Du kleine Schweiz
VON HANSPETER KELLER, WINTERTHUR
Mit 4 Bildern ( 60-63 ) In meinem Schreibtisch liegt ein kleines, blaues Heft; das ist eigentlich an allem schuld. Die Seiten sind mit Bleistift beschrieben, abgeknickte Ecken verhaken sich, und dort, wo eine Ansichtskarte oder eine Hotelrechnung mit Heftpflaster eingeklebt ist, werfen sich die Blätter wellig auf. Die fleischroten Streifen ziehen breit hin über eine Ansicht vom Schloss Grinau und über die Rechnung des Hotels « Raben », die zwei Übernachtungen mit Mittagessen und Kurtaxe bescheinigt.
Das Ganze begann letztes Jahr mit einem Telephon. Mein Freund Beat, der damals wie ich auf eine Prüfung hin arbeitete, fragte mich, was ich nachher vorhätte. Ich hatte jedenfalls keine Lust auf eine Fahrt zu den vielen Leuten am Meer. Nein, es sollte etwas Besonderes sein, etwas, was man später nie mehr unternehmen könnte; darin waren wir uns einig. Nicht ohne Zweifel brachte ich meine Idee vor. Es war ja nur so ein Vorschlag. Aber er wurde ohne langes Bedenken gutgeheissen: Wir wollten in unser Tessiner Ferienhaus wandern. Und nicht von Airolo, auch nicht vom Gotthard aus, nein, von hier, von Winterthur aus. Keinen Meter wollten wir uns schenken; auch der rührendste Automobilist sollte unser Herz nicht erweichen, und sei es auf den Knien; wir würden nicht mitfahren, würden zu Fuss weitermarschieren und mit Verachtung seine Abgase veratmen.
Schön war es, Pläne zu schmieden. Die Reise sollte über den Kistenpass gehen. Beat ist Pilot. Beat flog im Düsenjäger das Glarnerland hinauf und meldete, dass dort schon beträchtlich Schnee liege. Im September!
Die genaue Route war bald einmal festgelegt, und als unsere Prüfungen glücklich vorbei waren, marschierte Beat mit seinem Rucksack durch die Stadt bis vor unser Haus; gemeinsam schlichen wir uns durch Nebenstrassen aus Winterthur hinaus und zogen tüchtig aus über den Eschenberg Richtung Tösstal.
Mein blaues Heft lockt zum Abschweifen: Erzählen möchte ich von den Militärschuhen, in denen meine Ferse auf- und niederrieb, weil sich die neue Sohle nicht biegen wollte; vom Stall, wo wir die erste Nacht im Stroh schliefen, eingerollt in Militärmäntel, mitten in der Nacht geweckt vom sauren Most, der nicht den gewohnten Weg wollte, am Morgen abermals geweckt vom Rascheln der Mäuse, die eilig wie Fahrzeuge in den Lichtgleisen zwischen den Dielenbrettern rannten; von Frau Gyger, der Frau des Sennen, die wir heimlich allen Heftpflasters beraubten, um unsere vier Fersen notdürftig zu verkleben. Beschreiben möchte ich auch den Ruhetag, den uns die Blasen an den Füssen aufzwangen, den « Barfüssertag » mit allstündlichem Desinfizieren und mit Vorlesen aus Büchern -am Linthkanal. Wichtiger aber ist, dass wir auf dem sogenannten Höhenweg über das Hörnli und das Schnebelhorn in die Linthebene und von dort, der Linth folgend, nach Linthal marschierten. Finster sah uns der Himmel entgegen, und an den Hängen schmolz langsam der Schnee. Zwei Tage warteten wir in Linthal, besuchten Braunwald, das uns in unserem Kummer auch nicht helfen konnte, aber an einen Übergang über den Kistenpass war gar nicht zu denken. Aus war 's mit den Reden, dass wir 9Die Alpen — 1967 -Les Alpes129 die Schweiz schon meistern wollten. Im Züglein von Linthal nach Ziegelbrücke, im Schnellzug nach Zürich sassen zwei Gestalten, guckten durch die verregneten Scheiben zu den verschneiten Bergen empor und träumten im stillen vom nächsten Jahr, von vierzehn Tagen warmer Herbstsonne - ohne Regen, Nebel und Schnee - und von Füssen voller Hornhaut.
Das ist die Geschichte, die mir das kleine blaue Heft erzählt, sooft ich es hervorsuche. Und heute hat es sogar ein Brüderchen: ein gelbes, dickeres Heft, wieder mit Bleistiftgekritzel gefüllt, wieder mit eingeklebten Hotelrechnungen und Ansichtskarten; aber diesmal sind die Rechnungen auf den letzten Seiten in italienischer Sprache geschrieben. Ja, dieses Jahr glückte es uns: wir marschierten von Winterthur nach Locarno in neun Tagen, und so, wie wir es uns geträumt hatten, in neun Tagen voller warmer Herbstsonne, ohne Regen, Nebel und Schnee, und mit Füssen voller Hornhaut!
Weil Beat wieder eine Prüfung abzulegen hatte, musste ich mich nach einem andern Begleiter umsehen. Auch Urs fand die Idee gar nicht so schlecht, besass Schuhe, die von selbst marschierten, rechnete mit 30 bis 40 Kilometern im Tag und musste sein « Mütlein » kühlen lassen, als wir ihm unsere Erfahrungen von grossen Tagesstrecken erzählten und Photos zeigten.
Auch Urs marschierte mit seinem Rucksack vor unserem Haus auf; es war an einem Montag, Mitte September, und unter weissem Hochnebel verliessen wir Winterthur, drangen durch den Wald gegen die Kyburg vor und liessen die Steine knirschen unter den Schuhen. Durch wechselnde Wolkenlücken lugte eine ferne Sonne. Einmal flitzte es vor unseren Füssen über den Weg, dass die Steine stoben, donnerte über ein rostiges Wellblechstück und keifte vom nächsten Ast herunter. Ich habe nicht gewusst, dass Eichhörnchen bellen können.
Als es Mittag war, legten wir uns unter einem Baum ins Gras und falteten mit fettigen Händen geräucherten Schinken zu kleinen Päckchen, die wir mit Brot und Äpfeln assen. Urs war aufgebracht, dass er Äpfel mitgetragen hatte; wir lagen unter einem Apfelbaum, rund um uns herum Apfelbäume, und wir erfanden ein Sprichwort: Äpfel nach Agasul tragen. Agasul hiess der nächste Ort. Überhaupt beglückte uns die Landeskarte der Schweiz mit wunderlichen Namen. Denn als wir gegen 3 Uhr nach Pfäffikon kamen, lockte uns viel mehr eine Ortschaft jenseits des Sees: « Seegräben », und wir beschlossen, dort nach einem Hotel zu suchen. Es gab aber keines. Dafür wies man uns nach « Robenhausen ». Der Name gefiel uns auch. Auf der Karte war ein grosses Viereck mit vielen Nebengebäuden eingezeichnet, wohl ein Schloss, vielleicht heute ein Museum oder gar zu einem bescheidenen Hotel umgebaut. Es war aber eine Fabrik. Und das Hotel war besetzt. So landeten wir schliesslich in Ober-Wetzikon und waren froh, ein Zimmer im vierten Stock zugewiesen zu bekommen.
Am nächsten Morgen sah es ganz so aus, als ob der Himmel bedeckt sei. Aber das Radio hatte uns schönes Wetter versprochen. Wir wanderten auf kleinen Wegen durch die Ebene, die einmal Seegrund gewesen ist, nach Hinwil und weiter nach Hadlikon, wo wir im Dorfladen unser Mittagsbrot kauften. Es war 11 Uhr. Primarschüler waren auf dem Heimweg, grüssten uns scheu und mit misstrauischen Augen.
Wir umgingen Rüti, stiegen in die steile Schlucht hinab, die sich die Jona gegraben hat, und kamen nach Fägswil. Aus einem offenen Fenster drang die bekannte Stimme des Nachrichtensprechers. Wir stellten unsere Rucksäcke ab, setzten uns aufs Gartenmäuerchen, begrüssten die Frau, die im Garten jätete, und erklärten ihr, dass wir uns nur die Nachrichten anhören wollten. Wir erhielten es nochmals bestätigt: die Wetterlage war wirklich stabil. Das Mittagessen fand auf einem verlassenen Heuwagen statt. Gedeck und Bedienung waren bescheiden. Dafür gab es viel Käse: Emmentaler.
Zwischen Fägswil und Schmerikon am Zürichsee standen langgezogene Hügelzüge von mittlerer Höhe quer. Kleine, oft gelb markierte Wege führten uns auf und ab, erklommen sanfte, waldige Anhöhen und sickerten durch kleine Tobel wieder hinab ins nächste Tal. Verloren lagen einzelne Hofe darin, meist sumpfig umrandet.
Vom Goldberg oberhalb Schmerikon weichen die letzten Querhügel auseinander, spreizen ihre Arme und geben die Ebene frei, die heute nicht fruchtbares Land wäre, hätte nicht Herr Konrad Escher die Linth « gegrädet ». Dies für die Primarlehrer. Und für die Photographen das Folgende: Goldberg bei Schmerikon ist ein schöner Photopunkt. Rechterhand weitet sich der Obersee. Wir machten halt und sahen Lastschiffe knapp über dem Wasser Kies frachten und um die Biegung gegen Rapperswil verschwinden, unter uns den Einfluss des Linthkanals in den See und Schloss Grinau, wo wir übernachten würden; linkerhand, im Abenddunst verdämmernd, Kamine und Telephonstangen über den Dächern von Uznach, unweit Soldaten, die übten, weit weg ein Kartoffelfeuer in der Ebene, Rauchsignale sendend.
Neben dem kurzen, breiten Turm von Schloss Grinau, wo auf langer Stange eine Flagge uns willkommen hiess, steht breit an der Strasse ein Gasthaus. Dort klopften wir an, liessen uns ein Doppelzimmer zeigen und stiegen, noch badefeucht und von Seife duftend, in die Gaststube hinunter zum Nachtessen.
Nicht ganz hatten wir unser Ziel erreicht: meine beiden kleinen Zehen wiesen je eine kleine Blase auf, und auch Urs hatte eine Stelle unter seiner grossen Zehe, die ihm nicht gefiel. Aber fachmännisch behandelt, bereiteten sie uns später keine Beschwerden mehr, und wir wanderten von nun an auf einer täglich robuster werdenden Hornschicht.
Auf der Karte Lachen der Landeskarte der Schweiz ist der Linthkanal mit seinen 13 Kilometern Länge ein verhältnismässig breites, schnurgerades blaues Band mit einem Knick bei Giessen, um dem Benkner Büchel, einer waldigen Höhe mitten in der Ebene, auszuweichen. Auf der Karte Lachen verspricht der Linthkanal, fünfzigtausendmal verkürzt, eine langweilige Wanderung auf künstlich aufgeworfenen Uferwällen. Ich wusste es vom letzten Jahr: das Wegstück war schöner, als es die Landeskarte verspricht. Und auch diesmal hatten wir eine heisse Sonne gegen uns. Lange zögerten wir den Aufbruch hinaus mit Morgenessen und mit Gesprächen mit der Wirtin; erst um 11 Uhr schulterten wir unsere Rucksäcke, krempelten die Ärmel auf und nahmen den endlosen Weg unter die Füsse, der zweispurig gegen das eilige Wasser in die Ebene hinausläuft.
In Ziegelbrücke mussten wir uns entscheiden zwischen zwei Tälern; doch hatten wir die Wahl natürlich längst getroffen: ins Glarnerland hinauf sollte die Reise gehen, nicht zum Walensee. Einen Ort nach dem andern hinter uns lassend, uns zwischen den geteerten Strassen auf Kieswegen durchsuchend, kamen wir zum Fuss des Glärnisch, besahen uns - mit mehr Ehrfurcht als sonst vom Auto aus - die fernen Schneefelder, die uns die beiden letzten Tage den Weg gewiesen hatten. In Glarus übernachteten wir und fanden es bald einmal selbstverständlich, dass am nächsten Morgen die Sonne wieder durch den Hochnebel drückte.
Uns immer an den Lauf der Linth haltend, besuchten wir Mitlödi, Schwanden, Nidfurn, Leuggelbach und Luchsingen, Hätzingen und Betschwanden, hörten die Leute diese Namen in ihrem eigentümlichen Dialekt singen und erzählten auch gerne dem, der es wissen wollte, woher wir angewan-dert kamen Von den Bergen lachten brache Felshalden und gelbes Gras und kein Schnee wie letztes Jahr. In Linthal leisteten wir uns noch einmal den Luxus eines Mineralwassers, kauften einiges für den morgigen Tag und stiegen auf zum Kurhaus Obbort. Schon um 4 Uhr nachmittags langten wir schwitzend an; lange plauderten wir mit einem Glarner Bäuerlein, das anscheinend viel auf dem Herzen hatte, was es der jungen Generation auf den Weg geben wollte, immer wieder unterbrochen von seiner Frau, die zum Abstieg drängte und die schliesslich seufzend konstatierte, dass sie nun den 6-Uhr-Zug in Linthal jedenfalls nicht mehr erreichen würden. Auf 1000 Metern Höhe besahen wir uns einen Sonnenuntergang, rannten barfuss zum nahen Alpbrunnen, wuschen uns mit kaltem Wasser, und nach einem währschaften Nachtessen gingen wir schon früh schlafen.
Etwas nach 6 Uhr zogen wir die noch feuchten Marschkleider an, frühstückten ( die Wirtin war eigens aufgestanden ) und machten uns auf den Weg. Wenn ich hier wieder auf das Wetter zu sprechen komme, so nur, um zu melden, dass der Tag einmal mehr wolkenlos zu werden versprach. Das Kurhaus unter uns lassend, wanderten wir bergauf, dem Pfad folgend durch noch feuchte Wiesen, querten kleine Schluchten, in denen kärglich Wasser sickerte, und standen bald unten am sogenannten « Tritt », einem steilen Aufstieg, der erst in einer Lichtung beginnt, sich unter ein Felsband hinaufzick-zackt, dieses auf einer ausgehauenen Rinne überwindet und weiter ansteigt bis über die Baumgrenze.
Nach zweieinhalb Stunden waren wir auf der 2000-Meter-Kurve unserer Karte, gingen ihr entlang und stiegen leicht bergauf zur baumlosen Delle des Muttsees, der uns klein und gefroren und deshalb weiss entgegen blinkte. Die Sektion Winterthur des SAC hat hier eine Hütte aufgebaut; dafür waren wir ihr dankbar. Das maserige Holz der schräggestellten Bank neben der Tür ist braun und schwarz gebrannt; wir setzten uns an die Sonne, hemdärmelig und mit fettigen Gesichtern, packten einen Apfel aus und massen vom Zitronenwasser in einen Becher ab. Über dem linken Türbalken ist eine Bronzetafel eingelassen mit dem Namen eines Mannes, der sich als Bergsteiger und Gönner verdient gemacht hat und deshalb - so sagt die Tafel - zum Ehrenmitglied des SAC ernannt worden ist. Auch wir wollten einmal Ehrenmitglieder werden, wenn wir im Tessin ankommen würden, ratschlagten wir, schauten mit erfahrenen Mienen zu den felsigen Graten hinauf, rückten die unansehnliche Gletscherbrille auf der Nase zurecht und suchten schliesslich unser Weglein an den gegenüberliegenden Schutthalden, die im Schatten noch einige Schneeflecken zeigten. Wir würden keine Feier zur Entgegennahme der Ehrenmitgliedschaft verlangen, auch keine Sonder-spalte im Vereinsblatt, aber uns würden die billigeren Hüttenpreise freuen und vielleicht noch mehr die Geste. Urs erwog schon, von Steinmännlein zu Steinmännlein über die Muttenalp wandernd, welcher Sektion er den Vorzug geben würde; aber solche Gedanken vergingen uns bald, wollte doch das Weglein immer höher hinauf, verlor sich anfangs in einer langen Schneehalde, die mich in meinem Übermut zu einem kleinen Zwischen spurt anspornte, und bog unversehens um einen Vorsprung, hinter dem es eigentlich erst recht steil wurde. Unsere Schuhe fanden nicht mehr den gewohnten Halt, rutschten samt dem kleinen Geröll schrittweise wieder zurück; auf allen vieren arbeiteten wir uns hoch, machten einmal erschöpft halt, weil das mit dem Zwischenspurt zu streng gewesen war, und verglichen Karte und Umgebung. Schräg der Halde entlang stiegen wir noch 200 Meter an, entlang dem Kistenband, das wir unter uns steil abfallend nur vermuten konnten; dann stellten wir unsere Rucksäcke am höchsten Punkt ab, blickten zurück zum Muttenkopf und woher wir gekommen waren, blickten aus 2730 Metern Höhe hinunter zum Limmerenstausee, der 1000 Meter unter uns blaugrün zwischen den Berghängen dunkelte, hinüber zum Selbsanft, der mit seinem Schnee schon Wintergedanken in uns wachrief, und blickten voraus nach Süden zum eigentlichen Pass, zu dem ein Pfad hinunterschnürte und über sanft absteigende Wiesen verschwand.
Breil liegt in einer Mulde über dem Vorderrheintal, schaut mit seinen Engadiner Häusern hinüber zum Piz Titschal und hält für Feriengäste Sommertouren und Gasthäuser bereit. Mit heissen Zehenspitzen vom Abstieg setzten wir uns zu einem Bier in der Casa Fausta Capaul und fragten nach einem Zimmer Hier war Deutsch schon eine Fremdsprache; wir bemerkten es mit Genugtuung. Schon bei der Ankunft im Dorf hatten wir unser erstes « bun di » probiert, etwas verlegen und wohl wissend, dass es Abend war.
Nach dem Nachtessen legten wir im gelben Stubenlicht unsere Karten aus, bestellten ein Gut-nachtbier und sprachen über den weiteren Weg. In Einzelheiten hatten wir die Reise nur bis hieher geplant. Ich war nicht sicher gewesen, ob wir es überhaupt so weit bringen würden. Jetzt schickten wir übermütig Karten in der Schweiz herum und gingen dann in unser Zimmer, Urs zum Schlafen, ich zum Wäschewaschen.
Ein Trillerpfeif lein weckte mich am Morgen des sechsten Tages. Regelmässig schlug es an; es holte mich aus dem Bett und zeigte den Bäuerinnen an, dass sie die Ziegen auf die Hauptstrasse hinauszutreiben hatten. Vom Fenster blickte ich auf die meckernde Herde hinunter, sah, wie sie ihren Kaffeebohnenkot auf der Strasse verteilte. Später rief ein Hörnchen in gleicher Weise die Schafe zusammen. Wieder einmal wurde mir bewusst, dass ich als Städter noch vieles kennenlernen müsse, was mir die Natur in Winterthur vorenthalten hatte.
In Trun, das wir, schräg ins Tal absteigend, kurz vor Mittag erreichten, kauften wir Esswaren für anderthalb Tage: Brot, Kochspeck, Birnen und etwas, um dem Wasser aus den Alpbrünnlein einen Geschmack zu geben. Entlang dem Rhein, durchs Unterholz uns pirschend, trockene Bachbette ersteigend und Spinnennetze auseinanderreissend, nahmen wir den kürzesten Weg nach Surrhein. Das kleine Dorf flankiert den Eingang zum Val Sumvitg. Seine Kirche steht inmitten einer Wiese. Unweit davon, in einem zu ebener Erde gelegenen Lokal, eingepfercht zwischen lärmenden, frisch eingerückten Wiederholungskurs-Soldaten, assen wir zu Mittag. Es war Samstag; Einheimische sassen an einem besonderen Tisch: der Dorf lehrer -jedenfalls ein älterer, kleiner Mann mit runden Brillengläsern - und einige Jäger, mit wilden Augen in ihrer Sprache diskutierend, die Gewehre an die Wand gelehnt.
Es war Mittagszeit, als wir ins Val Sumvitg hinaufmarschierten; andere Leute sassen jetzt beim schwarzen Kaffee, und uns tropfte der Schweiss von der Stirn auf die Karte in der Hand. Tenigerbad, auf halbem Weg an der Strasse, heissen drei grosse verlotterte Häuser mit schwarzen Holzläden, die schräg an den verwaschenen Mauern hangen, und mit Holzbaikonen, die uns irgendwie an Wildwestfilme erinnerten. Bald darauf überraschte uns ein Stausee. Unsere Karte aus dem Jahr 1946 wusste nichts davon, und auch nichts von der staubigen Teerstrasse. Später führten uns die gewohnten weiss-rot-weissen Markierungen über weiche Wiesen. Eine riesige Schafherde weidete beidseits des Rein da Sumvitg. Wir wechselten die Talseite und folgten den Marken immer steiler hinauf zum Greinagrat, eine Grashalde erklimmend, auf dem steilsten Weglein unserer Reise.
Dreizehn Leute waren in der kleinen, aber erstaunlich geräumig gebauten Terrihütte, dreizehn Leute wollten am Holzherd kochen, schöpften von dem aus dem See heraufgetragenen Wasser; dreizehn Leute hängten ihre Marschwäsche zum Trocknen aus, und bei Petrollicht sprach man von den morgigen Plänen und von früheren Klettereien, wie das an Hüttenabenden der Brauch zu sein scheint. Da war zum Beispiel ein Herr, der einen Prachtsrucksack heraufgetragen hatte. Eigenes Besteck packte er aus und das Amtliche Kursbuch der SBB, nach welchem er sich, je nach der Abfahrt der Züge, die Route für morgen einrichten wollte. Wir erkundigten uns nach dem mitgebrachten Pickel, und er erklärte uns, mit Strähnen in der Stirn vom Fahrplan aufblickend, dass er die Haken zu Hause vergessen habe. Dafür wollte er morgen als erster aufstehen. Junge Bündner spielten Karten und redeten laut. Verhältnismässig früh rollte ich mich in meine zwei Wolldecken; mit dem Kissen verstopfte ich mitten in der Nacht eine Ritze in der Wand, weil kalte Luft hereinkam.
Um 4 Uhr früh hörte ich wirklich ein Scheuern im Ofen. Man stand auf. Um 5 Uhr hörte ich besagten « Herrn mit dem Kursbuch » fluchen. Er hatte sich verschlafen. Wir beide waren die letzten, machten Ordnung und erlebten um halb 9 Uhr den Sonnenaufgang. Es war Sonntag: unser siebenter Marschtag. Am gefrorenen Seelein vorbei wanderten wir ein kleines Tal empor und waren nach einer halben Stunde auf 2200 Metern Höhe. Ein weites Tal öffnet sich nach Westen hin gegen den Greinapass. Der junge Rein da Sumvitg sucht sich hier mit vielen Armen einen Weg durch die Höcker von Sumpfgras und niederkauernden Kräutern. In den Wegen zwischen den Büscheln trieben sich Murmeltiere umher und pfiffen. Vor mir marschierte Urs, den Rucksack ganz mit Wäsche zum Trocknen behängt: ein Unterleibchen, zwei Paar Socken und ein Paar Schuhe, mit denen er ins Wasser getapst war. Einen kleinen Sattel ersteigend, gelangt man nach links, das heisst, nach Süden schwenkend, ins Motterasciotal. Der Übergang heisst La Crusch. Hier blieben wir eine gute halbe Stunde und freuten uns darüber, dass es für einen halben Tag keine Menschen, keine anfahrenden Autos, keine Maschinen und keine Verbotstafeln gab.
Der weitere Weg hält sich ganz an die linke Talseite, steigt später über eine kleine Anhöhe hinweg, um endlich steil ins Tal hinunterzulaufen. Wir wussten es für einmal besser als die Karte, hüpften auf der rechten- Seite dem Fluss entlang über Wassertümpel - und mussten unsern Eigensinn teuer bezahlen, denn plötzlich standen wir vor einem kleinen Felsband, das zu einer steilen Grashalde führt. Weit unten kreuzte unser Weglein den Fluss. Wir trippelten erst oben hin und her, suchten eine gangbare Stelle über den Fels, kletterten schliesslich darüber hinweg und stiegen so langsam wie möglich hinunter. Dafür bescherte uns der Hang auf halber Höhe, zwischen Alpenrosen versteckte Heidelbeeren in Hülle und Fülle. Unsere Hosen sprechen heute noch deutlich davon.
Auch im Val Luzzone wurde vor einigen Jahren eine Staumauer gebaut, deshalb streckte sich uns nun der Lago di Luzzone mit einem schmalen Arm entgegen und begrüsste uns mit seinem dunklen Wasser im Tessin. Den steilen, gerodeten Ufern entlang, einmal im ungenügend beleuchteten Bauch eines Werktunnels wandernd, kamen wir zur Staumauer und streckten mit andern Leuten ehrfurchtsvoll die Köpfe übers Geländer. Endlich trotteten wir im Heulen des sonntäglichen Verkehrs, der Neugierige zur Mauer hinaufführt, die breite Strasse hinunter nach Campo Blenio, immer wieder von einem Hupen zur Seite getrieben. Einige Kurven nach dem Dorf verschwindet die neue Strasse in einem Tunnel. Wir folgten dem alten Strässlein, das heute nicht mehr benützt wird. Auf einer Felskante und später in einer aus der Wand gehauenen Rinne zieht es gegen Olivone hinunter; oft geht der Weg über herabgefallene Brocken oder verengert sich plötzlich, weil der talwärtige Teil der Strasse abgerutscht ist. Bilder einer Welt stiegen in mir auf, die ich nur aus Büchern kenne: mehr-spännige Kutschen, die mühsam den Felsweg hinauf knarren, auf dem Bock der fröhlich ins Horn blasende Kutscher, im Wagenschlag fächelnde Damen und kühne Herren, die sich zum Fenster hinausbeugen...
Am Morgen des nächsten Tages, es war ein Montag, waren die Läden geschlossen. Deshalb liessen wir uns Fleisch und Brot mitgeben und wussten schon beim Einpacken, dass wir daran nicht genug haben würden. Es war halb 8 Uhr, als wir Olivone verliessen. Bis zur ersten Wende folgten wir der Lukmanierstrasse. Wie alle Tage deckte Hochnebel den Himmel. Am Westhang des Bleniotales suchten und fanden wir dann unsere Wege, die über Toma, Premesti und Gariva - alles Sommerweiden mit primitiven Holzställen, wo höchstens noch Rinder und alte Weiblein hausen - zum Nara-pass hinaufführten. Kurz vor dem Übergang, auf dem Piano degli ossi, steht eine neue Hütte, wo wir uns nach dem Aufstieg von Gariva herauf ausruhen wollten. An der Tür winkte uns aber ein Zettelchen ab mit der Aufschrift: « Cari alpinisti, la chiave della capanna si trova a Gariva. » So legten wir unsere Siebensachen vor der Hütte aus; die Sonne drang für kurze Zeit durch den Nebel, und von den nahen Hängen kamen Ziegen und Schafe herunter. Unvermutet fanden wir uns inmitten einer neugierigen, blökenden, meckernden und schleckenden Schar, packten in aller Eile unsere Rucksäcke und hatten unsere liebe Mühe, uns zwischen den drängenden Leibern hindurchzukämpfen.
Im Tessin geht die Wanderung von Kreuz zu Kreuz, so wie es in der deutschen Schweiz Wegweiser mit gelben Täfelchen gibt an markanten Punkten. Zum nächsten Kreuz lockte uns die Hoffnung auf Aussicht ins Levéntinatal, aber erstens waren wir noch gar nicht auf der Passhöhe, zweitens schwammen graue Nebelfetzen um die nahen Gipfel und rutschten träge die Hänge hinunter.
Der Narapass verbindet das Bleniotal mit dem Valle Leventina und ist eigentlich gar kein Pass. Mit seinen 2120 Metern ist er nur wenig tiefer als der Pizzo di Nara. Auf unserer Karte heisst er denn auch nur Bassa di Nara. In der feuchten Luft hielt es uns nicht lange. Wir verzehrten unser Fleisch, assen in kleinen Bissen und vertrösteten den hartnäckigen Hunger auf den Abend. Mit hochgeschla-genen Kragen schauten wir fröstelnd auf der Karte nach, welche Gipfel man von hier bei klarem Wetter sehen würde: gewiss schräg gegenüber den Pizzo Forno, an dem wir morgen vorbei wollten. Bald stiegen wir, mit dem Höhenmesser in der Hand, auf 1860 Meter ab, wo irgendwo ein Weg den Hang queren sollte. Über Heiden und durch mannshohes Gestrüpp auf einem federnd weichen Boden von Föhrennadeln gingen wir, ohne Höhe zu verlieren, südwärts. Unterwegs entdeckte ich ein Sträuchlein wilder Himbeeren. Urs fand weiter oben noch mehr davon, und schliesslich hockten wir mitten in einem Himbeergarten und pflückten und assen fast eine Stunde lang.
In unzähligen Windungen läuft ein Strässlein Zickzack von Frageira nach Anzonico und von dort ganz ins Tal hinunter. Wer es kennt, der weiss, dass dort ein Höhenmesser heissläuft, wer es nicht kennt, kann es sich schwerlich vorstellen. Immerhin, es war ein guter Weg. Nur steil! Für ein kurzes Stück gingen wir den Autos, die vom Gotthard herkamen, entgegen und fanden in Chironico, schon wieder über dem Tal, Unterkunft - und eine Wirtin, die unserem Hunger abzuhelfen wusste.
Von guten Wünschen begleitet - ein altes Fräulein aus der deutschen Schweiz, das hier regelmässig die Ferien mit Wandern verbringt, hatte sie uns mitgegeben -, zogen wir in der wieder einmal strahlenden Morgensonne des nächsten Tages dem Fim entlang ins Valle di Chironico. Und rasch, eher zu rasch und deshalb schon am frühen Morgen tropfend vor Schweiss, eilten wir nach Cala hinauf und öffneten hinter dem Dorf eine mitgebrachte Ananasbüchse. Heute wollten wir ins Verzascatal. Einziger Übergang war, so sagte es uns die Karte, der Passo di piatto mit einem gestrichelten Weglein, das nicht selten unterbrochen war! Auf 1800 Metern erreichten wir, nachdem wir schon einmal vom Weg abgekommen waren, einen kleinen See; er heisst Laghetto und ist rund eingefasst von einem weissen Gesteinsbord. Zwischen Sträuchern und langhaarigem Alpengras fanden und verloren wir den Pfad weiter und kletterten schliesslich auf allen vieren über und unter grossen Felsblöcken zur Passhöhe.Vom Verzascatal drückten Wolkenfische herüber und lösten sich fortwährend auf. Das Mittagessen - so stellten wir hier oben fest - pflegten wir seit vier Tagen jeweils auf über 2000 Metern einzunehmen. In der dünnen Luft schmeckte es auch besser. Urs behandelte sein Knie, das ihm etwas Beschwerden machte und das er nun besonders verwöhnen wollte, da er auf der andern Seite ins Tal hinunter geschaut hatte, wo dicht unter uns, aber 1000 Meter tiefer, die Verzasca als silberner Faden zu sehen war. Nur die Götter wussten, wie wir da hinunterkommen würden. Stellenweise wusste auch die Karte von einem Steig zu erzählen, aber mir war der weitere Weg ein Rätsel.
Rätsel sind da, um gelöst zu werden. Zu unserem Glück hatte Lorenzo Giannini - seinen Namen hat er auf der Passhöhe hingemalt - im vorigen Monat den Abstieg zuverlässig markiert; so fanden wir uns hinab zwischen den gefährlichen Felswändlein, die uns jetzt nicht mehr gefährlich werden konnten, meist in der Hocke hinabrutschend, zwischen jungen Stämmen uns hinabstützend und einmal einem Drahtseil entlang uns hinablassend. Unten entschädigten das kühle Gesprudel der Verzasca und der Blick zu den stolzen Hängen hinauf für die Anstrengung.
Wir standen gerade in den Unterhosen im Bach, als uns vom Ufer her eine Stimme grösste. Zwischen unsern verstreuten Kleidern stand ein Herr, der sich in vertrautem Zürichdeutsch anerbot, uns in seinem Wagen bis nach Sonogno mitzunehmen. Wir lächelten in einem Anflug von Überheblichkeit und erklärten ihm, nachdem wir ans Land gewatet waren, weshalb wir dieses letzte Stück unserer Reise gerne noch zu Fuss weitergehen wollten.
Die Ausserortstafel von Sonogno gab uns eine Weile zu reden. Ich hatte mich anscheinend verrechnet mit den Kilometern, denn die angegebene Distanz nach Locarno war kürzer als erwartet: 30 Kilometer. Mit grossen Schritten auf der harten Strasse nach Brione eilend, schmiedeten wir Pläne und kamen schliesslich überein, dass wir weitermarschieren wollten bis nach Tenero, unserem Ziel, denn hier im Valle Verzasca war es unmöglich, den Teerstrassen auszuweichen; auch würde es morgen gewiss heisser werden als jetzt, wo der Abendwind einsetzte, und nicht zuletzt lockte uns so eine kleine Stimme in der Brust, einmal in der Nacht zu marschieren.
Als die immer seltener werdenden Autos begannen, mit Licht zu fahren, überholte uns ein Zürcher Volkswagen, verlangsamte die Fahrt, schien wieder weiter zu wollen und hielt schliesslich langsam und unschlüssig an. Die Scheibe wurde heruntergekurbelt, und ein Kopf lugte aus dem Fenster. Ob wir nicht doch mitfahren wollten? Wir schüttelten die Köpfe und dankten lachend.
Um halb 9 Uhr liessen wir uns in Lavertezzo Gebratenes mit Kartoffeln servieren, in einem der wenigen Häuser an der neuen Strasse. Die Dörfer des Verzascatals liegen grösstenteils oberhalb der Strasse, verbergen sich dem Durchreisenden, der sie nicht eigens sucht.
Schwer wogen unsere Glieder nach dem guten Mahl. Und eine Weile liess sich das Marschieren mühsam an. Von der andern Talseite schlug ein Hund an, ein verspäteter Gockel antwortete dazwischen. Süsse Schwaden von Traubenduft Messen uns willkommen im Tessin. Währenddessen wurden uns die Füsse heiss in den Schuhen. Eine Betonstrasse zieht heute dem Stausee entlang, kürzt Schluchten und Vorsprünge mit Tunnels und Galerien und bietet dem Fusswanderer einzig künstlichen und ebenen Boden. Mehr schlafend als wach zogen wir von Betonplatte zu Betonplatte, von Tunnel zu Tunnel, von Dorf zu Dorf. Um halb 11 Uhr erreichten wir auf einem stotzigen Weg, der uns unter Weinlauben in die Magadinoebene hinunterhalf, zum Dörfchen Gordola, und glücklich, aber müde stapften wir die letzten Stufen hinauf zu unserem Tessiner Haus, wo wir bald in weichen Betten träumten von steilen Felsabstiegen und von kleinen, harten Betonsträsschen, die weit und geradeaus ins Unendliche zogen.
Meine Reisenotizen, das Bleistiftgekritzel, das meinem Gedächtnis über diese Seiten hin immer wieder nachhalf, lassen mich damit im Stich, geben die himmelhochjauchzenden Stimmungen nicht wieder, die sich mir ins Herz gegraben haben, und auch die Photographien zeigen nur Bilder, schöne Ansichten, lassen nichts ahnen von der Klarheit der Bergluft, von der Härte und Trockenheit der Sonne dort oben, noch weniger von den himmelblauen Plätzchen kleiner Blumen, die an Felsen hocken, oder vom Staub der Geröllhalden, die die Morgensonne wärmt. Auch wenn ich noch Zahlen zu Hilfe nehme - im ganzen marschierten wir 211 Kilometer in 56 Stunden, aufgeteilt in neun Tage, und wir stiegen 6950 Meter hinauf und 7050 hinunter -, die Zahlen geben nur Leistung an, aber keine Freude. Und es war mir eine Freude, die Schneefelder des Glärnisch jeden Tag näher zu haben, es war mir eine Freude, im Schweisse meines Angesichts die Höhe des Kistenpasses zu erklimmen, das Sumvitg zu erwandern und mit den Bergbauern auf abgelegenen Alpen ein Wort zu wechseln. Einen Apfel lernt man erst richtig kennen, wenn man ihn auf einer Sommerschneehalde anbeisst.
Damit klappe ich mein kleines, gelbes Heft zu...