Drei Männer im Schnee
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Drei Männer im Schnee

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Alex Schiappi, Guttannen Ein wunderschöner Herbst war in die Berge gezogen; Tag für Tag wölbte sich ein strahlend klarer Himmel über dem Land, viele, viele Wochen lang, und bevor sich die Natur für den Winter rüstete, erschien die Welt in einer Buntheit und Pracht, wie sie nur der Zauberer Herbst hervorzubringen vermag. Dank dem herrlichen Wetter blieb bis tief in den Spätherbst hinein alles schneefrei; einzig die Quellbäche hatten sich eisige Panzer umgelegt, die sich als weisse Bänder ins Gelände schmiegten.

Es war denn auch ein strahlendklarer Morgen an jenem 5. Dezember, als ich, bergmässig gerüstet, vor dem Gasthause meines Wohnortes wartete, um mich mit meinen beiden Freunden zu treffen, die von Meiringen kommen sollten. Hier besammeln sich jeweils die ausrückenden Mannschaften, hier werden definitive Beschlüsse gefasst, und, wer will, hat hier eine allerletzte Gelegenheit, sich zwecks Beheizung des Innern mit « Geist » einzudecken.

Ein alter Bauer, der des Weges kam, fragte mich, erstaunt über meinen alpinistischen Aufzug, nach dem Wohin. « In die Lauteraar! » war meine Antwort. « Was? I'ds Babel' ?»entsetzte er sich. « Ja, Gletscher messen! » Kopfschüttelnd über soviel menschlichen Unverstand trollte sich der Bauer nach kurzem Schwatz. IchaberjdurchseineSkrupelnichtimge-ringsten belastet, wartete fröhlich weiter. Es muss doch gewiss herrlich sein, bei diesem Prachtwetter einmal dem grauen Alltag zu entfliehen und in die Herzgegend unserer Hochregion zu wandern.

Es ging denn auch nicht mehr lange, da kam der wohlbekannte Jeep angebraust. Zwei grinsende Gesellen und der bärbeissige Fahrer luden mich 1 Babelion oder kurz Babel ist der mundartlich verwaschene Ausdruck für Pavillon Dollfus = Vorläufer der heutigen Lauteraarhütte.

zum Mitfahren ein - und fort ging 's in den kalten Tag.

Bei der Umladestation Gerstenegg entstiegen wir dem ratternden Gefährt. Der Jeep wendete seine Nase zu Tal und verschwand. Eine wechselvolle Fahrt, erst per — holterdiepolter- Schienenbahn in dunklem Stollen, dann per Seilbahn in luftiger Höhe brachte uns im halben Vormittag zum Grimselhospiz, das, auf trotziger Felsenburg thronend, mit geschlossenen Augen vor sich hindöste.

Als wir eine Stunde später schwerbepackt auf dem Hüttenweg taleinwärts trampelten, im Visier den hehren Verein des Aaremassivs, spähte die gute liebe Sonne nur knapp über den Köpfen der Sidelhörner hervor; zeitweise versteckte sie sich sogar hinter einer Kuppe, um kurz darauf auf der andern Seite hervorzublinzeln: « Da bin ich ja wieder! » Ohne die drückenden Fuder auf unsern Schultern - wir hatten ausser unserem persönlichen Inventar und für vier Tage Proviant auch noch das ganze Gerumpel der Messgeräte zu schleppen - wäre es ein genussreiches Wandern gewesen durch diese herbstlich bunte Landschaft, die, von der tiefstehenden Sonne in mildes Licht getaucht, in ihrem schönsten Festkleide prangte.

Was die beiden andern mit ihren Firngleitern eigentlich wollten, war mir angesichts der trok-ken-aperen Welt nicht so recht klar; nun, sie trugen sie ja selber.

So in der Mitte des Nachmittags betraten wir den Gletscher oder, besser gesagt, das, was er auf seinem breiten Rücken zu Tale trägt. Gewaltige Mengen groben und feinen Gesteins, das die Fürsten dort hinten aus ihren Kleidern schütteln, führt der gutmütige Riese langsam talaus, um es dann am Ende seiner jahrhundertelangen Reise mit ärgerlichem Schwung in den Stausee zu werfen.

Nach anderthalbstündiger Wackelei auf labiler Unterlage erreichten wir auf der Randmoräne wieder festen Grund. Dort oben lagen die Hänge der Trift im goldenen Schein einer warmen Nachmittagssonne. Aber hier unten hatten sich längst die Abendschatten ausgebreitet, die jetzt bedächtig vor uns bergan krochen. Ob wir sie wohl noch überholen würden? Rüstigen Schrittes stiegen wir das steinige Weglein hinan, das sich in engen Serpentinen den Hang hinaufwindet.

Ja, wir hatten den Sonnenschein gerade noch eingeholt und machten kurze Rast, um dem scheidenden Tagesgestirn die Ehre zu erweisen; doch es verzog sich sogleich in seine himmlische Schlafkammer. Da wurde es auf einmal merklich kühler, zumal auch noch ein recht frischer Wind aufkam, und eilig strebten wir der Hütte zu.

Kalt, unfreundlich, sichtlich ergrimmt über die Ruhestörung, empfing sie uns. Wasser war schon nirgends aufzutreiben. Schnee eine unbezahlbare Rarität. Also musste einer auf dem einen Scheibenschuss talaus gelegenen Tümpel Eis auf-pickein und mit der gefüllten Brente am schweissfeuchten Rücken zur Hütte zurück. Je länger wir uns mit ihr befassten, um so mehr verlor sie ihre mürrische Stimmung. Bald prasselte gemütlich ein Feuer im Herd, eine Suppe dampfte, und als wir uns nach dem unvermeidlichen Jass ins Schlafgemach verzogen, war es schon recht gemütlich.

Am Morgen bin ich, wie gewohnt, der erste auf Deck und mache mich am Herd zu schaffen, um den Kaffee zu brauen. Der erste Blick aus dem Fenster gilt natürlich dem Wetter. Über dem Lauteraarsattel ist der Himmel von einer merkwürdig tiefen Bläue, die fast in ein dunkles Violett übergeht, und um das ferne Schreckhorn balgt eine Schar weisser Wolkenkatzen; aber am Finsteraarhorn zeigt sich ein Morgenrot, wie es C. F. Meyer so trefflich schildert: « Des Königs blasses Haupt erwacht, Zu Lebensröten angefacht. Auf seine Stirne tritt das Blut, Und immer wärmer strömt die Glut. Den Purpurmantel nimmt der Greis, Dann weckt er seiner Diener Kreis, Und um den hohen, frühen Alten Beleben sich die Berggestalten.

Inzwischen haben die beiden andern neben der Hütte den Theodoliten aufgepflanzt. Es geht darum, die Fliessgeschwindigkeit des Gletschers zu bestimmen. Der mittlere Jahresvorschub ist ja bekannt; jetzt möchte man noch herausfinden, wie sich dieser auf die verschiedenen Jahreszeiten verteilt2.

Das Frühstück vereinigt uns wieder am Hüttentisch; aber was ist das? Der vorher so goldene Schein am Finsteraarhorn ist einem trüben Gelb gewichen, und über dem Sattel ist der Himmel grau. Das Barometer fällt und fällt und steht bald einmal auf « Sturm ». In der Atmosphäre scheint sich ein Wandel zu vollziehen. Jetzt hat der Riese dort hinten sein greises Haupt verhüllt. Auch auf der andern Seite, gegen die Grimsel, sind die Vorhänge zugezogen. Wir wissen es alle: Jetzt wäre es das klügste, unsere Siebensachen zusammenzupacken und talaus zu verschwinden; aber wer macht schon einen so weiten Weg, um nachher unverrichteter Dinge umzukehren. Die eine Messung allein nützt so gut wie nichts! Und vielleicht kommt 's gar nicht so schlimm, wie es jetzt aussieht.

Eine Stunde später. Hans kauert eben, das Feuer schürend, vor dem Herd. Dabei beugt er sich vor, um durch künstliche Beatmung die Flamme zu beleben. Auf diesen Moment muss der Wind gewartet haben. Mit seiner ganzen Vehemenz stösst er durchs Kamin hinunter in die Esse, unserem Feuerwerker eine blaue Lohe ent-gegenjagend, so dass dieser vor Schreck beinahe hintenüberfällt. Aus allen Fugen des Herdes dringt dicker Qualm, der im Nu den ganzen Hüttenraum füllt, und das vorher so heimelige Herdfeuer ist nur noch ein mottender, stinkender, qualmender Haufen ohne jegliche Wärme. Und jetzt geht 's los! Um die Hütte tobt ein Sturm, der das ganze massive Haus bis in seine Grundfesten erschüttert. Das heult und kracht und geigt und 2 Heute geschieht das auf automatischem Weg, indem eine fest eingebaute Photokamera in bestimmten Intervallen jeweils eine Aufnahme knipst; siehe « Die Alpen », Monatsbulletin Nr. 3, März 1971.

pfeift in den wildesten Melodien um die Hausecken, als wären alle Register der himmlischen Riesenorgel gezogen.

Hans und ich sind vor dem Rauch unter die Hüttentür geflüchtet und lehnen nun mit tränenden Augen, wie aufs Land geworfene Fische nach Atem ringend, über den unteren Türflügel hinaus. Im Hütteninnern ist nicht die Hand vor den Augen zu sehen. Wie Ernst das nur aushält? Ihm haben wir auf unserem Söller keinen Platz gelassen. Mag er sich zur Wehr setzen, wie er will. In seiner Verzweiflung reisst er das Fenster auf, und in Sekundenschnelle ist aller Rauch weg - leider aber auch jede Spur von Wärme! Fortgeblasen vom eisigen Wind, der urplötzlich durch den Hüttenraum fegt. Herrlich, diese frische, saubere Luft! Wir pumpen erst einmal die Lungen voll. Aber im Übermass genossen, kann auch frische Luft lästig werden. Also wird das Fenster wieder geschlossen und das Feuer nochmals entfacht. Dieses turbulente Intermezzo wiederholt sich in der Folge noch ein paarmal, wobei die Akteure lediglich von Zeit zu Zeit die Rollen tauschen.

Der Rest des Tages vergeht bei Lesen und Träumen. Das kleine, 36blättrige Dossier hebt die Stimmung nur wenig.

Eigentlich haben wir uns den Aufenthalt hier ein wenig anders vorgestellt. Zwischen den Messungen wollten wir in der Umgebung umherstreifen, photographieren und beobachten, namentlich die Gemsen, die sich hier, halb zahm und an die Menschen gewöhnt, in Hüttennähe tummeln. Statt dessen hocken wir hier in dieser rauchgeschwängerten Klause und blasen Trübsal.

Ein neuer Tag bricht an. Er unterscheidet sich von gestern nur insofern, als der Sturm noch lauter heult, die Hütte noch stärker in den Fundamenten zittert, der Herd noch ärger qualmt und der Rauch noch dicker in der Küche hockt. Schnee ist längst nicht mehr Mangelware. Genau vor der Hüttentür hat der Wind eine mächtige Wächte angehäuft; von ihr beziehen wir mehr oder weniger direkt unser Trink- und, sofern wir solches überhaupt benötigen, auch das Wasch- wasser. Wer nebenan das kleine Häuschen aufsuchen muss, rüstet sich aus wie zu einer Parforce-tour. Der Hinweg wird mit gezogenen Bremsen zurückgelegt, der Rückweg bedeutet Schwerarbeit, und der Aufenthalt in besagtem « Örtchen » wird um keinen Moment über die unbedingt erforderliche Zeit ausgedehnt, denn wer weiss, ob das unentbehrliche Gebäude nicht plötzlich einen Purzelbaum schlägt und mitsamt dem « Besitzer » die Felsen hinunterpoltert.

Wenn Hans seine Messungen macht, müssen wir ihm das Stativ festhalten, weitverspreizt dem Sturm den Rücken bietend. Hält der Wind für einen Moment den Atem an, um erneut Luft zu schöpfen, versucht Hans schnell die Werte abzulesen. ( Die Sicht zu der Zielmarke auf der Mittelmoräne und zum Punkt auf den gegenüberliegenden Felsen ist trotz Schneetreiben noch leidlich gut. ) Statt 8 Ablesungen braucht es jetzt fast deren 20, bis ein einigermassen brauchbares Resultat herauskommt. Was sonst das Werk weniger Minuten ist, dauert jetzt gegen eine halbe Stunde. Alle drei schlottern und zittern dabei wie Espenlaub im Wind.

Immer wieder wird mit hartem Knöchel das Barometer konsultiert; doch es antwortet stets mit der gleichen, niederschmetternden Prognose. Erst gegen Abend macht es einen kleinen, ganz kleinen Ausschlag in der gewünschten Richtung.

Beim Verlöschen der Kerze suchen wir das Lager auf. Die beiden andern schwatzen sich in den Schlaf, während mich der wilde Lärm draussen noch lange wachhält. Was wird morgen sein? Unsere Mission hier geht zu Ende. Im Grunde sehnt sich jeder heim zu Muttern. Werden wir aber auch imstande sein, uns durchzukämpfen? Dort draussen, wo sich Gletscher und Stausee die Hände reichen, stand die ganze Zeit eine grauschwarze Wolkenwand, die zweifellos riesige Mengen ihres weissen Segens ausgeschüttet hat. Nahrungssorgen plagen uns wenigstens nicht. Von früheren Messungen haben wir noch Proviant hier, und ausserdem hat uns Franz, der Herr des Hauses, die Schlüssel mitgegeben zu sei- nen geweihten Räumen, so dass wir ohne weiteres seine Vorräte angreifen können. Trotzdem beginnt der Aufenthalt in diesem zitternden, krachenden und raucherfüllten Gemäuer allmählich an Reiz zu verlieren. Was wird morgen sein?

Wir sind alle längst wieder wach, als die schwache Dämmerung im Fensterkreuz den jungen Tag ankündigt. Das Barometer ist über Nacht zwei weitere Strichlein gestiegen, und da der Wind um ein merkliches nachgelassen hat, beschliesst der Kriegsrat Mobilisation. Wir sind uns einig: Es wird noch ein harter Strauss auszufechten sein, bis wir uns zum Grimselhospiz durchgeschlagen haben, aber was das betrifft, so sind wir in den Bergen durch eine gute Schule gegangen, dazu eisern gewillt, die Rechnungen auf Heller und Pfennig zu bezahlen, die uns der heutige Tag präsentiert.

Noch einmal umstehen wir schlotternd den Theodoliten, noch einmal treibt uns der Rauch das Wasser in die Augen. Dann, nach dem üblichen Hin und Her, werden die Rucksäcke geschultert und — Gott befohlen, Rauchküche!

Wie ich als letzter die Hüttentür schliesse, blitzt ein Gedanke durch meinen Schädel: « Sollten wir noch eine Lawinenschaufel mitnehmen? » - « Ae bah », mit energischem Ruck schiebe ich den Riegel vor.

So gut es geht, halten wir uns an die Rippen und Kanten, von denen der Wind mit rauhem Besen den Schnee heruntergefegt hat. Gibt es hin und wieder eine Mulde zu queren, so entsteht sofort ein hüfttiefer Graben. Ruhig und sicher zieht Ernst seine Spur. Dass er, einer alten Füh-rerdynastie entstammend, selbst prominenter Bergführer ist, macht ihn hier zum unumstrittenen Boss.

Etwas langsam, sonst aber zügig kommen wir voran; einen kleinen Zickzack, um den tiefsten Mulden auszuweichen, nehmen wir in Kauf. Nach einer guten halben Stunde senkt sich die Route ( Weg wäre zuviel gesagt, denn es hat keinen Sinn, im tiefen Schnee das Weglein zu suchen ) steil dem Gletscher zu. Bergab helfen ja bekanntlich alle Heiligen, und wenn der Spitzenmann ( der Schreibende ) gelegentlich einen falschen Tritt erwischt, was hat das schon zu bedeuten! Die Polsterung ist gut, und auf einen Purzelbaum mehr oder weniger kommt 's nicht an.

Auf dem Gletscher ist der Schnee windgepresst und hart, und ohne Schwierigkeit gelangt der kleine Zug auf die Mittelmoräne. Die erste Runde ist gewonnen und eine Rast fällig. Feierlich kreist der Trunk. Ernsts Flasche ist leer, die meine enthält nur noch einen geringen Rest wasserklaren Höllensaftes, während Hans noch über eine gewisse Reserve verfügt.

Und weiter geht 's dem fast apern Moränenrücken entlang dem Gletscherende zu, das wir um die elfte Vormittagsstunde erreichen. Der Weiterweg im steilen Geröllhang - er leistet sich hier einiges an überflüssigem Auf und Ab - ist noch gut zu finden. Kaum knietief liegt der Schnee. Wenn's so weitergeht, ist ja alles in bester Ordnung.

Urplötzlich ist der Wind verstummt, wie abgeschnitten; dafür hüllt uns dichter Nebel ein. Es schneit. Still, fast senkrecht fallen die grossen Flocken, und binnen kurzem tragen unsere Kappen und Kleider, sogar die Rucksäcke schmucken Hermelinbesatz. Das Spuren wird immer mühsamer, und in immer kürzerer Folge wird jeweils der Spitzenmann abgelöst.

Was immer die weisse Decke überragt, ist aufs zierlichste gekleidet. Erlenbüsche, wenn nicht ganz von der Schneelast niedergedrückt, sind mit niedlichen Käppiein geschmückt, Baumstrünke und Felsbrocken haben sich feine Röcke übergeworfen und dicke Pudelmützen aufgesetzt, und die Arven, die hier als Vorposten des Baumwuchses dem Klima trotzen, tragen Hermelinmäntel. Es ist eine Modeschau, wie sie schöner, reichhaltiger und preisgünstiger auch das grösste Haus der Haute Couture nicht zu bieten vermag; nur Stoff und Farbe sind « uni ».

Hans schnallt seine Firngleiter an, um damit den Schnee leichter durchpflügen zu können, und eine Zeitlang geht das auch ganz ordentlich; aber bei der ersten Gegensteigung bohren sich die gekrümmten Spitzen seiner « Flossen » so tief in den weichen Grund, dass sie bald unrettbar festsitzen. Nach kurzem verzweifeltem Kampf hält er plötzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht ein und ist für den Moment ausser Gefecht, weil ihn der Krampf peinigt und seine Muskeln zu Holz werden lässt. Nun ist die Reihe an mir. Ich versuche es « ohne ». Mit grösstem Kraftaufwand kämpfe ich mich etwa zehn Schritte vor. Lieber Leser, weisst du, wie das ist, wenn sich die Lawine vor deiner Brust höher und höher staut, wenn deine Füsse im Wesenlosen strampeln, wenn deine Lungen keuchen und deine Muskeln erschlaffen, wenn das letzte Aufgebot, gleichsam der Landsturm der Energie, für die Katz ist, wenn dein Ziel noch in weiter Ferne liegt und hinter dir die Brücken abgebrochen sind?

Nein, so geht das nicht! Wir dürfen unsere Kräfte nicht unnütz vertun; einmal wird die Nacht kommen, und dann wird jede Orientierung unmöglich sein. Und ein Biwak ohne richtige Ausrüstung und bei knappem Futter ist nicht nach unserem Geschmack. Ich drehe mich langsam um und verlange einen Firngleiter. « Ja, du musst sie aber verkehrt anziehen, Spitze nach hinten !» - « Nein, ich will sie nicht anziehen; ich brauche nur den einen. » Und mit diesem Gerät schlage ich die obersten Schneeschichten zur Seite, so dass sich der Rest mit einigem Kraftaufwand gerade noch durchwaten lässt. Ja, die Lawinenschaufel! Die hat in der Hütte unterdessen gute Weile!

Der Weiterweg ist eine nicht endenwollende Schinderei durch Nebel, Schnee und Graus, geschmückt mit Zwischenfällen, ähnlich dem folgenden: Ich bin eben daran, rudernd und schaufelnd eine Mulde zu traversieren. Den Steinplattenweg spüre ich gut unter den Sohlen. Da tappt der ausschreitende Fuss urplötzlich ins Leere. Die unweigerliche Konsequenz davon ist ein ruckartiges Vorschnellen des Oberkörpers, dem der Rucksackballast noch besonderen Schwung gibt, und so finde ich mich nach einem nicht ganz stil- reinen Hecht, weich eingebettet, in kaltem Flaum. Nachdem sich meine Überraschung gelegt hat, versuche ich mich unter Anrufung aller Hohen und Heiligen wieder in die Vertikale zu manövrieren, was nach mühevoller Schwerarbeit schliesslich auch gelingt. Auch ohne hinzusehen, weiss ich um das ironische Grinsen meiner Kameraden, da bei uns nach herkömmlichem Usus solche Intermezzi mit schadenfrohem Lachen quittiert werden.

Stunde um Stunde vergeht. Der Nebel hat sich unterdessen etwas gelichtet, und der Schneefall hat aufgehört. Die ganze Gegend erscheint in unwirklicher Reinheit mit ihrem makellosen Weiss. Was vor drei Tagen noch in herbstlicher Buntheit prangte, zeigt sich heute in märchenhaftem Winterzauber.

Den Verlauf des Weges festzustellen ist rein unmöglich. So nehmen wir halt ein Stück voraus eine Stelle ins Visier, die den Durchgang vermuten lässt und die wir dann, so gut es geht, ansteuern. Auf diese Art werden, um das Ganze noch pikanter zu machen, ein paar Verhauer inszeniert. Gesprochen wird nichts; sogar Hansens sonst sprudelnder Redefluss ist verstummt. Nur wenn der Kurs einer Korrektur bedarf, fällt eine knappe Weisung.

Hans liegt mit einem Haufen abgerutschten Schnees im Ringen; tiefer und tiefer mit seiner ganzen Körpergrösse ( und er ist doch wahrlich kein Zwerg !) steckt er drin, von der Höhe des Walles aus der Richtung gedrängt. Da befiehlt Ernst den Rückzug, und unter feierlichem Schweigen geniessen wir unser Mittagsmahl in Form eines Zuckerwürfels; jeder kriegt einen ganzen. Dann erneuter Angriff! Endlich ist die Stelle bezwungen.

Allmählich weicht der Tag der Dämmerung, aber wir nähern uns doch langsam den äussern Juchlifelsen, an deren Fuss sich die grosse Staumauer stützt. Der Schnee liegt hier etwas weniger tief; dafür machen uns die zahlreichen Rutsche zu schaffen. Nach Überwinden einer letzten Anhöhe neigt sich unser Weg jenem Felsriegel zu, den ein rund hundert Meter langer Stollen durchzieht.

Die Nacht senkt sich herab; doch die schwache Helle in den Wolken lässt dort oben irgendwo einen bleichen Mond vermuten. Und jetzt - o Wunderkommt uns eine Spur entgegen. Ein Mensch hat da einen tiefen Graben in den Schnee gefurcht. Freudige Zuversicht macht sich breit. Jetzt haben wir nur noch dieser Spur zu folgen, vielleicht eine halbe Stunde noch, dann sind wir beim Hospiz, werden im Wärterhaus Gastrecht geniessen, werden Schnee und Kälte draussenlas-sen, und alle Mühsal und Müdigkeit wird vergessen sein. Herrlich wird 's sein, fast so gemütlich wie in der Hütte!

Frohgemut durcheilen wir den Stollen, um uns am Ausgang enttäuscht an den Grind ( Entschuldigung !) zu greifen. Den Weg sperrt ein gut mannshoher Schneehaufen. Von einer Spur keine Spur mehr! Jetzt haben wir doch geglaubt ...ja, zum Teufel - ist denn der Kerl von da an geflogen? Und hier, ganz sicher erst hier, befällt mich eine tiefe Mutlosigkeit. Will denn die verdammte Plackerei kein Ende nehmen? Voller Ingrimm wird der feindliche Haufen bearbeitet, bis das Hindernis bezwungen ist.

Dort drüben - keine vierhundert Meter Luftlinie sind 's — hebt sich gross und schwarz die Silhouette des Hospizes vom nächtlichen Wolkenhimmel ab. Dort drüben wäre Geborgenheit und Wärme; aber der Weg dorthin — hier als schmaler Sims in die fast lotrechten Felsen eingelassen -spielt neue Tücken aus, und die Möglichkeit, dass die geringe Neigung der Schneewand den Spurenden ins Leere drängt, ist nicht von der Hand zu weisen. Jetzt wollen wir aber nicht zu guter Letzt, sozusagen ante portas, noch einen Unfall riskieren; darum ergeht der Ruf nach einem Seil.

Aber gerade als Hans im Rucksack nach dem Seil fischt, fällt seine Taschenlampe in Ohnmacht. Die unsrigen haben längst den Dienst aufgekündigt. In zorniger Aufwallung will er sie in den Stausee schleudern. Schon holt sein starker Arm zum vernichtenden Wurfe aus. Doch mit einer bei mir eher seltenen Beredsamkeit suche ich ihm klarzumachen, dass man einem sonst so treuen Diener doch nicht ein derart schmähliches Ende bereitet. Dank meinem feurigen Plädoyer wird das todgeweihte Instrument schliesslich begnadigt.

Mit dem wohltuenden Druck des Seiles auf der Brust und der Gewissheit um Ernsts sichere Hand wird wieder aufgebrochen. Doch da naht über den Staudamm her ein schwankendes Licht, und eine Stimme schallt von unten; ich meine sie als diejenige Edis, des Chefwärters, zu erkennen, der mit seinen Getreuen die Kraftwerkanlagen hütet. Dann Ruf und Gegenruf. Der Mann beordert uns wieder zurück in den Stollen, was bei uns zweifelndes Kopfschütteln auslöst. Gleichwohl gehorchen wir. Dort, in der stockschwarzen Finsternis, flammt ein Streichholz auf. Ei, da ist ja eine Tür! Sie ist zwar verschlossen, aber wir glauben jetzt Edis Absicht zu kennen; auch das Rätsel von der verschwundenen Spur ist mit einem Schlage geklärt.

Eine Viertelstunde vergeht, die zweite auch zur Hälfte. Die Kälte in dem zügigen Loch dringt allmählich durch Kleider und Haut in die ermüdeten Glieder, und wir wünschen uns bald einmal wieder hinaus in den Männerkampf. Endlich erscheint im Türspalt Licht, und nach weiteren Minuten dreht sich der Schlüssel im Schloss. Obgleich es ins Erdinnere geht, erscheint es uns, als ob wir auf direktem Weg ins Paradies einträten.

Edi führt uns über viele, viele Treppen hinunter wieder ins Freie, dann auf der andern Seite der Staumauer wieder unzählige Stufen hinauf in sein Haus, und von jetzt an geht alles, wie es uns unsere Vision vorgegaukelt hat. Derweil Edi das Téléphonât erledigt, bereitet uns seine Frau ein köstliches Siegesmahl.

In der nachfolgenden Plauderei hören wir, dass man - und zwar nicht nur in unseren Familien — um unser Schicksal gebangt habe. Es wurden schon Späher nach uns ausgesandt ( daher die rätselhafte Spur ). Und eben als Hansens Taschenlampe verschied, hatte Edi von seinem Auslug das verglimmende Lichtlein gesehen und war geeilt, um uns eine mühevolle und gefährliche Kletterei zu ersparen, in der Aufregung zuerst mit dem falschen Schlüssel.

Als wir, ausgeruht und gestärkt, den Heimweg antraten, blinkten durch ein paar Wolkenfenster bereits vereinzelte Sterne. Edi hatte die Fahrt vortrefflich organisiert. Auf jeder Station wartete bereits der Extrazug; wir brauchten nur umzusteigen. Erst per Seilbahn, dann per Stollenbahn und wieder mit dem Funi und zuletzt im weichen Fond der Limousine ging 's heimzu.

Am andern Morgen erschien die tiefverschneite Welt im strahlenden Glanz eines sonnigen Wintertages.

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