuhmacher, keinen Schneider mehr, und selbst die notwendigsten Lebensbedürfnisse müssen 3 — 6 Stunden weit von Andeer thalaufwärts gebracht werden. Die Bevölkerung des Kreises Avers, welche im Jahre 1850 noch 293 Personen zählte, war 1888 bereits auf 221 gesunken.

Kurz, wer einige Zeit im Avers zugebracht hat und nicht versäumte, einen Einblick zu thun in die Wirtschaftsgeschichte dieser Gegend, der wird nicht ohne ein gewisses Bedauern diesen sonst so schönen Fleck Erde verlassen und die zunehmende Entvölkerung gerade der schönsten unserer Alpenthäler nur mit Wehmut bekennen.

B. Die Zerstörung der Alpenwälder, mittelbar die Hauptursache der wirtschaftlichen Verarmung unserer Hochthäler.

Die Verwilderung unseres Alpenklimas, die Zunahme verderblicher Elementarkatastrophen, der Zerfall der alpinen Bodenkultur, die wirtschaftliche Verarmung und daherige Entvölkerung und Verödung unserer Hochthäler, alles dies sind leider nur zu unleugbare Vorgänge in unserer Gebirgswelt.

Aus den im ersten Teile dieser Abhandlung gemachten Betrachtungen über die Aufgabe des Waldes als Klima-, Boden- und Kulturschutz im Gebirge geht hervor, daß unsere Waldbestände ein ebenso wichtiger als notwendiger Schirm der alpinen Kulturthäler sind. Wie es im allgemeinen Thatsache ist, daß in ganzen Ländern die Existenz der Menschen, d.h. die Bewohnbarkeit, die Kultur, an die Existenz der Wälder gebunden ist, so gilt diese Thatsache in besonderm Maße von unserm Alpenlande. Und wie es Thatsache ist, daß selbst in den tiefern Regionen unseres Gebirges die Fruchtbarkeit und der Schutz des Bodens und hiedurch die landwirtschaftliche Kulturfähigkeit mit dem Verschwinden der Wälder fortwährend abnehmen, so gilt dies in noch viel höherm Maße von unsern Hochgegenden.

So scheint es mir denn außer Zweifel, daß der in der Hauptsache durch die forstliche Raubwirtschaft vergangener Zeiten bedingte Zerfall des alpinen Landbaues ( Matten- und Weidewirtschaft, Acker-, Obst- und Gemüsebau ) vor allem es ist, der die Verarmung der meisten unserer Hochthäler herbeigeführt hat; in allererster Linie denke ich hier- Die Verwilderung unserer Hochgegenden.

bei an den Zerfall der Alpenweiden, dieser hauptsächlichsten Wirtschafts-grundlagen unseres Hochgebirges.

Es liegt auf der Hand, daß eine so bedeutsame, ja enorme Verminderung im Futterertrage unserer Alpen, wie sie thatsächlich konstatiert werden kann, eine Abnahme des Viehstandes zur mehr oder weniger unmittelbaren Folge haben mußte. So ist es z.B. für Bünden eine erwiesene Thatsache, daß für dieses Alpenland vom letzten Jahrhundert auf das unsrige dessen gesamter Viehstand ( Groß- wie Kleinvieh ) eine nicht unbedeutende Verminderung erfahren hat.

Müssen wir uns wundern, wenn in einem Lande, dessen allererster Erwerb die Viehzucht ist, unter solchen Verhältnissen die Hochgegenden, wo keinerlei Industrie als Notbehelf ergriffen wird, verarmen? Dürfte nicht schon hieraus allein die Entvölkerung vieler unserer Alpenthäler erklärt werden können? Und wenn wir erst den Zerfall der übrigen Zweige der Landwirtschaft noch mitberücksichtigen und die mit der Verarmung vielfach Hand in Hand gehenden sanitären und übrigen Mißstände in unsern Bergen!

Gewiß wird niemand leugnen, daß die Ebnung der Thalwege vielfach eine Ableitung des Erwerbs und Verkehrs von gewissen abgelegenen Berggegenden zur Folge hatte und daß vielleicht einzelne Thalschaften hierdurch stärker betroffen wurden als durch forstliche Mißstände. Auch sind z.B. im Mittelalter in unserm Gebirge ganze Dorfschaften beinahe ausgestorben. Manch andere Faktoren noch haben zweifellos zur Herbeiführung der wirtschaftlichen Verarmung der in Frage stehenden Gebiete bald mehr, bald weniger reichlich mitgeholfen. Daß aber der Zerfall unserer hochalpinen Kultur als erste Ursache eine andere als veränderte Produktion infolge veränderter natürlicher Produktionsverhältnisse ( Boden, Klima, Vegetation ) habe, daß z.B. veränderte Verkehrs- und Absatzverhältnisse oder noch andere Dinge diese erste Ursache seien, wird wohl kaum bewiesen werden.

Diese Vorgänge in der wilden Hochgebirgswelt brauchen uns übrigens nicht in Staunen zu versetzen, geschieht doch ähnliches als Folge der Entwaldung auch in andern Ländern. Weite Gebiete Afrikas, Asiens und Amerikas, die der Mensch der schützenden Wälder beraubt hat, sind zu Wüsteneien geworden, ganz ähnlich wie manche unserer Alpenthäler. Centralasien bevölkert sich wieder und zwar vor allem deshalb, weil man daselbst neue Wälder angepflanzt hat, wo Nomadenstämme, um Weideland zu gewinnen, die alten Wälder verbrannt und das nachwachsende Krummholz vernichtet hatten. Noch in größerer Nähe aber haben wir traurige Beweise genug für die Folgen der Entwaldungen: 30 Departements Frankreichs, in denen starke Rodungen vorgenommen wurden, haben in etwa 7 Jahren nicht weniger als 80,000 Einwohner verloren!

Allerdings darf nicht vergessen werden, daß die heutigen Handels-und Verkehrsverhältnisse auch die landwirtschaftliche Produktion unserer Alpengegenden nicht unberührt und nicht unbeeinflußt gelassen, daß die Landwirtschaft unseres Gebirges auch an Schäden leidet, die nicht lokalen Ursprungs sind, die vielmehr unserer vaterländischen Landwirtschaft Überhaupt anhaften.

Ich kann mir nicht versagen, hier eine Stelle aus einem appenzellischen Mandate anzuführen, welches im Jahre 1771 bei Anlaß der Teurung und Hungersnot erlassen wurde. „ Vielleicht ", heißt es daselbst, „ ist die gegenwärtige Teurung und Mangel für euch, liebe Männer von Appenzell, ein wahres Glück und der rechte Weg, den Reichtum eueres Landes zu erkennen. Weder Gold noch Silber sind wahre Reichtümer eines Staates; die edeln Früchte, womit die Erde unsere Arbeit lohnt, sind es allein. Die Erde ist unsere Ernährerin. Seht, liebe Männer, wie viel gutes Erdreich noch unangebaut und öde in unserm Lande liegt und bedenkt, wie viel Kräfte ihr von Gott empfangen habt, dasselbe fruchtbar zu machen! Dies soll also euer erstes Augenmerk sein; denn es ist das einzige Mittel, euch von euern Nachbarn unabhängig zu machen und euch gegen den Hunger zu schützen. "

Dies bleibt unangefochten, daß der an die heimatliche Scholle gebundene Bauer doch vor jedem andern den Grundstock unseres Volkes bilden muß, wenn es auf wirtschaftliche Selbständigkeit Anspruch macht. Eine Verarmung unserer Landbevölkerung bedeutet eine Schwächung der wirtschaftlichen Tüchtigkeit und eine Untergrabung der Existenzfähigkeit unseres ganzen Staatswesens. Von wirtschaftlich verarmten Hochthälern spreche ich also und rechne zu diesen mehr oder weniger auch solche, welche zu Modekur-orten geworden sind und in dieser Eigenschaft in den letzten Jahren einen sogenannten Aufschwung erhalten haben. Gerade den Bewohnern der verarmten Hochgegenden erscheint zwar oft die Fremdenindustrie gleichsam als der wahre Erlöser. Gewiß, wir wollen nicht leugnen, daß der Fremdenverkehr manchem Gebirgsbauer Erwerb gebracht hat und neue Absatzgebiete für die Produkte der Alpwirtschaft. Aber eine wirt-schaftlieh selbständige Bevölkerung schafft dennoch der Fremdenverkehr für sich allein noch nicht. Ein selbständiges und auch auf die Dauer existenzfähiges Volk, welches von augenblicklichen äußern Beeinflussungen unabhängig zu sein den Anspruch macht, muß der Natur, oder besser gesagt, der höchsten Produktionsfähigkeit des heimatlichen Bodens angepaßt sein. Unsere Fremdenindustrie aber richtet sich vielfach nach momentanen Kultur- und Überkulturströmungen. Es liegt hierin nicht im entferntesten die Absicht, unsern Fremdenindustriellen einen Vorwurf zu machen oder den Fremdenverkehr als etwas dem Lande Unnützes oder Schädliches zu bezeichnen, sondern nur die Behauptung, daß dieser Er- Die Verwilderung unserer Hochgegenden.

werbszweig nur dann dazu angethan sei, unsere Hochgebirgskultur zu fördern und unsere Hochthäler wirtschaftlich zu kräftigen und dauernd zu retten, wenn eine Regeneration dieser Thäler aus sich heraus, d.h. eine Regeneration ihrer Bodenkultur mit der Kolonisation durch die Fremden Hand in Hand geht.

Schlußwort.

Die Geschichte unserer Alpenwirtschaft läßt uns darüber nicht im Zweifel, daß bereits ein weit ausgedehnter, einst kulturfähiger und auch kultivierter Gürtel unserer Hochalpen gänzlich verwildert, d.h. der Un-produktivität anheimgefallen ist, daß im Laufe der nächsten Jahrhunderte, und mit solchen Zeiträumen muß der Wirtschafter sowohl als der Staatsmann rechnen, im Falle eines Ausbleibens tiefgreifender wirtschaftlicher Maßnahmen von neuem ein gewaltiger Teil unseres dermaligen alpinen Kulturgebietes völliger Unfruchtbarkeit und Verödung anheimfallen würde, daß die bereits stark deprimierte obere Grenze unserer Alpenkultur einen neuen, auch für tiefere Lagen folgenschweren Rückzug zu gewärtigen hätte.

Doch, „ die Alpen sind der Stolz des Schweizers, der an ihrem Fuße und in ihrem Schöße seine Heimat aufgeschlagen hat. Ihre Nähe übt einen unbeschreiblich weitreichenden Einfluß auf seine ganze Existenz aus. Sie bedingen teilweise sein natürliches und geistiges, sein geselliges und politisches Leben. " So werden wir denn zeigen, daß diese Worte unseres großen Alpenforschers Tschudi keine hohle Phrase sind, unverstanden von unserm Volke und von denen, deren Einsicht die Leitung der Geschicke unseres Vaterlandes anvertraut ist. Wir wollen in keiner Not uns trennen und treu den von unsern Vätern ererbten Boden gegen alle feindlichen Mächte beschützen, wäre dies auch mit Opfern verbunden.

Gleich wie die Verteidigung der politischen Grenzen aber nicht von einem kleinen Grenzgebiete übernommen werden kann, weil es dazu zu schwach ist, gleich wie hier im Vollgefühle seiner Solidarität das ganze Land jährlich schwere Opfer bringt im Gesamtinteresse, so ist auch ein armes abgelegenes Bergthal, selbst beim Aufgebot all seiner wirtschaftlichen Kräfte, zu schwach, um allein nachhaltig gegen die Folgen wirtschaftlicher Mißgriffe früherer Zeiten und gegen feindliche Naturmächte zugleich anzukämpfen. So wird denn das Schweizervolk zeigen, daß es auch die Märchen der vaterländischen Kultur zu erhalten und zu festigen weiß, in der Erkenntnis, daß dieser Kampf gegen die verwilderte Hochgebirgsnatur und deren Folgen nicht minder einen Kampf für die Ehre unseres Gesamtvaterlandes bedeutet.

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