Die Wasseramsel
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Die Wasseramsel

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Yon R. Bianchi

( Davos ) Viele Leser werden sie kennen, die Amsel, die gar keine Amsel ist! Allen jenen, die sie nicht kennen, sei sie kurz vorgestellt: ein zierlicher Vogel von der Grösse einer kleinen Amsel mit weiss leuchtender Brust und kurzem, meist kokett aufgestelltem Schwanz. Wer nächstes Mal auf seinem Sonntagsausflug längs eines Bergbaches wandert, achte auf all das, was da an den Ufern « kreucht und fleucht » —, und wer ein bisschen Glück hat, wird unsern Vogel sicher zu sehen bekommen. An solchen Plätzchen sitzt er nämlich besonders gern, oft gar am eisgepanzerten Ufer, ruhig, einem Fischer gleich, und späht ins Wasser nach Beute. So viele appetitliche Dinge ziehen bekanntlich durch diese muntern Wasser talauswärts. Hat der kleine Fischer eräugt, was ihm zusagt, so schwimmt er im nächsten Augenblick geschickt und schnell im Fluss, oder Sie können ihn gar beim Tauchen beobachten. Als gewandter Schwimmer kann er nämlich auch einige Meter weit tauchen. « Also ein richtiger Wasservogel. » Weit gefehlt! Wasservögel haben doch Schwimmhäute zwischen den Zehen, damit sie richtig schwimmen und rudern können —, so steht es im Vogelbuch. Das hat aber unsere Amsel nicht. Also ein Wasservogel und doch keiner?

« Die Wasseramsel nimmt unter den Lauffischern insofern eine besondere Stellung ein, als sie ihre Nahrung, zumeist völlig untergetaucht, auf dem Grunde der Gewässer erbeutet. Sie überträgt damit die Allüren eines ,Landvogels'in das aquatile Milieu. Cinclus cinclus ist Lauffischer, wenn der Vogel von der Wasserkante her in das nasse Element hineinwatet, volltauchender Grund-fischer, wenn er, wie das oft geschieht, als Schwimmfischer von der Wasseroberfläche her auf den Grund hinabtaucht. » So weit U. A. Corti im « Führer durch die Vogelwelt Graubündens ». Man sieht, die Sache ist nicht einfach. Unser Vogel will sich nicht recht in das System einfügen lassen, das wir konstruierten. Solche Querschläger aber liebt man nicht! Warum hat er nicht Schwimmhäute wie ein rechter Wasservogel, damit wir sagen können: « Da seht, der Vogel ist vorzüglich an seine Umwelt angepasst. Er besitzt...! »?

Doch nicht genug damit. Noch in anderer Beziehung gibt er uns Rätsel auf. « Warum singen im Frühling die Vögel? » « Der Paarungstrieb treibt sie dazu », so hörte man 's in der Schule. « Eindruck wollen sie machen mit Gezwitscher und Hochzeitskleid — genau so, wie es auch bei höher organisierten Lebewesen vorzukommen pflegt. » Aber auch um diese Schulweisheit scheint sich unsere Amsel keinen Deut zu kümmern. Wie käme sie wohl sonst dazu, mutterseelenallein mitten im eiskalten Winter munter ihr Liedchen zu zwitschern? « Ahnst du im Gegensatz zu deinen Artgenossen jetzt schon den kommenden Frühling, kleiner Vogel? Oder geht es Dir etwa nur darum, auch in Eis und Schnee dein Wohn-areal zu markieren? » Der Physiologe weiss, dass die Bluttemperatur kleiner Singvögel bei etwa 44° C liegt. Nehmen wir für die Wasseramsel der Einfachheit halber etwa 40° an, so ergibt sich bei einem Minus von 10° C für die Lufttemperatur im Winter eine Differenz von 50° C. Was für eine Nahrung verbrennt denn der kleine Künstler, um seinen Körper so aufheizen zu können, und wie verbrennt er sie wohl? Auf alle Fälle macht er 's sehr geschickt, sonst würde es ihn kaum gelüsten, dazu noch ständig in die eiskalten Fluten zu tauchen!

« Fische haben wechselwarmes Blut », sagt wieder das Biologiebuch, « sie können so die Energie für die konstante Warmhaltung des Körpers einsparen. Ihre Anpassung geht so weit, dass sie sich im Winter in Gewässern einfrieren lassen können. » « Kleine Wasseramsel, warum brauchst denn du nicht zu sparen, sondern sausest in lustigem Flug dicht über der Wasserfläche hin, zur Freude aller, die dich kennen und deine weisse Brust leuchten sehen? Willst Du uns zeigen, dass es noch einen Weg des ,auch anders'gibt, der sich nicht um biologische Zweckmässigkeit und Vernunftgründe kümmert? Oder solltest du gar ein Schulbeispiel für die Deszendenztheorie bieten wollen? Dann wärest du gewissermassen, ein in Entstehung begriffener .Wasservogel', ein Lebewesen, das den Weg zurück ins Urelement allen Lebens, eben ins Wasser, sucht, nachdem es bereits Land und Luft beherrschen lernte. Wer weiss, vielleicht wirst du in einigen zwanzigtausend Jahren Schwimmhäute oder wenigstens Zehen mit Lappensäumen besitzen — zur Freude der Systematik! »

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