Dreigestirn für Senioren
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Dreigestirn für Senioren

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Ernst Nägeli, Hasliberg

Auf « unbegehrten », herrlichen Gipfeln im Gauligebiet Es beginnt auf dem Heimweg von einer Au-gust-Wochenendtour. Wie beiläufig lässt einer meiner Kameraden die Bemerkung fallen, er sei ab Bettag « ferienhalber » frei. Für mich ist das wie Anruf— Anruf aus den Bergen! Schon teile ich meine Arbeit in dringende und aufschiebbare ein. Die zweite Sorge gilt dem Wetter.

Nun, Petrus scheint zwei alten Hasen gegenüber wohlgesinnt zu sein. Anderthalb Tage beuge ich mich bei klarblau durchs Fenster blinkendem Himmel angestrengt über den Schreibtisch. Inzwischen aber ist die Abmachung am Draht zum Klappen gekommen. Treffpunkt 14.30 Uhr, Meiringen. Zwei schon etwas verwitterte, aber nicht minder glücklich sich anstrahlende Gesichter, ein bedeutsamer Händedruck... dann folgt alsbald ein taktisches Manöver mit unsern VWs, indem der eine ein Stück weit ins Guttanner Tal verschoben, dort seinem Schicksal überlassen und der andere zur gemeinsamen Fahrt nach Nessental-Käppeli benützt wird. Von da geht 's in köstlicher Abendstille durch farbig angehauchten Wald steil hinauf zum « Ergeli », weiter zur Triftalp und von da nach dem einsamen Windegghüttlein.

Bloss Vorspiel... vom Gauli möchte ich ja erzählen, nicht vom verführerischen Mondschein-abend der Windegg und der rauchschwangern Gastlichkeit des Refugiums, darinnen wir uns mit zwei jungen Nessentaler Gemsjägern in die zwölf Schlafplätze teilen können; auch nicht vom frühmorgendlichen « Raketenstart », wie Gerhard sich nachher hochatmend ausdrückte. ( Erst später vernahmen wir, dass es sich bei den zwei Brüdern um regional bedeutende Skilangläufer gehandelt hatte. ) Trotz unserer gut 50 Lenze halten wir mit ihnen Schritt bis dort, wo die Wege sich teilen müssen: Nimrode Richtung Furtwangsat- tel, Gipfelkraxler am Südfuss von Windegghorn und den Stotziggrat entlang dem Mährenhorn zu. Ihre Hoffnung geht dahin, dass wir ihnen die Gemsen « hinunterdrücken », die unsrige, dass der Wind und des Bergkönigs unsichtbare Schutz-hand dem morgenäsenden Rudel günstig sei.

Bald schon fällt ein Schuss. Als zweiter « Chlapf » ruft Gerhard von einer normalen Verrichtung aus den Granitblöcken: « Du, ich muss nochmals zur Hütte. Geldbeutel und Autoschlüssel liegen noch über der Pritsche auf dem Sims... » Er lächelt mit etwas schmerzlich verzogener Miene: « Weisst du, das Alter... » Doch tapfer haut er ab. Mit zwei Säcken am Rücken ziehe ich, um in der Morgenkühle nicht zu frieren, langsam weiter.

Den Gipfel jedoch erklimmen wir dann über das steile Firnfeld in schönster Zweisamkeit. Harmonie, Zusammenklingen bleibt übrigens eines der Hauptmerkmale dieser an sich bescheidenen Bergfahrt. Hin und wieder nur ein störender Schuss. Nun — es ist Gemsjagdzeit. Tief unter uns auf dem Schneefeld ziehen ruhig ein paar Geissen mit ihren Kitzen; der Todeshauch scheint sie noch nicht gestreift zu haben.

Der Abstiegsweg ist lang. Eine Route, « die man nicht macht », auf die sich vermutlich nur alle paar Jahre einmal zwei Idealisten verirren. So überschreiten wir den ganzen Grat vom Mährenhorn über Graustock und Brunnenstock bis in den Benzlauisattel. Hier endlich mahnt die vorgerückte Zeit zum Aussteigen.Nochmals ein Blick zurück auf unsere Grattour, die das Bild des Haslitales einmalig darbietet. Dann schlagen wir den Weg nach der Benzlaui ein.

Es ist schwer zu sagen, welche Seelandschaft reizvoller wirkt: jene vom Wannisbord, die wir aus der Höhe des Graustocks genossen, oder jene von Benzlaui, die uns zur kurzen Verpflegungsrast lädt. Hier wie dort liegen funkelnde Smaragde zwischen Weide und Fels gebettet, unberührt von allen Segnungen der Zivilisation. Man möchte verweilen. Doch unser Weg ist noch lang. Hinab führt er zu den geduckt vor ihrem Lawinenschutz kauernden Sennhüttlein von Benzlaui und weiter durch ein Gebiet, das stark an den Schweizerischen Nationalpark erinnert. Die Urwüchsigkeit dieser von sonnigen Legföhrenhängen und kämpferischen Tanngrotzen beherrschten Region muss übrigens schon einer Generation lange vor uns bewusst gewesen sein. Findet sich doch im bernischen Staatsarchiv ein obrigkeitlicher Beschluss aus dem Jahr 1553, welcher das Gebiet von Benzlaui oberhalb Boden—Guttannen mit Jagdbann belegt, und zwar in dem Sinne, dass « jegliches Töten und Jagen von Thieren, wie auch das Fangeni erstellen » verboten war. Einzig die Jagd auf Bär und Luchs wurde gestattet. Offenbar gab es diese Grossraubtiere damals in der Benzlaui noch. Sie sind übrigens im Hasli verhältnismässig spät ausgerottet worden: Der letzte Luchs ging 1804 im Boden zu Guttannen in eine Falle, und der letzte Bär wurde 1812 im Aarboden an der Grimsel durch Guttanner Jäger zur Strecke gebracht. Wann dieses wohl älteste schweizerische Banngebiet der Jagd wieder geöffnet wurde, liegt im dunkeln. Vermutlich erlosch jene obrigkeitliche Verfügung ganz einfach durch Umwälzungen in der Staatsgewalt.

Im Tiefschatten liegt das Aaretal, wie wir endlich auf unseren « ausgesetzten » VW stossen. Rasch in die Sandalen und in ein trockenes Hemd geschlüpft, und dann gilt 's den zweiten zu suchen, der jenseits einer hohen Bergkette auf uns wartet. Damit nähert sich das Vorspiel rasch seinem Ende, doch nicht ohne die tröstliche Vereinbarung, sich am Donnerstag im Lauf des Nachmittags, wenn ich die dringendsten Berufspflichten erledigt haben werde, wiederum mit Sack und Pack in Meiringen zu treffen, um der Welt nochmals zu entfliehen, für ganze drei wonnigli-che Tage, weit, weit hinein ins abseitige, selbst vielen Haslitalern nur vom Hörensagen bekannte Gauligebiet...

Schwer drücken die Säcke mit ihrem Halbwo-chenproviant. Doch die Voraussicht auf drei Tage beglückender Bergfahrt wirkt als « Lastenausgleich ». Zwar wallen etwas zwiespältig dunkle Nebelgeister um die Ostabstürze des Engelhorn-Massivs. Versorgt mit einer leidlich guten Wetterprognose und noch besserer persönlicher Zuversicht, sind wir indessen guten Mutes. Schon liegt das Herdengeläute von Urbach und das Treicheln des Galtviehs auf Rohrmatten weit unter uns. Drei Gemsjäger, an einem Rinnsal Vier-uhr-Imbiss haltend, betrachten uns und unsere Rückenlasten mit mitleidigen Blicken. Sie scheinen den Zweck unseres Unternehmens — und dazu noch ohne Stutzer - nicht einzusehen. Nun, ihnen eine gute Jagd und uns sonnige GipfelAlp Schrättern: Abzweigung nach Matten, Hochwang... die Stunden verrinnen. Wir werden kaum bei Tageslicht am Ziele sein. Was tut 's? Den Nebelgespenstern sind wir entronnen; auf den Schaflägerstöcken und dem Ritzlihorn glutet die Abendsonne wie stumme Verheissung. So durchmessen wir nach kurzer Rast bei den Wächtern des Hochwang - drei Steinmänner - die letzte ergiebige Wegstrecke in der herabsinkenden Dämmerung, darin die Granitbuckel phantastische Schatten werfen und kleine Felsenseelein aufblinken, wie lauteres Silber.

Von einer abgestiegenen Partie wissen wir, dass noch ein einzelner Gast in der Hütte weilt. Führer und Strahler — wir kennen ihn gut. Das Hallo der Begrüssung ist dementsprechend. Sofort legt Ernst, der eben die Pritsche aufsuchen wollte, neue Scheiter auf und spielt diensteifrig Hüttenwart für uns zwei abgekämpfte alte Knaben. Nach vierstündigem Lastenschleppen geniessen wir die flotte Bedienung nur allzugern. Ernst hat eine Partie -jene, die uns begegnete -aufs Hangendgletscherhorn geführt und ist nachher « noch etwas strahlen gegangen ». Wie üblich, verliert er nur wenig Worte über einen Fund. Dass er ihn jedoch getätigt und morgen unten an der Moräne « im Vorbeigehen zu rucksackisie-ren » gedenkt, lesen wir aus dem Mosaik seiner knappen Bemerkungen.

Während des ausgiebigen Nachtessens zeugt ein Blick durchs Fenster enttäuschte Gesichter: Jetzt hat der Nebel auch den Gebirgskessel von Gauli gefüllt! Ernst zerstreut unsere Bedenken. Das Barometer sei geblieben und: « Moren isch umhi glanzheiter! » Mein Transistor streikt — die günstige Ecke rund um die Hütte für den Empfang von Beromünster kann ich erst tags darauf finden. Doch wesentlicher als die Prognose ist ein neuer Blick hinaus vor dem Schlafengehen: wolkenlos! Eben steigt der volle Mond über die Golegghörner und taucht das ganze Gauli in platin-helles Licht. Der Nebel ist als flaches Meer auf den Stausee zurückgesunken. Hoch über der Szene thront als gewaltiges Massiv einsam das Ritzlihorn, ein ebenso unnahbarer wie unter der jungen Generation eingeschworener Felsgänger un-begehrter, ja verrufener Berg, ein Berg, um den sogar Haslitaler Führer eingestehen müssen: « I bin no nie doben gsin... » Und doch eine Pyramide von fast königlicher Majestät, als erste stets den Heimkehrer begrüssend, von welcher Seite er sich auch seiner alten Heimat nähert — unser Berg für morgen!

« Und weiter? » forscht Ernst nebenbei. Hangendgletscherhorn über Kammligrat, Hühnertä-li über Nordwest. Kaum klassische und schon gar nicht « berühmte » Routen, aber anständige Felswege, gerade recht für uns zwei spätgeborene Alpinisten, die wir vom Fieberwahn eines fünften und sechsten Grades nie angehaucht wurden und denen auch noch ein guter « Dreier », ebensogut gemeistert, stilles Glück in anspruchsloser Berg-steiger-« Karriere » bedeuten kann.

Der Morgen beginnt damit, dass Gerhard sich anmasst, die Zeit um eine Stunde vorzuverschie-ben. Der ungewollte Betrug kommt erst ans Licht, als es draussen nicht licht werden will. Ernst, der schon wiederholt seinen Kopf durchs Fenster gestreckt hat, fragt endlich misstrauisch: « Was isch eigetli fir Zyt? » - Halb fünfe... genau die Zeit, da wir aufzustehen beabsichtigten. Nun starten wir eben mit den Lampen. Von dort, wo es den Kammlieggweg zu verlassen gilt, lotst Ernst uns mit nachtwandlerischer Sicherheit durch ein Schattentälchen abwärts und erklärt uns, wo die Holzplanke über den einen und der Steg über den andern Arm des sonst an keiner Stelle passierbaren Gletscherwassers zu finden sei. So sparen wir eine runde Stunde gegenüber den im Führer angegebenen Wegen. Macht zusammen mit Gerhards schiefem Blick auf die Uhr zwei Stunden; also ist unser Ritzlihorn-Fahrplan nicht schlecht.

Er wird es auch nicht. Der Anstieg im Morgenschatten und mit leichtem Sack - an Material haben wir bloss eine 30-Meter-Reepschnur mitge-nommen—istlängst nicht so mühevoll, wie das Gerücht haben will. Ein bisschen eintönig, ja, immer wieder über Rippen und durch Runsen, und jede Halbstunde ruft Gerhard irgendwo hinter mir, jetzt habe er « eine Kristallkluft gefunden » - aber schliesslich treten wir doch ins blendende Grat-Sonnenlicht. Der Steinmann grüsst allerdings von Südosten. Doch nach fünf Minuten leichter Gratkletterei haben wir ihn, den vielgeschmähten und wiederum doch heimlich begehrten, unnahbaren Ritzlihorngipfel, und mit wenig Worten, aber um so mehr Glanz in den Augen drücken wir uns die Hand. Auf 3283 Meter stehen wir und wähnen uns auf 4000, vom Baldachin eines tiefblauen, durch kein Wölklein getrübten Sep-temberhimmels überspannt. Bloss tief in den Tal-einschnitten liefern die letzten Nebelschwaden vordringendem Licht zähe Rückzugsgefechte. Weit draussen im flachen Land liegt es zwischen den Erhebungen wie flockige Watte. Der Pilatus sticht wie ein Riffgebirge kühn aus dem Ozean.

Königliche Rast schenkt uns der Gipfel. Und ganz mit leeren Händen stehen wir ihm auch nicht gegenüber. Warum sollen sich nur auf eleganten Kletterbergen die vielen Partien ins « Goldene Buch » eintragen können — und nicht auch die wenigen auf diesem Koloss? Es ist nur ein kleines, bescheidenes Büchlein, das wir dem Steinmann zu treuen Händen übergeben, aber sein Raum reicht auf dem Ritzli bestimmt über ein Jahrzehnt.

Und nun der Abstieg: Wir beschreiten den Grat gegen die Mattenlimmi. « Endlos und steinschlägig », lautet im alpinen Volksmund sein Prädikat. Oh, man muss ihm bloss entsprechend be- gegnen - und sich bewusst werden, dass der Blick übers Haslital von diesem Grat womöglich noch gewaltiger ist als von jenem des Mährenhorns! Endlich die Limmi! Von da wiederum Runsen und Kämme, Kämme und Runsen, und schliesslich durch ein enges Couloir, das wir schon am Morgen ausgemacht haben, zwischen den letzten Steilabstürzen hinunter auf die Alpweide von Matten. Bleibt noch eine Stunde Anstieg zur stillen Hütte. Im letzten Licht der hinter die Kammliegg sinkenden Sonne erreichen wir sie - und hochatmend blicken wir nochmals zurück auf das grosse Geschenk dieses ersten Tages.

Der zweite Morgen sieht uns bei verlöschen-dem Sternenschein auf dem Weg zum Kammligrat. Weder Gerhard noch ich kennen ihn. « Vorwiegend mittelschwere, stellenweise schwierige Klettertour », sagt das braune Büchlein. Gewisse Erfahrungen haben uns gewitzigt. So halten wir auch heute umsonst nach grossen Schwierigkeiten Ausschau. Gemswild bei der Morgenäsung, Frühgold auf Ewigschneehorn und Ankenbälli, breite Geröllrücken hinter uns, vor uns anregende Türme und problemlose Käntlein und wiederum ein Blockgrat, über den sich bequem wandern lässt. Oh, wir können uns auch an diesem geruhsamen Wandern erlaben! Ins herbstliche Gauli zieht man nicht um pikanter Dinge des fünften und sechsten Grades, sondern um einmaliger Landschaft, einsamer Gipfel und des daraus sich gestaltenden Erlebnisses willen — ein Erlebnis, weder spektakulär noch glanzvoll, dafür aber mit vielen kleinen Lichtlein nach innen strömend. Haben wir es nicht schon gestern dort drüben gefunden? Heute schenkt uns ähnliches der diesseitige Gipfel. Und morgen - so hoffen wir - möge sich das Gauli-Dreigestirn weit taleinwärts glückhaft fortsetzen und vollenden.

Gipfelrast wiederum in herbstlichem Sonnenglanz und unendlicher Ruhe. Dann Abstieg, nach Überwindung des Bergschrundes über viel fördernden Schnee. Diesmal erreichen wir unser gastliches « Heim » noch bei strahlender Sonne. Es ist aber auch höchste Zeit, mit der Zuberei- tung unseres lukullischen Menüs zu beginnen, in dessen Düften wir schon den halben Tag geschwelgt, denn bald dürfte sich die Hütte mit Wo-chenendgästen füllen. Und sie tut es auch! Wenn wir aber glaubten, bei Suppe, Kartoffelstock und Gulasch am fürstlichsten zu tafeln, dann täuschten wir uns gewaltig. Während der nächsten Stunde wird der Hüttenraum zur spruzzelnden und brodelnden Hotelküche. Gesegnete Mahlzeit! Lächelnd fragen wir uns, ob da eigenlich um der heutigen Speisekarte oder der morgigen Gipfeltour willen der vierstündige Weg ins Gauli bewältigt worden ist.

Heute kommt das kleine Gemsrudel, das wir gestern während des Nachtessens aus einer Distanz von kaum 15 Metern die längste Zeit beobachten konnten, nicht vorbei. Zu laut, zu froh und zu festlich ist 's in der stillen Hütte geworden. Gerhard und ich gehen zeitig schlafen. Morgen wartet unser nicht nur eine lange Tour, sondern auch ein nahrhafter Heimweg: der Weg zurück in die Zivilisation —Abschied vom Gauli...

Um halb 4 erheben wir uns zwischen schnarchenden Wolldeckenhügeln. Unser Weg liegt wiederum unberührt; kein Mensch hat sich fürs Hühnertälihorn eingeschrieben. Uns kann 's nur recht sein. Bei Mondlicht gelangen wir von der Kammliegg hinab auf den Gauligletscher. Der erste Tagesschein hilft uns jenseits über die Moräne, und eine Stunde später traversieren wir auch schon den untersten Eisstrom des Hühnertälis. Die ersten Sonnenstrahlen fallen in unsern Grat, wie wir nach dreistündigem Marsch die breite Schulter und damit den eigentlichen Einstieg erreicht haben. Die Kletterei beginnt leicht und wird rasch interessanter. Schon stehen wir vor dem gewaltigen Steilaufschwung. Ich suche die Schlüsselstelle. Der Passus im Führer mit « Seilwurf über ein kleines Zäcklein rechter Hand über der Gratkante » hat seinen Eindruck, wie ich jetzt spüre, doch nicht ganz verfehlt. Vermutlich aber habe ich schon den « Schlüssel »: ein Monstrum von einem alten, rostigen Haken, den ich mit zwei Fingern aus dem Riss ziehen kann. Durch ihn fin- de ich in der linken Flanke den zweiten, der sicherheitshalber ein paar Hammerstreiche erhält, singt und sitzt und der mir über kurzem auch den Weg zu einem dritten hoch oben in der senkrechten Wandstufe weist. Diesen, abgebogen wie durch einen Sturz, wage ich nur flüchtig zu belasten und turne raschmöglichst wieder gegen die Gratkante ins strahlende Sonnenlicht. Gerhard kann nachkommen. Der Grat legt sich zurück. Noch halte ich nach dem ominösen Seilwurfzäck-lein Ausschau. « Das war doch dort, wo du dich so frech aus der Wand in den Grat hinausgeschwungen hast! » sagt Gerhard strafend; doch sehe ich, wie er sein launiges Schmunzeln unterdrückt.

Wochenende her oder hin - wir treten auch diesmal auf einen menschenleeren Gipfel. Der dritte Berg rund ums Gauli, der nur uns zweien gehört! Drüben auf dem Gross Diamantstock stossen sich die Ostgrat-Partien. Im Aufstieg von der Grubenhütte her zu uns aber scheint niemand. Nun, wir sind 's gewohnt, bloss zu zweit Mittagsrast zu halten. Dann tragen wir uns ins fast neue Gipfelbuch ein, das - welch glatte Idee - in einem ebenso neuen eidgenössischen « Einzelkoch-geschirr » ( lies « Gamelle » ) versorgt ist. Und jetzt an den Abstieg denken! Nordgrat und -flanke locken uns, weil im Schatten und Neuschnee, nicht sonderlich. Südgrat, ins Grubengebiet führend, kommt nicht in Frage. Also... das Stichwort, von beiden schon im Aufstieg im Mund, ist gefallen: Rückzug mit diversem Abseilen! Dabei scheint uns zwei angegrauten Senioren nun doch noch etwas wie eine « Erstbegehung » beschieden zu sein. Denn auf diesem ganzen Rückweg über unsern beträchtlich langen Aufstiegsgrat findet sich auch nicht die geringste Spur jemals ausgeführter Abseilmanöver. Viermal werfen wir das Seil aus; bei der letzten hohen Plattenwand muss noch die Reepschnur als Verlängerung herhalten. Im ganzen gleiten wir rund go Meter mühelos die Steilaufschwünge hinunter, südseits vorbei an der Schlüsselstelle und am « überfahrenen » Seil-wurfzacken. Glücklich und sogar ein bisschen stolz über unsern rasch und glatt verlaufenen Rückzug durch « Niemandsland » holen wir zum letztenmal das Seil ein.

Der Weg über die zwei Gletscher ist nicht kürzer als am Morgen. Ein Wettlauf mit dem sich neigenden Tag! Wie erwartet: « Chalet Gauli » ist schon verlassen. Nochmals tüchtig verpflegt in der lieben Klause, Säcke geschnürt und dann, mit einem lachenden und einem weinenden Auge, Abschied von der Stätte unseres dreitägigen Glücks...

Der Schnee fällt über die Vorberge herab, während ich diese Zeilen schreibe. Alles durchwebt mich nochmals, wärmend und voller Leben: einsame Wege im Fels, herrliche Sonne auf verlassenen Gipfeln, kleine Strapazen und grosse Erholung, glückhafter Gleichklang mit einem lieben Seilkameraden. Auch ihn möge das Erlebnis von Gauli durch den Winter - und einem neuen Bergsommer entgegentragen!

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