Die weisse Schwinge
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Die weisse Schwinge

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Wilhelm Ebener, Sitten

Der Nebel fiel ganz plötzlich ein. Woher kam er nur? Fegte ihn der Wind an den Bergflanken herab, stieg er aus den Spalten des arg zerschrundeten Gletschers, die sich unter der klâfterdicken Schneedecke tief einbuchteten? Da und dort tauchten diese mächtigen Kessel auf und mussten vorsichtig umgangen werden. Schneetreiben setzte ein. Die fünf Männer, die sich, tief einsinkend, seit Stunden mühsam vorwärtsarbeiteten, bekamen es mit der Angst zu tun. Zwar sagte kei- ner ein Wort, aber jeder fühlte, wie sich alle Sorgen machten. Sie waren müde und abgekämpft, besonders der an der Spitze, der, seit sie den Gletscher betreten hatten, allein vorspurte. Die Kameraden dachten, man müsste mal abwechseln, aber niemand hatte den Mut und die Kraft, an die Spitze zu treten und die Spur weiterzuziehen. « Wir sollten umkehren », sagte einer. « Umkehren? » antwortete der erste. « In dieser grauweissen Wolle, in der man keine drei Meter weit sehen kann, finden wir den Rückweg nicht. Schau hinter dich! Du vermagst unsere Spur kaum noch zu entdecken. Sie wird sofort zugeweht, und wir sind gute drei Stunden auf dem Gletscher. » — « Wir werden auch die Hütte nicht finden, oder war einer von euch schon dort? » fragte ein anderer. Keine Antwort; doch nach einer Weile sagte der Mann an der Spitze beruhigend: « Der Gletscher wird in der Lücke zu einer schmalen Zunge. Die Bergflanken rücken von Nord und Süd so nahe aufeinander zu, dass wir den Einschnitt nicht verfehlen können. » Der Wind blies ihnen nun direkt ins Gesicht. Immer häufiger mussten sie sich abwenden, um ein paar Atemzüge lang anzuhalten und zu verschnaufen. Der Anstieg war jetzt sehr steil und wollte kein Ende nehmen. Habe ich die Richtung verloren und halte auf eine Bergwand zu? So überlegte der Führer der Kolonne. Zögernd setzte er Schritt vor Schritt. Als der Nebel einfiel - gingen seine Gedanken weiter -, waren wir eine knappe Stunde von der Schutzhütte entfernt. Wir sollten die Lücke, wo wir nach links abbiegen müssen, schon lange erreicht haben. Während er diese Überlegungen anstellte, hatte er das Gefühl, es werde geradeaus vor ihm dunkler als zu beiden Seiten. Kein Zweifel, er hielt direkt auf eine Felswand zu. Er liess kein Wort verlauten, um die Gefährten nicht zu entmutigen, und schwenkte, dass es niemand bemerke, nicht zu scharf nach rechts ein. Keiner sah es. Den Kopf eingezogen, gegen den Wind gestemmt, folgten alle vier. Nach einer Weile sagte wer: « Ich befürchte, mir sind die Finger erfroren. » Der Ausruf blieb ohne Antwort.

Jedes Wort war Kraftvergeudung. Wollte dieser Anstieg denn kein Ende nehmen? Gab es keine Welt mehr, nichts als dieses immer drohender, immer düsterer werdende, vom Schneesturm gepeitschte, unheimliche Grau?

« Ich muss mich eine Weile hinsetzen, ich kann nicht mehr. » - « Hinsetzen, hinsetzen », wiederholte eine andere Stimme.

« Nur das nicht! Bleibt stehen, drängt euch aneinander, dann spürt ihr den Sturm weniger. Rammt die Stöcke fest in den Schnee! » befahl der an der Spitze. « Schaffst du es noch? » fragte er dann halblaut seinen hinter ihm gehenden Sohn, einen halbwüchsigen, kräftigen Burschen.

« Es geht schon noch. » Der Vater nickte bloss. Kurz darauf befahl er von neuem: « Vorwärts! Mut! Nach fünfzig Schritten rasten wir, dann wieder fünfzig Schritte und so fort. Bis zur Hütte ist es nicht mehr weit. » Vater und Sohn spurten an. Die andern folgten nicht.

« Geht etwas voran, nicht zu weit; wir kommen gleich nach. » « Gehen wir, sonst erstarren wir zu Eiszapfen », sagte der Sohn zum Vater. Dieser zögerte, dann rief er nach rückwärts: « Wir suchen eine Stelle, die weniger abschüssig ist! Dort bauen wir ein Iglu. » Doch schon nach einer kurzen Strecke hielt er in lähmendem Ermatten plötzlich an und sagte mutlos: « Ohne Schaufel bringen wir keine Schneehütte zustande. » Die gewaltige Anstrengung der letzten Stunden hatte ihn leergepumpt.

Der Junge stocherte prüfend im Schnee herum: « Er ist locker und bietet wenig Widerstand. Am besten, wir graben uns in den Hang ein. » Sobald das Loch gross genug war, belegten sie den Boden mit den beiden Paar Ski und kauerten sich hin, so gut es ging. Es war nicht sehr bequem; aber wenigstens sassen sie auf etwas Trockenem und waren vor dem Sturm, der über sie hinwegfegte, einigermassen geschützt.

« Müssten die andern jetzt nicht hier sein? » « Eigentlich schon. Schrei mal, so laut du kannst », antwortete der Vater, der sich kaum noch zu regen vermochte. Was war es nur, das so bleischwer auf ihm lastete? Der Bursche schrie, was seine Lungen hergeben wollten. Umsonst! Der Orkan übertönte die Stimme, riss sie in Fetzen, sobald sie aus dem Schutz des Unterschlupfs ins Freie drang.

« Gib es auf. Du ermüdest dich umsonst. Nur etwas rasten, dann gehe ich zurück und sehe nach ihnen. » Der Sprecher kämpfte verzweifelt gegen den Schlaf. Es war drinnen etwas weniger kalt als draussen, wo der Sturm durch Mark und Bein blies. Der Junge versuchte es nochmals, wagte sich sogar ins Freie, fuchtelte mit den Stöcken, schrie, brüllte, bis er glaubte, die Worte gefrören ihm im Hals. Nichts! Kein menschlicher Laut, kein Umriss einer Gestalt irgendwo im Nebel. Wenn nur der Vater nicht schlappmachte! Er hielt sich kaum noch aufrecht. Der Bursche setzte sich wieder hin und stemmte den Rücken gegen den des Vaters. Das gab etwas Wärme. Bald wurde das Gewicht immer schwerer, lebloser. Er ist eingeschlafen, durchfuhr es den Sohn. Grauen-voll, diese Einsamkeit. Er schrie nochmals in langgezogenen Tönen, erfolglos wie zuvor. Nicht einmal der Schläfer erwachte darob. Die Nacht brach rasch ein, schwarz, unheimlich. Plötzlich fuhr er hoch, stiess mit den Armen wild um sich, stiess ins Leere, durch die Schneedecke hindurch, die der Sturm über das Loch geweht hatte. Die frische Luft tat gut. Noch ein paar Augenblicke, und er wäre erstickt! Immer noch tieffinstere Nacht. Der Orkan tobte mit unverminderter Heftigkeit. Sobald er wieder richtig atmen konnte, setzte sich der aus dem Schlaf Aufge-schreckte an seinen Platz zurück und schlief weiter. Im Morgengrauen fuhr er neuerdings hoch. Wieder hatte der Schnee die Öffnung verschlossen. Der Vater war zusammengesunken und lag, seitwärts geneigt, auf dem Rucksack, den er unter den rechten Arm gesetzt hatte. Den Jungen sprang die Angst an wie ein wildes Tier. Er rüttelte den Schläfer, rief: « Vater, Vater! », rüttelte wieder und wieder. Kein Lebenszeichen. Er ist tot, erfroren oder vor Ermüdung gestorben, dachte der Sohn entsetzt. Sein Herz hämmerte. Sooft er dem Reglosen das Ohr auf die Brust setzte, hörte er nur das Pochen seines eigenen Pulses. Rasch, rasch die Hütte finden, Hilfe holen, sonst ist es zu spät, jagten sich die Gedanken.

In der Schutzhütte war man seit Tagesanbruch auch wach. Mit dem Einsatz der letzten Kraft war es den drei anderen gelungen, die Hütte zu erreichen. Als sie sich, schon halb verzweifelnd, endlich zum Weitermarsch entschlossen hatten, war die Spur der beiden, die vorausgegangen waren, zugeweht und nicht mehr zu erkennen. Die Rufe verhallten, es kam keine Antwort. Die Sicht reichte kaum über die Skispitzen hinaus. Es war ein beinahe aussichtsloser Kampf gegen Sturm, Frost und gefährliche Ermattung. Als sie am eben werdenden Gletscher merkten, dass sie die Lücke erreicht hatten, bogen sie im rechten Winkel nach links und fanden nach ein paar bangen Minuten den Hang, der zur Hütte hinaufführte. War es Zufall oder mehr, dass sie diese endlich in dem Dunkel doch anliefen? Dort trafen sie eine zweite, nicht weniger erschöpfte Gruppe, die von der anderen Seite hergekommen war. Es wurden nicht viele Worte gewechselt. Immerhin erhielten die Neuankommenden etwas Tee, und jemand nahm sich des Mannes an, der über seine erfrorenen Finger klagte. Zum Glück war der Hilfsbereite Arzt, der die Versorgung, so gut es mit den vorhandenen Mitteln möglich war, fachgerecht vornahm. Die drei machten sich über die Zurückgebliebenen wenig Gedanken, da sie annahmen, diese hätten sich eine Schneehütte gebaut. Übrigens wäre niemand in der Lage gewesen, ihnen Hilfe zu bringen. Die Windstösse waren zeitweise so heftig, dass die Wände vibrierten und Fensterläden und Dach ächzten. Bald war nichts mehr zu hören als dieser Lärm. Wie in einem magischen Kreis, in dem die Berggeister keine Gewalt über die Menschen haben und ihnen nicht zu schaden vermögen, schlief das Dutzend Männer den bleiernden Schlaf völliger Erschöpfung. Am nächsten Morgen jedoch wuchs die Sorge rascher als der Tag, der um die zehnte Stunde noch nicht recht angebrochen schien und grau und düster durch die halbzuge-wehten Fenster starrte.

« Wo bleiben sie nur? Wir müssen sie suchen », sagten die drei und erzählten den andern von den Kameraden, die sich in den Schnee eingegraben hatten.

« Das ist eine böse Geschichte », erklärte der Führer. « Wir müssen sie suchen; aber das ist leichter gesagt als getan. Anderthalb Meter Neuschnee, Windstärke unvermindert, Lawinengefahr und keinerlei Sicht. » Er trat, sich am Pfosten haltend, vor die Tür, lauschte lang und angestrengt.

« Da schreit wer um Hilfe. » Sofort waren mehrere neben ihm. « Richtig, ich höre es ebenfalls », sagte jemand zustimmend.

« Ich auch, ich auch », bekräftigten die andern.

« Die Hälfte bleibt hier », befahl der Führer. « Wir werden nötigenfalls um Hilfe rufen. » Langsam stiegen die sechs Mann zur Lücke hinunter, schrien: « Wir kommen! Wo seid ihr? » - Umsonst! Niemand antwortete. « Haben wir uns am Ende doch getäuscht? » zweifelte jemand.

« Nein, die sind zusammengebrochen », erklärte der Führer. « Haltet scharf Ausschau! » Es war beinahe Zufall, dass sie den reglos im Schnee liegenden Körper entdeckten. Während sich zwei Mann mit heissem Tee und Kognak um den Erschöpften bemühten, suchten die andern die Umgebung ab. Da sie nichts fanden, kehrten sie zu den beiden zurück und warteten, bis der Bursche die Augen aufschlug. « Wo ist der Vater? » Entsetzen trat in den Blick. « Er liegt noch unten im offenen Schneeloch. Ich konnte ihn nicht wecken. Er wird erfrieren. » Der Bursche suchte sich hochzurappeln, zitterte an allen Gliedern. « Ich führe euch hin, schnell, schnell! » Der Arzt sah ihn eine Weile prüfend an. « Nein », entschied er, « du schaffst es nicht.

Deine Kräfte reichen kaum bis zur Hütte hinauf. Beschreib uns die Stelle. » Er tat es, so gut er vermochte: « Die Skistöcke des Vaters stecken neben dem Loch. » « Ein Mann begleitet ihn zur Schutzhütte hinauf, die andern kommen mit mir! » befahl der Führer und nahm die Fahrt wieder auf, nachdem er noch hinzugefügt hatte: « Wenn wir in zwei Stunden nicht zurück sind, sollen fünf Mann zur Hilfe aufbrechen. » Der Aufstieg ging sehr langsam vor sich, um so mehr, als der Junge immer wieder anhielt und umkehren wollte. « Sie finden ihn nicht, ich muss hinab. » « Dass sie dich auch noch verlieren und stundenlang suchen müssen. » Der Bursche sah das schliesslich ein. Schock und Ermattung streckten ihn in der Hütte auf das Lager nieder, und als die fünf die Ski anschnallten um nach der ersten Kolonne zu suchen, begehrte er nicht, mit ihnen zu gehen. Alle zehn suchten bis tief in den Nachmittag hinein, suchten in Nebel, Sturm, Lawinengefahr. Nichts! Keine Skistöcke, kein Schneeloch, niemand, der auf die Rufe der zehn Männer Antwort gab. Am folgenden Tag - das Wetter war immer gleich schlecht und ein Abstieg ins Tal unmöglich - stieg der Sohn, der sich inzwischen erholt hatte, mit der Kolonne in die Lücke hinab. Nicht der kleinste Anhaltspunkt! Alles Einöde, fremd, feindlich, gefährlich. Auch am dritten Tag das gleiche verzweifelte, zermürbende, erfolglose Suchen.Auch der Grosseinsatz von Hilfskolonnen, die nach der Wetterbesserung mit Lawinenhunden und dem nötigen Hilfsgerät von Hubschraubern herangeflogen wurden, führte nicht zur Auffindung des Vermissten und musste schliesslich abgebrochen werden. Nur der Sohn wollte nicht aufgeben und weigerte sich, ins Tal zurückzukehren. Man versuchte, ihm zuzureden. Als das nichts fruchtete, entschlossen sich ein paar Bekannte, noch eine Nacht mit ihm in der Hütte zu verbringen. Wie er nun verzweifelt auf seinem Lager lag und von unterdrücktem Schluchzen ge- schüttelt wurde, glaubte er die Stimme seines Vaters zu hören, die tröstend sagte: « Der Erfrierungstod schlägt nicht mit der Sense, er berührt die Augen mit der weissen Schwinge des Schnee-vogels und schliesst sie sanft und schmerzlos. » War es wirklich die Stimme des Vaters, oder hatte einer von den beiden, die noch im Schein der Lampe am Tisch sassen, so gesprochen? Dieser Gedanke kam dem Lauscher erst am folgenden Morgen. Er versuchte nicht, sich darüber Gewissheit zu verschaffen. Er war sofort eingeschlafen und fühlte sich etwas beruhigt, dass ihm vor dem Wiedersehen mit der Mutter weniger bangte.

Führeraspiranten, denen von der Kursleitung die Aufgabe gestellt war, fanden den Verschollenen zu Anfang des Sommers unter zwei Meter Schnee. Das Antlitz des Toten war friedlich. Statt Zeichen von Leiden und Angst trug es den Schein eines Lächelns: den Widerschein der weissen Schwinge.

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