Ein Sommer im Samnaun
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Ein Sommer im Samnaun

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON IMMANUEL LIMBACH, ZÜRICH

Mit 5 Bildern ( 46-50 ) und 5 Skizzen Hinreise Das einzige Gebiet der Schweiz, das mir noch völlig unbekannt geblieben, waren das Unterengadin und das Samnaun. Deshalb beschlossen wir, ich und meine Wandergefährtin, unsere Sommerferien in diesem so abgelegenen Teil unserer Heimat zu verbringen und ihn und seine Bewohner unter die Lupe zu nehmen. Der Entdecker und Erforscher eines unbekannten Landes konnte sich nicht mehr darauf freuen als ich alter Geselle, der mit Spannung und froher Erwartung diesem Neuland entgegensah. Und ich wurde nicht enttäuscht.

Schon die Fahrt ins Bündnerland nach mehrerern Jahren, die ich ausschliesslich dem Wallis gewidmet hatte, erweckte mir lebhafte Erinnerungen auch aus den jungen Jahren: Die immer grossartige und immer wieder überraschende Fahrt über die Albula, der Eintritt ins Oberengadin, das offen, blau und sonnig vor uns lag mit seinen mächtigen Gletschern im Hintergrund, 1 Lettres de Coxe W., Observations du traducteur, Bd. II, S. 60.

die Bernina, Samedan, städtisch verändert, die Fahrt talabwärts, fast völlig unverändert, und dann der Eintritt ins Unterengadin: eine neue, erstaunliche Welt! Schon das flache Gebiet um Zernez mit dem Blick rechts ins Spöltal, in den Nationalpark, dann der Zusammenschluss der Berge zu einer engen Pforte, die Fahrt durch ein enggedrängtes, viel wilderes Tal mit schroffen Hängen zur Rechten und Linken, die völlig andersartigen Bergformen, der schon mächtig gewordene Fluss, der in der Tiefe wild und unruhig floss, Schuls-Tarasp, diese fremde Welt, die in uns eher ein Missbehagen erweckte, weil sie nicht nur heilt, sondern auch ausbeutet, so dass wir im stillen dachten: « Wir möchten gerne am Gesunden gesund werden! » - drüben das prächtige Schloss, dann die schöne Fahrt, hinan zum recht eigenartigen Sent, wieder hinab, den Ausgang des Val Sinestra querend, bis wir endlich in Martina einen längeren - Zollaufenthalt hatten. Und diese Fahrt von Schuls bis Martina in einem österreichischen Postauto mit österreichischem Führer ganz durch Schweizergebiet! Das Tal verengte sich immer mehr, die schroffen Wände rückten so nah zusammen, dass nur noch ein imposanter Schluchtausgang dem Inn und der Strasse nach Landeck sich öffnete. Wir stiegen ins Samnauner Postauto um, das bei Vinadi sich links empor dem eigentlichen Samnaun zuwandte, die Talstrasse verliess und bald unseren Blicken tief unten in einem Schluchtkessel Brücke und Häuser von Finstermünz überraschend hinzauberte, wie das Versteck einer Bergfee. Nach kurzer Fahrt hoch ob dem Inn bog die Bergstrasse nach Westen ab und begleitete nun am waldigen Südhang den Schergenbach, der tief unten in einer schluchtigen Enge schäumte und tobte.

Das Tal Schon der Beherrscher des Tales, der Schergenbach, prägt ihm seinen Charakter ein. Auch in den ruhigeren Teilen liegt etwas ungehemmt Wildes verborgen. Oben auf dem Zeblasboden sammeln sich von den Hängen des Paulinerkopfes links und des Piz Roz und Vadret rechts die vielen Wässerlein. Bald wirft sich der Bach in voller Wildheit, eingezwängt, über die Felsen der Pischa, wendet sich nach Ost durch die gewaltige Mulde, die die Schroffen dort bilden. Immer frisst er sich tief im Boden ein, zieht durch das Waldgebiet zwischen dem Val Chamins und Samnaun. Am Nordufer streben steil die Matten und Felshänge auf, als müssten sie den wilden Gesellen bändigen. Dieser ganze obere Teilabschnitt hat etwas Grossartiges, unberührt Wildes in seiner steinernen Stille und Einsamkeit. Die rechte Talseite ist ruhiger, weist oft schöne Matten, Waldhänge und Talausgänge der Nebenbäche auf. Erst bei Samnaun öffnet sich das Tal gegen das Val Maisas zu.

Wir wandern nun auf der Poststrasse talabwärts; denn man gewinnt dabei einen weit stärkeren und reicheren Eindruck als bei der Auffahrt mit dem Postauto. Auch links steigen jetzt Matten hinan. Der Bach fliesst ruhiger und ladet hier mehr Geschiebe ab. Die Uferverbauungen aber zeigen, was er auch hier etwa « verbricht ». Jetzt im Hochsommer ist in diesem Talstück sein Lauf eine Schlangenlinie, er hat bald links, bald rechts eine Geschiebebank liegen gelassen, wie der Rhein bei Trübbach. Seine Ufer sind von allerlei Gesträuch, besonders aber fast überall von dem blauen und gelben Eisenhut bestanden, als wollte eine liebliche Fee den wilden Gesellen besänftigen. Auch der Lärchenwald, nur durch die Talstrasse getrennt, tritt nahe an den Bach heran.

Dieses unberührte Naturbild wird für unser Schönheitsempfinden hässlich gestört, wenn wir von der Brücke unten beim Dorf auf den Bach hinabschauen. Die Bewohner werfen allen Unrat über die Brücke in den Bach, so dass drunten ein übler Haufe von Blechbüchsen, Papier, kleiner Kisten, Küchenabfällen und Schmutz aufgeschichtet liegt und seine Düfte emporsendet - die übelste Bachverschmutzung, die man sich denken kann. Dasselbe Bild sah ich in Saas Fee und Almagell im Wallis, wo auch aller Kot körbe- und kistenweise in die Bergbäche geschüttet wird, weil dies die bequemste Beseitigung ist. Bei all diesen Bächen wird natürlich oft nur wenig weiter unten das Wasser von Campingleuten und Bergwanderern getrunken und zum Kochen geschöpft. Es wird so viel von Gewässerverschmutzung gepredigt, so wenig entsprechend für Ordnung und Sauberkeit gesorgt, weil man das Bekämpfen einer generationenalten Gewohnheit fürchtet. So wird eigentlich das beste Bergwasser am Ursprung vergiftet.

Jetzt verengt sich das Tal wieder. Zur Rechten streben immer steiler die hohen Lärchenwälder empor. Sie wirken hier ernst, oft sogar düster, während bei Almagell die gleichen Wälder viel heiterer erscheinen. Die oft hohen Stämme stehen eng neben- und übereinander am steilen Hang zum Piz Motnair. Eine Brücke schwingt sich unter Raveisch über den Bach. Schon von weit oben hört man das Rumpeln, wenn ein Auto drüberfährt. Dass der Wanderer ja nicht im unklaren sei, ist sogar mitten am obern Geländer der Brücke eine Tafel angebracht mit der Aufschrift « Schergenbach ». Etwas in der Höhe liegt am Nordhang Raveisch am Eingangspfad zum gleichnamigen Tälchen. Das Dorf ist klein, hübsch, lieblich verträumt, besitzt kein Hotel, aber Pen-sionsgelegenheiten. In paradiesischer Ruhe sitzen am Abend Weiber und Kinder vor ihren Häusern am Boden, den Rücken an die Hauswand gelehnt. Die scheuen Kinder werden zutraulicher, wenn man ihnen ein Stück Schokolade reicht, und die Weiber sind recht empfänglich für eine freundliche Anrede, die sie mit ihrer bedächtigen, singenden Art ebenso freundlich erwidern.

Die Strasse führt jetzt linksseitig hinab. Ein paar Rasenterrassen überwölben noch die Sicht auf das Val Schischenader, dessen Bach aber bald herausbricht. Das einzige Dörfchen des Samnauns, das nicht oben am Hang liegt und eigentlich recht wenig Interesse erweckt, ist Plan. Zu unserer Überraschung entdecken wir etwas weiter unten eine moderne Benzintankanlage mit einem kleinen Gebäude für den Tankwart und die Notdurft, gemahnend an die Zukunft des abgelegenen, noch stillen und unberührten Bergtales und an die jetzt schon autobefahrene Gegenwart, die den Fussgänger recht unliebsam in seiner besinnlichen Wanderung aufschreckt. Aber bald gewahrt man links oben in der Höhe Laret, wohl das schönstgelegene und -gebaute Samnauner Dorf. Von unten sieht es beinahe wie eine ausgedehnte Burganlage aus, wenn nicht das gute Auge an einem Gebäude lesen könnte: « Pension Jenal ». Den übersichtlichsten Ausblick auf das saubere Dorf hinab erhält man von Compatsch aus, dem Hauptort des Tales, dort, wo der Weg ob dem Vanaltal zur Alp Bella führt. Wie Wächter bewachen die beiden Dörfer den Eingang dieses Seitentales. Nach Compatsch wird das Haupttal enger, die Lärchenhänge treten einander näher und beschatten Tal und Strasse. Der Schergen braust jetzt tief unten in der eingefressenen Felsschlucht. Ein grossartiger Ernst nimmt uns gefangen. Wir kommen zur Spissermühle mit dem Zollhaus, ein weltvergessener, verträumter Platz. Die Strasse nach Spiss hinauf ist durch einen Schlagbaum gesperrt. Ob dem Zollhaus öffnet sich der Strassentunnel. Kein Zöllner lässt sich sehen. Tatsächlich, hier glaubt man sich in einem verwunschenen Märchengebiet zu befinden, eingeschlossen von den bewaldeten Steilhängen, hier sogar eine Gebäuderuine, der tobende Bach, der einzig die Grabesstille durchbricht. Nach einigen Schritten entdeckt man in der Höhe die « Schwalbennester » und das reizende Kirchlein von Spiss. Jetzt bricht rechts aus dem Val Sampuoir durch den Schluchtausgang, der von merkwürdigen Fels- oder Lehmtürmen bewacht wird, ein Bach heraus. Hundert Meter weiter unten sehen wir in märchenhafter Einsamkeit den Pfandshof. Und diese Einsamkeit und Weltabgeschiedenheit, diese oft fast unheimliche Stille verlassen uns nicht mehr, wie auch der in der Tiefe dahinstürmende Schergen, auf den ernst die Lärchen schauen und die abstürzenden Hänge zum Bach besänftigen. Oft ist kaum Platz für die Bergstrasse, die sich drum in gewundenen Tunnels durchbrechen muss. In diesen recht dunkeln und engen Galerien wundern wir uns, dass das doch verhältnismässig grosse Postauto sich so sicher hindurchbewegt. Meint man ja, es müsste bei der geringsten Unachtsamkeit seines Führers in die nasse Steinwand hineinfahren. Jetzt senkt sich die Strasse in mehreren Windungen steiler ab. Links oben in der Höhe gewahrt man wieder einige « Schwalbennester »: das tirolische Dorf Noggls. Bald biegt die Strasse aus dem Samnauntal hinaus, bis man in der Tiefe Finstermünz sieht, dessen paar Gebäude winzig klein erscheinen, wie in den Abgrund geworfen.

Ich wandere mit meiner Gefährtin nicht mehr nach Weinberg hinunter. Es ist Abend geworden, und Gewölk zieht drohend über die schmale Himmelsstrasse über uns. Wir wenden uns, um irgendwo das letzte Postauto nach Samnaun anzuhalten. Zwei einsame Wanderer kommen uns von oben entgegen, gut ausgerüstet mit Seil und Eispickel, wettergebräunt, mit jenem festen, zielsicheren Blick des geübten Bergsteigers. Sie kommen vom Piz Mondin herunter.

Die etwa « grausig » und « kitzlig » bezeichnete Auffahrt des Postautos von Weinberg nach Compatch lässt sich keinesfalls mit der viel grossartigeren und wirklich oft grausigen und erregenden Auffahrt nach Avers Cresta vergleichen. Das kommt wohl daher, dass das tiefschluch-tige Bachbett des Schergen bis hinunter an den stotzig abfallenden Hängen von Lärchen besetzt ist und so dem Blick das Furchterregende nimmt, während man im Avers die hohen nackten Felswände abfallen sieht, das Postauto sich um Felsnasen herumfinden muss, oft mit recht wenig Abstand der Autoräder vom Absturz. Jedes Tal, jede Landschaft zeigen ihr eigenes Charakterbild.

Piz Motnair, 2736 m Eines Nachmittags wollte ich den Weg verfolgen, der nach der Brücke hinter der Post vom Maisasweg nach links abschwenkt. Ich glaubte, er führe dem Motnairbach folgend aufwärts zum Ausläufer des Muttler. Aber nach kurzer Zeit lief er im Bachgeröll aus. Ich verfolgte noch ein Stück weiter, am linken Hang aufsteigend, den Bach, wurde aber so sehr von einem Schwärm glänzendschwarzer Fliegen verfolgt, die etwas grösser waren als unsere Stubenfliegen, dass ich mich vom Bach ab gegen den Waldhang wandte, wo ich Schutz zu finden hoffte. Aber die ägyptische Plage überfiel mich auch dort so ausgiebig, dass bei einer kurzen Rast meine etwas feuchten Arme sich mit wohl Hunderten dieser Plagegeister bedeckten, die zum Glück nicht stachen. Dies verleidete mir weitere Unternehmungen, so dass ich mich recht eigentlich den steilen Waldhang hinunterstürzte. Die eifrigeren aber der Schwarzen verfolgten mich tatsächlich bis zum Hotel und liessen erst beim Eingang von mir ab.

Nun, wie das so ist, am nächsten Vormittag wollte ich mich nicht geschlagen geben und erforschen, ob vielleicht am rechten Hang des Tälchens ein Weg ohne Fliegenplage emporführe. Es war erst früher Vormittag, wo das Geschmeiss noch weniger eifrig war. Ich hatte Glück: ich fand nach Überqueren des Baches einen zwar steilen, aber doch richtigen Pfad ohne Fliegen im Lärchenwald, der bis zur Baumgrenze aufwärtsstieg. Und jetzt begann ein magerer, kurzgrasiger, durchlöcherter und geröllüberstreuter Weidhang, der sich immer steiler wölbte zu einem sich lang hinaufziehenden Bergrücken. Blumenschmuck war kaum vorhanden, aber die Aus-tretungen der Kühe im Boden verrieten, dass diese Tiere zur Zeit hier oben weideten. Aber weit und breit sah ich kein Vieh. Ich stieg etwas mühsam von einer Graskuppe zur nächsten, und jedesmal meinte ich, es sei die letzte, ich müsse bald oben sein. Ein leichter Schwefelgeruch stieg immer in die Nase. Ob er von den Schieferbrüchen kam oder aus dem magern Boden stieg? Als ich endlich den Grat oben erreicht hatte, erstaunte ich, wie steil und zerklüftet der Hang ins Val Sampuoir abfiel. Nichts war von dem diesseitigen Grasrücken vorhanden. Auch der Ausblick zum Pizett bot diesen wüsten, zerrissenen Anblick. Der Weidboden hier war von Moos und Flechten durchsetzt. Kein Edelweiss war in dem Schiefergeröll zu finden. Über die halbdürren Hänge flogen Distelfalter und Kleine Füchse. Welche Säfte sie sich suchten, weiss ich nicht. In einer Stunde gelangte ich zum letzten Stück des Piz Motnair, einer kurzen Pyramide aus Schieferschutt, über den ich in einer halben Stunde auf einer Wegspur das Gipfelsteinmannli erreichte. Ich hatte vom Hotel bis hinauf nur zwei Stunden gebraucht.

Die Aussicht lohnt bei all diesen Samnauner Gipfeln jede überstandene Mühe. Schon der Blick auf das ganze Val Sampuoir mit seinen merkwürdig zerklüfteten Hängen mit den grossen, höhlenartigen Löchern im Fels, der Rundblick über das ganze Samnaun-Gebiet, die Dreitausender mit Neuschnee bedeckt, der Ausblick zum Muttler und zur Stammerspitze und hinüber zum Turm-zacken des Mondin, auf die fünf Dörfer! Eine solche Ausschau hat in der Tat etwas Erhebendes und Befreiendes. Der Nord- und Südteil des Samnauner Gebietes war in gleicher Weise zu übersehen.

Ich verweilte eine halbe Stunde. Gerne wäre ich zum Muttler vorgestossen. Aber ich wurde zum Mittagessen im Hotel erwartet und wandte mich im Tempo abwärts. Ich fand den Pfad durch den Wald nicht mehr und stieg deshalb kurzerhand über den steilen Abhang in gerader Richtung hinab. Zur Linken erschreckte mich der Rücken eines grossen braunen Tieres, das bald in hohen Sprüngen etwas weiter unten meine Bahn kreuzte: ein stattlicher Rehbock. Im obern Teil des Waldes blühten noch die schönsten Alpenrosen, und wunderbar blau leuchtete es oft in ganzen Beeten von Frühlingsenzianen. Weiter unten entdeckte ich Männertreu in grösserer Zahl mitten im Wald auf einer freien Schneise. Zuletzt rutschte ich eine Baumschleife hinab, die Holzfäller benützten, und landete nach genau einer Stunde bei Raveisch auf der Talstrasse. Im unteren Waldabschnitt wurde ich nicht ganz von der ägyptischen Plage verschont; aber auf dem ganzen Ausflug war ich keinem einzigen Menschen begegnet. O herrliche Bergeinsamkeit!

Flohhaxen Wenn man sich von Samnaun aus einen angenehmen, mühelosen und doch recht lohnenden Spaziergang herbeiwünscht, der letzten Endes einen erheiternden, manchmal ausgelassenen Abschluss findet, nun, so wandere man einmal am Nachmittag ins tirolische Bergdorf Spiss. Wir benützen als ältere und bequemere Gäste ohne eigenes Auto das Postauto, das vor 2 Uhr nach Compatsch fährt. Wir beschauen uns auch kurz den Hauptort des Tales, der zwar ebenfalls recht hübsch am Hang liegt, aber doch ein wenig eine Enttäuschung zurücklässt, weil das Dorf selber wenig interessant ist mit seinen nicht sehr einladenden beiden Hotels, seinen nicht allseits in gutem Zustand befindlichen Häusern und seiner eher armselig anmutenden, ladenlosen Hauptstrasse. Das hübscheste sind wieder das Kirchlein und der Ausblick ins Tal und hinüber nach Laret. Auch fallen uns die oft recht armselig gekleideten und nicht immer säubern Dorf kinder auf, die meist zwölf bis fünfzehn an der Zahl jedem Postauto abpassen, in der Hoffnung, von den Fahrgästen etwas Gutes zu erwischen.

Wir wenden uns hinter der Post, durch den Ostteil des Dorfes wandernd, dem am Hang ob dem Tal hinführenden Höhenweg zu, einem guten, nicht von Autos befahrenen Strässchen, das während anderthalb Stunden mehr oder weniger immer die gleiche Höhe hält. Es biegt bald nach Norden einwärts, tritt wieder in grossem Bogen gegen das Haupttal heraus und bietet so einen schon grossartigen Blick auf den steilansteigenden Lärchenwald jenseits des Schergen-bachs, während der rechte Wegrand oft fast senkrecht in die Tiefe zur Fahrstrasse abfällt. Hier stehen zwanzig bis fünfundzwanzig Meter hohe, senkrecht aufstrebende Lärchen, mit weitausladenden Ästen, stehen wie schweigsame, heitere Berggeister. Oft darf man nicht zu nah an den Wegrand treten: es gibt Abbruchstellen, die auch den Wanderer mitreissen könnten. Der linksseitige Berghang wirkt dagegen wie ein schützender Wall, unterbrochen etwa von einem Bach, der sich über den Abhang hinunter den Weg zum Schergen in wilden Sprüngen sucht. Bevor man zur Grenze und zum Zandersbach gelangt, teilt sich der Weg. Wir wählen den rechts abwärtsführenden, der etwas nass und ausgefahren ist. Die Stelle des Bachübergangs ist besonders hübsch: Der wilde Bach selbst, den man auf einem Brettersteg, der wegen des Viehs jenseits durch einen Querbalken gesperrt ist, übersteigt, rechts ein einsam mähender Bauer, der bereitgestellte Wagen, links der blumige Steilhang, der weite Rückblick auf Compatsch, in einem Bachbecken eine fröhlich badende Familie, der Sturz des Baches in die Tiefe, der den Blick mit hinabreisst in das so ernst drunten sich hinziehende Haupttal und drüben wild, spitz und gefährlich aussehend Turm und Zacken des Mondin. Wahrlich eine grossartige Belohnung für eine Mühe, die nur Vergnügen ist!

Bald biegt der Weg links in den Wald ein, und bei den einsamen Zollhäusern rechts glaubt man sich schon in Spiss. Oder sind dies Hotels? Sie wirken in dieser Berg- und Waldeinsamkeit merkwürdig unangebracht, umgeben von hohem Unkraut, von Eisenhut, davor eine verfallene Hütte -verwunschene Schlösser eines Berggeistes. Man gewahrt keinen Menschen, den man hätte fragen können, bis endlich oben jemand den Kopf verschlafen herausstreckt und fast missmutig Auskunft gibt. Vielleicht wird mal mehr Leben in diese verzauberten « Burgen » kommen, wenn sie -wie es heisst - in Hotels verwandelt werden. Weit und breit sehen wir keinen Zöllner. Wir können uns auch nicht vorstellen, dass der Zollverkehr durch diese abgelegene Gegend etwas abwerfe und die Staatsauslagen lohne.

In fünf Minuten sehen wir das Dörflein selbst. Es zieht sich wie ein vergessener Friedenshort von uns weg nach hinten und schliesst sich selbst mit dem Kirchlein ab - ein richtiges, unscheinbares und etwas armselig anmutendes Bergbauerndorf. Links vom einzigen Verkaufsladen steigen wir zum einzigen Gasthaus zum « Edelweiss » hinauf. In der etwas düstern, aber säubern Wirtsstube mit Kachelofen, Kruzifix und einigen Bildern der Angehörigen an den Wänden, auch dem Bild des im Krieg gefallenen Vaters, setzen wir uns am Fenster an den langen, alten Tisch. Hinten öffnet sich ein Nebenstübchen. Vor dem Kachelofen sitzen zwei Mädchen. Die ältere Schwester erklärt eben dem elfjährigen Emmeli eingehend und geduldig die Buchführung ihres Wirtschaftsbetriebes. Wir bestellen den in unserem Hotel schon sagenhaft gewordenen Flohhaxen, den uns das reizend bescheidene Emmeli bald bringt. Der Wachauerwein perlt golden und hell ins Glas.

Wir Durstigen schlürfen ihn allzu rasch und mit Wohlbehagen hinunter und bestellen uns einen weitern Halben. Bald fühlen wir uns erfrischt, achten aber zu wenig auf die aufheiternde und die Zunge lösende Tücke des Weins. Wir unterhalten uns mit dem Emmeli. Es wird allmählich zutraulicher. Wir fragen über Schule und Lehrer, den sie zögernd als etwas parteiisch tadelt. Nach einer gemütlichen Stunde wollen wir den Rückweg antreten. Nun erst zeigt sich die angenehme Hinterhältigkeit des goldenen Weines, der die mühseligen Menschenbeine in ausgelassene Flohhaxen verwandelt. Diese Benzineinlage wirkt bis über die Mitte des Rückwegs hinaus. Und dies ist gut: Es zieht ein Gewitter auf und treibt uns zu beschleunigtem Tempo. Blitze fahren übers Tal, und mächtig grollt und rollt der Donner. Auf das Tal legt sich ein gewaltiger Ernst und eine Düsterheit, die ständig von Blitzen durchzuckt wird. Das drohende Regengewölk wird nach Süden abgetrieben und verschont uns noch. Es rauscht eine gewaltige Musik, die Lärchenhänge wirken fast schwarz. Jetzt spüren wir die ersten schweren Tropfen. Noch über das Val da Mutt, um die letzte grosse Biegung herum, und Compatsch liegt nah vor uns. « Und froh, doch erschrocken, kommen wir trocken noch unter Dach » des Hotels Piz Urezza.

Später wiederholten wir mit unserm Berliner diese Wanderung. Wir sahen diesmal im « Edelweiss » eine schon recht muntere und laute Gesellschaft, so dass wir uns ins Hinterstübchen machten, wo wir Bekannte trafen. War es da verwunderlich, dass die Stimmung der Gäste und die Wirkung des Flohhaxen uns bald mitrissen, so dass wir recht leicht beschwingt am Kirchlein vorbei das gute Strässchen zur Spissermühle unter die Füsse nahmen, vielleicht auch etwa die berühmten Flohhaxensprünge ausführten und diesmal mehr die grossartige Heiterkeit der Berghänge und des Talgrundes genossen, um so mehr, als die Wanderung recht angenehm abwärts führte. Am Wegrand entdeckte ich trotzdem eine wunderschöne, mir ganz unbekannte, hochständige Distel, die ich im Schröter nicht finden konnte. Ich werde sie nächstes Jahr zu bestimmen suchen. Die Reichhaltigkeit der Blumen links und rechts des Strässchens fiel mir auf. Nachdem wir unten einen Strassentunnel durchschritten hatten, sahen wir das gottverlassene Zollhaus und den Gasthof Spissermühle. Wir schwenkten, den Zöllner grüssend, um das Zollhaus herum zum Wirtshaus und frischten dort die etwas abgeflaute Wirkung des Flohhaxen wieder auf. Die andern Spisser Gäste trafen auch ein. Was Wunder, dass die Gesellschaft im Postauto nach Samnaun etwas zu heiter und manchmal auch herausfordernd wurde. So gab der Flohhaxen einen seelisch nötigen Ausgleich für die zu ernst und schon nächtlich wirkende Stimmung des Bergtales mit seinen dunkeln, schweigsamen Lärchenhängen.

Piz Chamins, 2931 m Das Wetter schien am Vorabend nicht sehr günstig zu sein nach den vorausgehenden Schlechtwettertagen. Das Gewölk trieb immer noch von Nordwesten her übers Tal hin. Doch lockerte es sich etwa und liess manchmal einen blauen Streifen durchblicken. So verabredeten wir uns auf den nächsten Morgen. Um 7 Uhr zogen wir los. Der Himmel hellte sich auf, und wir waren munter und frohgelaunt. Die übrigen Gäste schliefen noch alle, weil sie wieder einen Regentag erwartet hatten. Die Morgenwanderung begann auf dem schönen Weg dem Schergen entlang. Wir überschritten den brettschmalen Steg über den Bach aus dem Val Chamins. Kein Mensch störte die Stille, nur der Schergen zur Rechten sprach sein rauschendes Wort. Der Himmel wurde immer klarer und versprach den prächtigsten Tag, so dass wir bedauernd an die Schläfer im Hotel dachten. Es lag eine feierlich heitere Stimmung über dem unberührten, einsamen Tal. Wir kamen zur Brücke, die zwischen dem Val Chamins und dem Val Gravas den Schergen überführt. Wir liessen sie rechts liegen und begannen den steilen linken Hang emporzusteigen in Richtung auf das Val Gravas. Unter uns brauste sein Wildbach über den eigenen Schutt dem Schergen zu. Drüben stürzten die schroffen, grausigen Schutthänge des langen, zackigen Berggrates des Piz Vadret nieder und schoben sich fast bis zum Haupttal vor. Kein Hälmchen war an diesen Steinstürzen zu sehen, nur Schutt und wieder Schutt bis hinauf zum Kamm. Grossartig aber die mächtige Bergmulde dahinter, der riesige Kessel, den die Abstürze bildeten.

Im Gegensatz zu dieser steinernen Wildnis schmückte den Hang, den wir emporklommen, eine reiche, liebliche Flora, so dass wir die Mühseligkeit des Anstiegs noch nicht empfanden: die blaue Silberwurz, Wolfs-Eisenhut in friedlicher Gemeinschaft mit hohen Brennesseln, Gelber Enzian, Frühlingsenzian bis weit hinauf, das Pelzige Habichtskraut, Berghahnenfuss, Immergrüner Steinbrech und seine orangerote Abart, Dunkler Süssklee - um nur die auffallendsten zu nennen. Bald sahen wir drüben unter uns den Ausgang des Gravas, eng und schluchtartig, durch den der Bach sich durchzwängte. Er war bis hier herunter mit einer Eis- und Schneeschicht bedeckt, die sich wiederum unter einer schmutzigen Sand- und Schuttdecke barg.

Meine muntere, auch schon dreiundsechzig-jährige Gefährtin stieg rascher den Rasenhang hinan und geriet zu weit nach links in die Höhe, so dass ich sie aus den Augen verlor. Ich verfolgte immer etwa in gleicher Höhe den Bach. Ich ängstigte mich nicht, weil ich dachte, weiter oben träfen wir zusammen. Ich rief und rief, erhielt aber keine Antwort. Plötzlich hörte ich von weit unten rufen und entdeckte die Verlorene, die hilflos in der falschen Richtung schaute und mein Rufen allem Anschein nach nicht hörte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als im Tempo die ganze gewonnene Strecke hinabzueilen und die weinende und verzweifelte Gefährtin zu beruhigen. Sie hatte geglaubt, es sei mir ein Unglück geschehen, und wollte schon wieder umkehren. Ich erklärte ihr, dass Bergkameraden sich nicht zu weit entfernen dürften, auch wenn der andere langsamer stiege. Sie gewann bald ihren Mut zurück, und wir setzten unsere unterbrochene Tour fort. Die rundlichen Grasköpfe, stellenweise von Schutt überschüttet, wurden immer steiler, weshalb wir uns oben dem Bach zuwandten. Dort stiegen wir ein Stück auf dem abfallenden Schnee an, merkten aber bald, dass die Schneedecke ermüdender war als der Schutthang. Wir gelangten etwa zum Punkt 2700. Dort oben entdeckten wir einen sanft gerundeten Wiesenkopf, gut mit Gras, Moos und Blumen gepolstert, und glaubten, bald den Gipfel erreicht zu haben. Zu einladend war der weiche Boden, zu warm die mittäglich scheinende Sonne. So machten wir Rast, packten unsern Proviant aus. Während dann meine Gefährtin von einem Schlümmerchen sich betören Hess, skizzierte ich den Paulinerkopf, den man im Nordwesten drüben sah.

Jetzt begann erst der mühsamste Teil des Aufstiegs. Ein wüster, steiler Schutthang vor uns und drüben zur Rechten gaben ja dem ganzen Tal den Namen gravas - Felsschutt. Wir hielten etwas links und erreichten über Schutt und am Rande des kleinen, aber steil abfallenden Schneefeldes in einer weiteren Stunde den Gipfel. Wenn die Besteigung im Clubführer als leicht bezeichnet wird, so müsste noch « aber mühsam » beigefügt werden. Oder kam es nur uns etwas abgestandenen Bergsteigern so vor? Die Aussicht allerdings war « überraschend grossartig », im Westen zum Vadret, im Südosten zur Stammerspitze, hinab aufs Val Chamins und rückwärts auf Val Gravas, im Süden ins Val Chöglias, dann auf die Samnauner Dörfer. Es ist ja immer derselbe erhabene Ausblick, nur immer wieder verschoben das ganze Samnauner Gebiet unserm Schauen darbietend.

Unterdessen hatte sich das Wetter rasch verschlechtert. Der Himmel sah schwarz und drohend aus und trieb uns zu schnellem Abstieg. Dieser war eigentlich mühsamer als der Aufstieg durch den vielen Schutt und die Erdlöcher im Rasen. Überall zerstreut lagen Steinplatten, die von oben täuschend wie die Dächer niederer Hütten aussahen. Sie bestanden meist aus acht bis zwölf aufeinandergepressten dünnen Schieferplatten, die bergwärts dem Hang auflagen, nach unten aber etwas abstanden, so dass eben der Eindruck einer kleinen Steinhütte entstand. Und in der Tat, unter diesen Naturschieferdächern mussten jeweils Murmeltiere ihre Wohnungen errichtet haben, das bewiesen die vielen Ein- und Ausgänge unter der Platte. Aber kein einziges Tier liess sich hören oder sehen, die Bauten alle schienen ausgestorben.

Durch die zunehmende Verlöcherung der steilen Köpfe, überstreut von grobem Schutt und Felsstücken, wurde uns der Abstieg immer saurer, und wir waren froh, als wir noch ohne Regen, aber mit manchem leisen Fluch durch unser Wolfs-Eisenhut-Brennessel-Feld das Val Gravas verliessen, zum Abschluss noch mit einem kleinen Abrutsch meiner Wandergenossin. Über ein von Knaben errichtetes Steinplattenbrücklein über den Schergen gelangten wir auf den guten Weg.

Während der ganzen Tour waren wir auch heute keinem Menschen oder Vierbeiner begegnet, was wir als Städter wohltuend empfanden. Nur an den Schutthängen der Sula strich ein Raubvogel hin und verschwand bald unsern Blicken.

Heuernte Im Heuet - es ist in der letzten Juliwoche - ist die beste Gelegenheit, die Einheimischen zu sehen und bei ihrer Arbeitsweise zu beobachten. Jetzt heisst es: « Die Hebräer sind aus ihren Löchern gekrochen! » Vorher musste man schon selbst in ihre « Löcher » hineinkriechen, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Höchstens die Hoteliers traf man auf der Strasse an.

Die reifen Matten zeigen merkwürdige Farbabtönungen, besonders beim Frühlicht und abends spät. Sie scheinen auf die Mahd zu warten. Das Gras steht gut und verspricht eine reiche Ernte. Allzu lang darf es nicht mehr stehen bleiben. Nachdem sich das launische Wetter gebessert hat, belebt sich wie mit einem Schlag die grosse Matte hinter dem « Muttler » beim Eingang zum Val Maisas. Verwundert sieht man, wie viele Bauersleute doch das Dorf birgt. Schon morgens früh hört man den regelmässigen Schnitt der Sense, das Wetzen der Klinge. Das dauert den ganzen Vormittag in ruhiger, gleichmässiger Arbeit. Die Weiber verzetteln die Mahden mit derselben Ausdauer. Selten fällt ein Wort, etwa, wenn ein Nachbar zur Arbeit auf seiner Matte vorbeigeht oder wenn die Bäuerin etwas zu fragen hat. Grosse Stücke werden abgemäht bis in den Abend hinein. Mann und Frau wetteifern im Fleiss, nicht wie in Almagell, wo die Weiber die Hauptarbeit leisten müssen.

Diese Matte scheint das Signal gegeben zu haben. Auch an den steilen Wiesen links und rechts der Talstrasse bis hinauf zu den höchsten Alpweiden der Nebentäler setzt die Arbeit ein. Auf den weiten Matten verteilen sich die Grüppchen wie Heuschrecken, und der Einzelne verschwindet darin.

Zwei Tage lang bringt man die Arbeit gut voran, und schöne Stücke sind gemäht. Das Gras ist verzettelt und wartet auf das Wenden. Aber der tagelange Nordwest bringt wieder reichlich Gewölk und Regen, so dass man nichts einbringen kann. Das schon ziemlich trockene Gras wird rasch zusammengerecht und je um einen Pfahl herum zu hohen Schöchli oder Heutürmchen geschichtet, die, über die Matte zerstreut, wie Regenmannli aussehen. Der Regen dauert an und damit die Gefahr, dass das noch am Boden liegende Halbheu zu faulen beginnt. Ein findiger Bauer er- 8Die Alpen - 1959 - Les Alpes113 stellt deshalb mit Pfählen und Seil eine lange Drahthecke als Nottrocknungsgestell und legt das nasse Heu darüber.

Wenn am späten Nachmittag die Bauern wieder beginnen, Gras abzumähen, so erwarten sie tags darauf gutes Wetter. Dieses Jahr werden sie aber oft getäuscht. Um die Schwierigkeiten und Mühseligkeiten bei ihrer Arbeit richtig einzuschätzen, muss man die Mähder in den höhern, oft sehr steilen und buckligen, durchlöcherten und von Geröll überworfenen Lagen beobachten. Schon im Val Schischenader, wo diese Buckel eine abgerundete Regelmässigkeit aufweisen, ist die Mühe ungleich grösser als bei uns im Flachland. Ein solches Bergtälchen benötigt mehrere anstrengende Arbeitstage, bis alles abgemäht ist. Wohl hundertmal muss die Sense gewetzt, dutzendemal gehämmert werden. Und in manchen Höhenlagen ist wegen des Gerölls ein Mähen nicht mehr möglich.

Bei der Mittagsrast wird in einer Mulde ein Feuer angezündet und die Suppe gekocht. Denn der Weg zum Dorf beansprucht zu viel Zeit und Mühe; er ist ja sehr steil. Ein Hund schwänzelt um die Lagernden, eine Geiss bettelt um ein Stück Brot. Liegend wird dann ein Pfeifchen geraucht. Dort schleicht sogar eine halbwilde Katze ums Lager und lässt sich nicht anlocken.

In der ersten Augustwoche endlich gibt 's einige schöne, warme Tage. Es wird oft am gleichen Tag gewendet und zusammengerecht. Beim Einbringen gehen die Bauern recht originell vor. Sie schichten einen grössern Haufen Heu auf ein ausgebreitetes, grobes Tuch und knüpfen dieses kreuzweise mit den Zipfeln zu einem Ballen zusammen. Diese Lasten werden am Rand des Weges bereitgestellt und abends oder am andern Morgen auf Heuwagen geladen. Solche Heuwagen haben wir noch nirgends gesehen. Erstaunlicherweise sind alle motorisiert. Sie sind nicht sehr gross, bilden eigentlich zwischen den vier Rädern einen etwa vier Meter langen Steg aus Brettern, wie sie über die Bergbäche führen und kein Geländer aufweisen. Darauf werden acht bis zwölf dieser Tuchballen aufgeschichtet und im Tempo heimgeführt. Im Fahren zeigen die Knechte eine grosse Geschicklichkeit. Besonders einer fährt stets wie ein wirklicher wilder Teufel um jede Biegung des Weges und über die Dorfstrasse. Der übrige Verkehr kümmert ihn wenig. Er fährt dabei so geschickt, dass ihm nie etwas passiert. Eine gewisse Behinderung sind häufig diese Heufuhren für den Postautoverkehr. Auf der so schmalen Strasse müssen beide Teile oft grosse Geschicklichkeit und Rücksichtnahme beweisen und beweisen sie auch.

Wo das Wegbringen des Heus schwierig ist, spannen die Älpler häufig ein Drahtseil, an dem sie die Ballen heruntersausen lassen bis zum Auffangplatz. Etwa entleert sich dabei das Packtuch seines Inhalts, bevor es am Ziel ankommt. Diese Beförderungsart wird besonders gern vom gegenüberliegenden Steilhang über den wilden Schergen hinüber angewendet.

Im Val Schischenader bringen die Bauern das Heu nicht zu Tal. Sie errichten an hiefür günstigen Stellen eine Art runder Türme, die das Heu rings freilassen. Nur oben ist dieses durch ein Bretterdach vor Regen und Schnee geschützt. Zwischen dem Heu und unter den Dachbrettern werden auch Krug, Korb und Werkzeug verstaut.

Trotz allem brachten die Bauern das Heu gut unter Dach - für Samnaun eine reiche Qualitäts-ernte.

Fuorcla da Zeblas oder Samnaunerjoch, 2545 m Wohl die schönste Bergwanderung führte uns eines Nachmittags auf das Samnaunerjoch. Schon die Wanderung talaufwärts bis zum Bergkessel der schroffen Wände des Piz Vadret und Piz Roz, wo der Schergen nach Norden abbiegt, die Steilhänge rechts, das ewige Rauschen des Wildbachs, die wechselnden Schatten und Stimmungen, die Abgeschlossenheit, die weihevolle Einsamkeit - all dies berührt uns zu verschiedenen Tageszeiten mit immer neuem Ernst und Staunen. Der Weg, jetzt nordseits des Schergen, wird felsiger und lässt den Wildfang tief unten in seinem ausgefressenen Bett sich austoben. Bei der Nordbiegung braust er im Sturz aus einer Schlucht herab, weiss schäumend und gischtend. Doch zwischen den Blöcken dort unten, an seinen schwer zugänglichen Ufern gewahren wir in lieblicher Unbekümmertheit die gelben Blütenstände des Pelzigen Habichtskrautes. Der Weg steigt nun steil zur Pischa hinan. Rückblickend schauen wir hinüber auf das trümmer- und schuttübersäte Val Gravas bis hinan zum Piz Chamins. Auf der Pischa biegt der Weg nach Westen ab, an einem Schöberchen vorbei durch ein weniger steiles, oft schmutzig anmutendes Gelände. Rechts oben, etwa fünfzig Meter über uns, entdecken wir einige Murmeltiere, die uns neugierig beobachten und erst verschwinden, als ein deutscher Bursche auf allen Vieren zu ihnen hinaufklettern will, um sie, wie er glaubt, einzufangen. Wir begegnen mehrmals deutschen Wanderern, Männlein und Weiblein meist älteren Datums, mit roten Gesichtern, recht ermattetem Aussehen und schlechtem, unangebrachtem Schuhwerk. Der Blumenreichtum nimmt zu: Hornkraut, weisser Hahnenfuss und hier nun auch fleischfarbige und gelbe Läusekräuter. Eine auffallende Menge des Kleinen Perlmutterfalters in besonders leuchtender Färbung, Distelfalter und etwa ein rasch dahinsegelnder Apollo! Das Gelände wird freier, alpiner und steigt nördlich zum Paulinerkopf an. Der Schergen zerteilt sich in eine Menge Quellbäche, die von Süd, West und Nord herunter durch den Zeblasboden fliessen und erst in der Pischa sich vereinigen. Überall liegt Geröll zerstreut, dazwischen Rundlöcher. Darin gedeihen im feuchten Grasboden üppige Büschel des Punktierten Enzians, rotleuchtende Pölsterli, die kleinen Teppiche des entzückenden Frühlingsenzians und sogar die zarten Soldanellen. Südwestlich ansteigend gelangen wir bald mühelos auf das Joch, das schon von einem Schweizer Ehepaar besetzt ist. Eine Schweizer Begegnung- schon fast ein Wunder! Sie begrüssen uns freundlich und bitten um Auskünfte über Täler und Höhen. Wir setzen uns auf einen Buckel gegen den Paulinerkopf und besprechen die Aussicht: Vor uns fällt nach Nordwest der Vesilbach zum Fimbertal ab, das man aber nicht sehen kann. Genau westlich entdecken wir die Vesilhütte. Zur Linken fallen die Schutthänge steil ab. Ihr Grat bildet scharfe Zacken bis zur Vesilspitze des Piz Roz hin. Wieder einmal ersticken Schutt und Geröll alles Grüne. Der Aufstieg scheint uns schwieriger, als er tatsächlich sein soll. Dort drüben der Sattel, über den man zur Heidelbergerhütte gelangt, Punkt 2753. Jenseits des in der Tiefe verborgen liegenden Fimbertales die Vorläufer des Fluchthorns: Berglerkopf, Mittagskopf und weiter zurück die lange Kette der Kogels, Spitze und Köpfe der nördlich das Paznaun begrenzenden, meist ungastlich schroffen, zackigen, hohen Voarlberger Berge. Sie bieten uns keinen verlockenden Anblick. Kletterer allerdings mögen dort auf ihre Rechnung kommen. Der Paulinerkopf nördlich unseres Sitzes täuscht dagegegen Mühelosigkeit und Harmlosigkeit vor. Die Gratwanderung hinüber zum Bürkelkopf und hinunter auf die Alp Trida scheint uns sehr verlockend, bleibt aber bis zum nächsten Sommer nur ein Wunschtraum. Besonders feierlich berührt uns der Rückmarsch. Alle Ausflügler haben sich verlaufen, und wir werden ergriffen von der Stille der noch besonnten Zeblasalp und dem hohen Ernst der schon im Dämmer liegenden Pischa und des obern Schergentales. So vergessen wir das Reden, weil die Stille und der Ernst auch unser Herz erfüllen.

Von Blumen, Tieren und Menschen Mit Recht preist man den Bergblumenreichtum des Samnauns. Aber trotzdem muss man Gegend und Platz kennen, wo sie gedeihen, muss sich viele Mühe nehmen, wenn man den wirklichen Reichtum finden und erforschen will. Im allgemeinen ist der südliche Berghang des Haupttals magerer und blumenarm! Die beliebten Bergblumen entdeckt man eher an den linksseitigen Hängen der Crappa, des Piz Ot und des Munschuns. Dort findet man in einer Höhe von 2200 bis 2500 m an Felsbändern und auf Hochmatten Edelweiss und Männertreu genug. Viel seltener sind dagegen die Bergastern. Etwas weiter unten trifft man, in mastigen Matten aufsteigend, ganze Kolonien der bis ein Meter hohen Alpenscharte mit ihren grossen, braunschuppigen Kugel-knospen. Wenn sie sich oben in der Mitte öffnen, treiben die zarten, lilafarbenen Blumenfiederchen heraus. An etwas höheren Lagen und in waldbestandenen Nebentälern, z.B. im Val Chamins, gedeiht der prächtige, hochständige Türkenbund, der leider oft in grossen Sträussen abgepflückt wird. Denn in dieser gottverlassenen « Exklave » unserer Alpenwelt gilt scheint 's kein Pfianzen-schutzgesetz. Die Blume aber rächt sich mit einem scharfen, unangenehmen Geruch, den sie nach einigen Tagen Vasengefangenschaft ausstrahlt und damit manchen Menschen Kopfweh schenkt. Auf dem Zeblas findet man in grosser Menge prächtige Exemplare des Punktierten Enzians und unterhalb der Pischa und am Osthang des Gravas das Pelzige Habichtskraut. Weit verbreitet vor allem an den Ufern des Schergen und an einem waldfreien Hang südwestlich Samnauns bis weit hinauf ist der Blaue und der Wolfs-Eisenhut, von denen wir immer grosse Sträusse im Zimmer aufgestellt und auch den Hoteleingang damit geschmückt haben. Auffallend ist die Vorliebe gewisser Blumen für waldbestandene Hänge. So bewundern wir gerade am untern Teil des sonst so magern Nordhangs zum Piz Motnair mitten im Wald die schönsten Männertreu, ganze blauleuchtende Plätzchen des Frühlingsenzians und im obern Waldteil noch prächtige späte Alpenrosen, während der Wald südwestlich Samnauns eine Menge der schönsten Steinrosen birgt. Am Maisasbach finden wir hinter dem Dorf den Stengellosen, grossblütigen Enzian. Besonders ausgiebig für den Blumenfreund erweist sich der Eingang ins Val Gravas: Häufig bis weit hinauf blühen ganze Grüppchen des Silberwurz, diese lilabehauchten, niederständigen Blüten, Eisenhutkolonien in trauter Eintracht mit Brennesseln, gelber Enzian, goldgelber Berghahnenfuss, besonders häufig der Immergrüne Steinbrech und seine orangerote Abart und der Dunkle Süssklee, dann auch allerlei hübsche Pölsterli meist vom roten Leimkraut, dem weissen Sandkraut und auch vom Steinschmückel. Merkwürdig selten sieht man Läusekräuter, die im Avers und im Walliser Saastal häufig zu treffen sind; sie blühen nur oben auf dem Zeblasboden. Dagegen überrascht uns sogar Mitte Juli noch nahe des Jochs das liebliche Bergfrühlingsglöcklein der Sodanelle.

Diese Auswahl liesse sich leicht aufs Mehrfache erweitern. Viele mir Unbekannte finde ich nicht im Schröter, dessen Unvollständigkeit mir schon im Avers und im Wallis unangenehm aufgefallen ist. An vereinzelten Stellen entdecke ich recht zerzauste Exemplare der Alpenlilie, während die Rapunzel wieder fehlt. Etwa kann ich auf einer feuchten Matte ein rosafarbenes Männertreu und den ihr ähnelnden Bastard der Gymnadenia conopea bestaunen.

Wenn ich mit Freude an die Mannigfaltigkeit der Bergblumen denke, so bin ich um so enttäuschter von ihren leichtbeschwingten Besuchern, den Schmetterlingen. Nur einzeln und verhältnismässig selten sehe ich den leichtbeschwingten, rasch fliegenden Apollo mit seinen umrandeten, runden Blutflecken mit dem weissen Punkt in der Mitte. Wahrscheinlich ist die Ursache seiner Seltenheit der Mangel an der Fetthenne, der Nahrung seiner Raupe. Häufig kommen der Kleine Fuchs, der Distelfalter und eine Art Baumweisslinge vor, die alle bis über 3000 m hinauffliegen. Bei der Pischa überrascht uns das sehr häufige Herumflattern und sich Niedersetzen des Kleinen Perlmutterfalters, dessen braune Flecken besonders schön leuchten. Etwa erkennt man auch an der Morgenröte auf seinen Vorderflügeln den Aurorafalter und den munteren Postillon. Die sonst häufigen Bläulinge vertritt hier ein brauner Zwerg, der Heufalter. Zur Beobachtung der Nachtschmetterlinge habe ich keine Gelegenheit. Überall nur hockt regungslos und trag mit verschiedener Blutfleckbemalung der kleine, dicke Steinbrechschwärmer und schwirrt dann plötzlich ab.

Eidechsen und Schlangen sah ich nirgends. Woran dies liegt, weiss ich nicht, vielleicht nur an meiner Unachtsamkeit?

Der imposanteste Vogel, den ich etwa im Maisastal beobachten konnte, war natürlich der Steinadler. Ein deutsches Lehrerehepaar erzählte nach der Heimkehr von einem Ausflug sehr erregt, wie sie in fünfzig Meter Entfernung oben auf einem Felshang einen mächtigen, am Boden sitzenden Adler überrascht hätten, der dann mit Schnabelöffnen und wildem Schrei aufgeflogen wäre und durch seine drohende Haltung die junge Frau recht erschreckt hätte. Seine Flügelspannweite wäre gut 2 m gewesen. An den obern Felswänden des Raveisch und des Maisas beobachtete ich etwa Turmfalken und Dohlen, die schreiend im Spiel die Wände hinan- und herab-flatterten. Bei Samnaun huschten manchmal Uferschwalben über den Schergen, und auf grösseren Steinen am Ufer und im Bach hockte ein Vogel, der einer weiblichen Amsel ähnlich sah. Leider besitze ich zu wenig Vogelkenntnisse, um von den vielen Kleinvogelarten, die man beobachten konnte, berichten zu dürfen.

Dass man überall mit guten Augen Murmeltiere gewahren konnte, mehr als im Wallis oder im Avers, wo sie zu häufig abgeschossen werden, war ein besonderes Vergnügen. Sie meldeten sich jeweils durch ihre scharfen Warnpfiffe. Dann musste man sich möglichst einige Minuten ruhig verhalten. Die Neugier lockte sie bald wieder aus dem Versteck und nötigte sie zur Männchen-stellung. Am meisten Gelegenheit bot sich uns auf dem Weg zur Raveischalp, auf dieser selbst, auf der Pischa und im Maisastal, während ich am Piz Motnair keinen Pfiff hören konnte und kein Tier sah. Vom Rehbock dort habe ich schon berichtet. Am Abend graste selten etwa am Weidhang des Hohen Spitzes eine ganze Rehfamilie und zog gemächlich und doch scheu bergan. Nie aber sah ich eine Gemse. In den Bergbächen tummelten sich natürlich oft Forellen.

Eines Morgens erschreckte uns das unangenehm eindringliche, laute und protestierende Geschrei eines Tieres, das man zu quälen schien. Im Pyjama eilten wir ans Fenster. Drei Männer wollten dort eine schwere Sau den steilen Weg vom Bach auf die Dorfstrasse hinauf stemmen. Mit Sperren aller Vier und mit dem zentnerschweren Körpergewicht wehrte sich das Tier und schrie und grollte, dass Gott erbarm. Lachend legten wir uns wieder ins Bett.

Ebenso mannigfaltig waren die Erlebnisse mit den Menschen, diesen gezähmten Wildtieren. Es kann sich natürlich nicht darum handeln, von allen zu berichten, denen ich begegnet bin. Ich bringe nur einige Mosaiksteine, die sich von selbst zu einem Gesamtbild zusammensetzen lassen und die Darstellung des Samnauns auf ihre Art beleben können.

Als Vertreter der Feriengäste, die - wie ich schon berichtete - hauptsächlich Deutsche und davon wiederum viele Berliner waren, möchte ich kurz von dem einen Berliner berichten, den wir Zackzack nannten. Dies war ein immer heiterer Mensch, voll Humor und Witz in jeder Situation, der mit seiner Schlagfertigkeit meist den Gegner aus dem Sattel warf, eine kleinere, sportlich kräftige, etwas feste, aber durchtrainierte Gestalt in den Fünfzigern, sehr draufgängerisch und ausdauernd, Leichtathlet, aber voller Gutmütigkeit. Er liebte sehr das weibliche Geschlecht, das er meist rasch am Bändel und - wieder abgeseilt hatte. Wir befreundeten uns bald mit ihm und führten mehrere Touren gemeinsam aus. Er offenbarte sich mehr und mehr als der Typus des innerlich tapfern, unsentimentalen und humorvollen heutigen Westberliners.

Sehr verschiedenartig waren die Hoteliers. Während die Gäste des Hotels « Post » auch nach ganztägigen Ausflügen am Postauto freundlich von ihrem Hotelier oder seiner Frau in Empfang genommen wurden, auch wenn sie etwa angeheitert zurückkehrten, herrschte im « Muttler » ein kühlerer Ton. Wir waren bisher im Wallis gewohnt, dass uns der Hotelier am Postauto abholte und sogar das Gepäck abnahm, wenn der junge Portier nicht da war. Wir erwarteten dasselbe in Samnaun. Es zeigte sich aber niemand, und wir mussten uns erst nach dem Hotel erkundigen. Dort standen wir längere Zeit im Eingangsraum, ohne dass jemand sich um uns kümmerte, bis wir dann endlich doch in unser Zimmer hinaufgeführt wurden, unser vor mehreren Tagen ab-gesandtes Gepäck aber nicht vorfanden.

Unser Hotelier zeigte sich bald als durchaus anständiger, ruhiger Mensch in jüngeren Jahren. Aber bald auch bemerkten wir, dass er für die Leitung eines doch ziemlich grossen Hotels zu gutmütig und innerlich zu schwach war, was seine Angestellten, vor allem die eine Saaltochter, reichlich ausnützten. So war 's nicht weiter verwunderlich, dass während der Saison ein Zimmermädchen und die Köchin drausliefen, was das Hotelehepaar seinerseits veranlasste, drei Tage auf die Ausschau nach Ersatz zu verschwinden. Auch litt die Pünktlichkeit beim Herrichten der Zimmer und bei der Mahlzeit trotz des Anschlags am Brett empfindlich darunter, so dass wir mehr als einmal eine ganze Stunde auf unser Essen warten mussten. Ich hängte deshalb unter den Anschlag einen zweiten Zettel mit dem Ausspruch Cottis: « Pünktlichkeit ist eine Tugend, welche uns sehr viel Zeit kostet. » Erst nach zwei Tagen verschwand die Glosse ohne Änderung des Mangels. Unter sich nannten die Angestellten ihren Chef einfach « Hans ».

Ein besonders vorlautes, hemmungsloses Muster war die eine Saaltochter, die mit ihrem schallenden, aufdringlichen Lachen sich täglich unangenehm bemerkbar machte. Sie setzte sich gelegentlich ohne weiteres wie ihresgleichen an den Tisch der Gäste und unterhielt sich mit ihnen lachend und ungescheut, die Hand vertraulich auf ihren Arm legend. Sie stammte aus dem nahen Tirol, wie das eine Zimmermädchen, ihre Schwester, die allzu anhänglich sein konnte. Allen fehlte die Hotelschulung.

Den Meister vom « Alpina » traf man oft auf der Dorfstrasse. Er sah etwas bäurisch aus, war aber immer sehr liebenswürdig auch gegen die Gäste der andern Hotels.

Ein Charakter für sich war der Postmeister. Er stellte die Eigenschaft vieler Schweizer, die alle Fremden in ihrer Höflichkeit den eigenen Landsleuten vorziehen, auf den Kopf. Er war stets ausserordentlich gefällig und geduldig gegenüber den Schweizergästen, dagegen auffallend kurz und fast ungeduldig robust gegen die deutschen Besucher mit ihren umständlichen und an-massenden Auskunftsforderungen. Er schien mir der Typus des unbestechlichen, senkrechten Schweizers.

Ein besonderes Muster dagegen war der eine Postautoführer, übrigens ein waschechter Samnauner. Schon seine singende, laute Sprechweise und oft ungehobelte Art konnten recht liebenswürdig und wohltönend werden, wenn man ihm unbemerkt mit der Abgabe des Billetts etwas in die Hand drückte. Er verabschiedete sich in Martina recht freundschaftlich von uns.

Alle Berghirten, die wir auf unsern Touren antrafen, waren junge Tiroler, oft sogar Knaben. Sie sahen meist etwas hungerleiderisch aus und waren dankbar für unsern Proviant. Einen einheimischen, schon älteren Mann möchte ich besonders erwähnen, Typus des zähen, abgehärteten, braungegerbten Bergführers, der willig jede Besteigungsauskunft gab, in freundlicher, bescheiden-selbstsicherer Art. Er erinnerte mich an jene markanten Innerschweizermänner, die man im Umzug bei der Landesausstellung im Jahre 1939 wegen ihrer zähen Kraftgestalten bewundert hatte.

Zum Schluss ein Wort über die Bergausrüstung der fremden Gäste: Ihre Schuhe - oft nur Halbschuhe, meist ungenagelt und nichts weniger als widerstandsfähig, womit sie sich in den beliebten Shorts die Edelweiss in oft abschüssigen, wenig festen Felsgebieten holten, die « Damen » nicht selten auf den rauhen Bergpfaden, ja bis zum Zeblasjoch, in Stöckelschuhen, ihre Bekleidung hotel > aber nicht bergtourenmässig! Man gewann häufig den Eindruck, diese « skigewohnten » Gäsro hätten von den Witterungsunbilden, den Schroffheiten und Gefahren der Berge keine Ahnung. Vielleicht finden wir darin eine Erklärung, warum wir auf gewissen Touren keinen Menschen antrafen. Oft dachte ich an die Mahnungen in unsern Clubnachrichten und im Clubführer - in den Wind gedruckt!

In den letzten Tagen brach in einigen Hotels eine geheimnisvolle Krankheit aus: Übelkeit, Fieber, Erbrechen und Appetitlosigkeit. Es wäre schwer zu sagen, wer Schuld daran trug.

Hoher Spitz oder Piz Ot, 2760 m Betrachtet man von Samnaun aus den Piz Ot, so erscheint er uns mit seiner steil und zerrissen abfallenden Südostwand wenig zugänglich. Zwar läuft sein Fuss in steilen Matten aus, aber drüber streben die stotzigen Felsen empor zu seiner giftigen Spitze - eine schwierige Kletterei. Doch hält man wiederum für möglich, dass der Piz von einer hochgelegenen Alpweide aus, etwa beim Punkt 2148, durch eine Gratbesteigung erreichbar sei. Ich stieg auch dort hinauf, um mich nach Bergblumen umzusehen. Ich entdeckte, dass der Hohe Spitz weiter zurücklag und mit meinen alten Knochen nicht erreichbar war. Ich sagte mir nun, solche unmöglich erscheinende Gesellen seien oft von hinten besser zu bewältigen. So wanderte ich eines Tages mutterseelenallein nach Raveisch. Ein guter Pfad führte mich am Hang des Raveischtales steil, aber rasch empor über Alpweiden und Schieferschutt. Von hier aus sah der Berg immer noch nicht sehr zugänglich aus. Nach Nordosten fielen steile Felswände ab. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. In der Tiefe schauten noch lange einige Häuser von Raveisch empor und verschwanden dann bald, als der Pfad nach links zum Bach abbog. Rechts wurde der Hang auch immer stotziger, im untern Teil von Schieferschutt überschüttet, zwischen dem man nicht selten der Murmeltiere gelle Pfiffe hörte und die drolligen Gesellen, auf einer Platte vor ihrem Loch thronend, beobachten konnte. Lange beobachtete ihre Neugier den Wanderer. Im Husch aber waren sie verschwunden, lenkte man seine Schritte auf ihren Bau hin.

Nach Überschreitung des Baches bildete sich vor mir eine Schlucht aus senkrechten, schräg geschichteten Schieferwänden. Dazwischen zwängte sich tosend der Bach hindurch, und ich fragte mich erschrocken: « Wo soll mich da der Bergpfad weiter leiten? » Nun, dieser Pfad wich nach links gegen die Felswände aus und kletterte ziemlich verwegen über Felsen, Geröll und Rasenstreifen in einigen Windungen empor. Etliche Stellen erwiesen sich als ziemlich kitzlig, besonders nach einem Regen. Man musste oft sehr vorsichtig aufsteigen. Aber mein Erstaunen wurde noch grösser, als ich auf diesem schmalen, abschüssigen Pfad, der mir eben noch für Bergsteiger möglich schien, alte Mistspuren von Rindern entdeckte. Wie kamen diese Tiere mit den seitlich ausladenden Bäuchen hier hinauf, wo links die Felswand anstieg, rechts abfiel. Noch heute ist mir dies ein Rätsel, obschon ich seither die Kraft und Gewandtheit des Alpviehs oft bewundern konnte. In verhältnismässig kurzer Zeit - ich war an diesem Tag gut in Form - erreichte ich den Rand der Alp. Da hörte ich ob mir sprechen. Zwei abenteuerlich aussehende Gesellen stiegen auf dem breiter werdenden Pfad herunter. Sie trugen ein merkwürdig grosses, festes -Schmetterlingsnetz? Und ich hatte doch mit meinen guten Augen keine nennenswerten « Sommervögel » entdeckt. Es fiel mir auch auf, dass sie vor mir das Netz zu verbergen suchten. Ich fragte mich, ob sie damit den Murmeltieren nachstellten, die es in diesem Gebiet ziemlich häufig gab. Von der Nähe sah ich dann, dass es Fischernetze waren, wie sie von den Fischern am Rhein zum Ausschöpfen aus dem Behälter benützt wurden. Dies bestätigte sich mir auf dem Heimmarsch, wo ich sie viel weiter unten am Bach überraschte. Nun, oben liess ich sie in Ruhe, suchte mir an den Felsbändern einige Edelweiss und betrat bald die Raveischer Salas, eine mächtige Mulde, die bis zum Viderjoch hinaufreichte. Die Einsamkeit und Stille dieser Alp, der Ernst, der auf ihr lag, da eben Wolkenschatten über sie hinhuschten, die paar « toten » Hütten im Hintergrund, keine Bewegung sonst, keine menschliche Stimme, alles machte mir einen starken, besinnlichen Eindruck, trotz einzelner Murmeltierpfiffe.

Jetzt entdeckte ich links den hohen Spitz von seiner Nordseite her, sah, dass der Weg nach links abbog, und dass man ohne Schwierigkeit mit einiger Mühe den Gipfel erreichen konnte. An den Felsköpfen auf der Alpmulde wuchsen die prächtigsten Edelweiss in grosser Zahl. Den Pfad säumten nicht nur Geröllbrocken, sondern, lieblich zwischen ihnen eingebettet, in wunderbar leuchtendem Blau Frühlingsenziane, Pölsterli, Hornkraut, Veilchenarten und so manches Zwerg-geistchen der Alpweide. Der Weg aber verliess die Richtung zum Piz Ot, so dass ich eben, stellenweise auf einer Wegspur, den unvermeidlichen, immer steiler werdenden Schieferschutt- und -plattenhang zum Gipfel ersteigen musste - die stetige Mühe und Plage der Samnauner Berge, als ob sie nur aus Schutt und Trümmern bestehen würden.

Die grossartige Aussicht des Piz Motnair schien jetzt nach Norden abgerückt. Die Grenzberge, besonders der Bürkelkopf im Norden und dahinter der Vesulspitz, dazwischen die grossen Alpmulden waren nähergerückt, die fernem Tirolerberge verbargen sich hinter Gewölk, das mehr und mehr den Himmel überzog. Eine düstere Gewitterstimmung lagerte sich über dem nahen Bergland. Drüben über dem Tal entdeckte ich den Piz Motnair und weiter zurück die eindrucksvollen Mondinzacken. Der Muttler hatte sich schon hinter Gewölk versteckt. Der Blick talabwärts, tief im Loch Samnaun, als sei das Dorf von den hohen Felswänden hinuntergestürzt wie Steinblöcke! Ich konnte mich nicht lange säumen. Aber wie das im Samnaun oft der Fall war, kam ich nach eineinhalb Stunden trotz Gewitterdrohung trocken im Dorf an.

Eine Schweizerexklave innerhalb der Schweizer Landeshoheit « Eine merkwürdige Überschrift! » werden die Leser denken. Es ist wohl von Interesse, etwas über die Samnauner Wirtschafts- und Kirchenpolitik zu hören. Das Samnaun ist ja ein sogenanntes Zollausschlussgebiet. Der Schweizer Ferienreisende muss bei Martina die Zollvisitation über sich ergehen lassen, obschon er mit keinem Fuss den Schweizerboden verlässt. Diese Visitation wird zwar sehr large ausgeführt und trifft mehr die Fahrer der Privatautos. Dennoch berührt sie uns merkwürdig und will unserm Selbstbewusstsein nicht eingehen. Man bedauert im stillen auch die Samnauner. Ja, noch stärker: Gibt man in Samnaun seine Ferienkoffer auf die Post, so werden sie uns nicht etwa in Zürich von derselben Post ins Haus gebracht. Nein, man bekommt eine Aufforderung des Zollamtes in Zürich, zur Kofferinspektion zu erscheinen. Man wird daselbst zu vier verschiedenen Beamten zur Unterzeichnung eines Formulars geschickt, wofür man jeweils einen Obolus zu bezahlen hat. Erst beim fünften Abschlussgang kann man die Koffer in Besitz nehmen, nachdem ein Beamter bei nur einem der Koffer eine Hand ein wenig hineingesteckt und mit Fingerspitzengefühl die Harmlosigkeit des Inhalts ertastet hat. Jetzt darf ich meine Koffer selbst nach Hause führen lassen. Und warum nun dieses ganze Manöver?

Als ich einmal bedauernd unsern Hotelier darüber befragte, meinte er lächelnd: « Wir haben auch unsern Vorteil dadurch. »Mehr war im Augenblick nicht herauszubringen. Mit der Zeit kam ich selber hinter die Schliche, kam dahinter, dass die Samnauner es gar nicht anders wünschen.

Samnaun ist ein kleines Dorf von vielleicht 15-20 Baulichkeiten. Die wichtigsten sind die vier Hotels « Silvretta », « Muttler », « Alpina » und « Stammerspitz », kurz genannt « Post », weil das Postbureau sich darin befindet. Ein fünftes steht im Bau. Dazu kommen noch das hübsch und bequem geführte Café Prinz, ein paar saubere kleine Häuser, wo Zimmer vermietet werden, die Garagen der Hotels und der Post mit Wohnungen für die Postautoführer. Die beiden Verkaufsmagazine -das modernere im « Silvretta », wo man sogar Operngläser kaufen kann, das ramschigere in der « Post », darin man aber bedeutend besser seine Einkaufbedürfnisse befriedigen kann - gehören den betreffenden Hotels. Beim « Muttler » steht das hübsche, aber baufällige Kirchlein. Die « Eingeborenenhütten » treten ganz zurück, liegen zerstreut.

Wollte man die Bewohner näher unter die Lupe nehmen, so konnte man dies am besten morgens früh, während der Heuernte oder beim Gottesdienst in und vor dem Eingang des vollgestopften Kirchleins tun, das nicht einmal alle Frommen aufzunehmen vermochte. Allem Anschein nach hatte ihr Priester sie gut in der Hand. Denn von den Hoteliers bis zum ärmsten, taglöhnernden Bäuerlein waren alle anwesend, im dunklen Sonntagsstaat und sauberer als am Werktag. Da standen sie auch nach dem Gottesdienst umher und warteten auf ihren Seelsorger, der Männlein und Weiblein die Hand reichte und mit manchem sprach. Ein Anschlag an der Kirchentür forderte die Kirchgänger auf, durch Bezahlung von zehn Franken für je einen Baustein dem Kirchenbau auf die Beine zu helfen und sich selbst damit den Dank des Himmels durch Lesen einer Messe zu verdienen. Wieviel Quittungen, die sehr an jene Ablasszettel erinnerten, ausgestellt wurden, weiss ich nicht, wie auch nicht, wie viele'von deutschen Gästen erworben wurden, die aus Neugier die Kirche besuchten.

Ja, diese « Fremden » waren während der Saison die Haupteinwohner von Samnaun. Ich zählte einmal fünfzig Autos, davon der grössere Teil mit der Bezeichnung D und davon wieder am meisten Berliner, aber am wenigsten Franzosen, dazwischen als Fremdkörper etwa mal ein Zürcher oder ein Berner Wagen. Es war deshalb nicht erstaunlich, dass in den beiden Hotels « Muttler » und « Silvretta » deutsche Idiome die Umgangssprache bildeten. In der Tat glaubte man sich oft in einer Berliner Exklave zu befinden. Die Dienstboten kamen meist von Landeck oder Pfunds, waren also Tiroler. Jeden Morgen tönte uns ihr stereotypes « Haben Sie gut geschlafen ?» oder mittags « Mahlzeit! » oder « Hat's geschmeckt? » in die Ohren. Echte Samnauner Mundart konnte man nur etwa morgens im Bett vernehmen, wenn der eine Postautoführer in seiner singenden Sprechweise mit seinem Buben unten schimpfte oder ebenso laut mit seiner Gemahlin sich unterhielt, oder wenn die etwas verwahrlosten und schmutzigen Dorfbuben spielten und « politisierten ». Die deutschen Gäste waren übrigens meist sehr angenehme, gebildete Menschen, gar nicht von der Art, wie sie uns in früheren Zeiten so unangenehm aufgefallen waren; tempora mutantur! Sie benahmen sich viel ruhiger als etwa die Schweizer Gäste in der « Post ». So war 's weiter nicht verwunderlich, dass diese autobesitzenden Deutschen von unsern Hoteliers leicht bevorzugt wurden. Ohne sie hätten sie vielleicht Konkurs machen können, weil unsere lieben Schweizer scheinbar diesen paradiesisch schönen Fleck unserer so grossartigen Alpenwelt sehr wenig kennen. Und darnach richtete sich die Wirtschaftspolitik der Samnauner Hoteliers. Herrschte ja im Dorf und Tal die Oligarchie dieser Besitzenden.

Was die Hotels benötigen für Küche und Haus, beziehen sie aus Landeck, Pfunds und andern Orten des Tirols. Für sie sind die Preise dort viel niedriger; denn sie bezahlen in österreichischer Währung, beziehen aber im Hotel Schweizerfranken. Sie entrichten keine Zölle, haben also jeden Nutzen vom Ausschlussgebiet und von ihrer ganz nach Österreich gerichteten Wirtschaftspolitik. Jedes Hotel treibt zudem einen nicht unerheblichen, einträglichen Nebenhandel. Sie beziehen aus dem Tirol allerlei vorzügliche französische Schnäpse - Benediktiner, Rum, Cognac, Chartreuse usw., wohl 10-12 Sorten - und verkaufen sie an die Hotelgäste zu Preisen, wie sie 's daheim nicht bekommen können. In Zürich zahlen wir z.B. für die gleiche Flasche und Qualität 5-8 Franken mehr. Diese Tatsache wird von vielen Gästen ausgenützt. Wie aber steht 's mit der Verzollung auf der Heimreise? Man wird belehrt: « Deutsche können einen halben Liter pro Kopf zollfrei über die Grenze ausführen, die Schweizer aber im eigenen Land nur einen Viertelliter! Die Deutschen schwenken dann bei Vinadi ausserhalb des Schweizerzolls ab - ohne Zollabgabe. Der Hirtenknabe aber verzollt seinen Schnaps in Martina beim Schweizerzoll. Er zahlt also für Hoteliers und Deutsche den Zoll, der immerhin bei einer Einzelperson pro Flasche 5-6 Franken ausmacht, wenn besagter Hirtenknabe ehrlich von der Heimat in die Heimat gelangen will.

Ich spreche auch oben von der Oligarchie der Hoteliers. Tatsächlich machen sie die Preise, indem sie den Einzelhandel von gewöhnlichen Dörflern in Obst und Gemüse regulieren und unterbinden. Will man solches bekommen, muss man den Schwarzhandel im Kellerlager eines Dörflers kennen. Dieser liefert allerdings an die Hotels, ist aber an das Verbot des Verkaufs an Private gebunden. Er umgeht dieses Verbot ziemlich unverhüllt im Geheimverkauf. Einer sagt 's ja dem andern. Dass aber trotzdem die Preise möglichst tief gehalten werden, dafür sorgen stillschweigend geduldete Zwischen- oder Konkurrenzhändler aus dem Tirol, die auf die geltenden Preise drücken und den Hoteliers die Möglichkeit geben, ihrerseits auf den einheimischen Verkäufer zu drücken.

Wenn ich nun auch ein Wort über die Samnauner Kirchenpolitik sagen möchte, so kann ich dies am besten durch die Beschreibung der Feier des 1. Augusts. Der Guthinhörende wird vernehmen.

Der 1. August Es liegt etwas in der Hotelluft, eine sonntägliche Stimmung, trotzdem es Freitag ist und die Gäste ihre Ausflüge unternehmen. Aber sie kehren früher zurück. Denn am Abend ist das grosse Festessen. Der Doppelsaal ist mit Fähnchengirlanden geschmückt - das Schweizerkreuz im roten Feld. Auf jedem Tisch steht ein Blumenstrauss. Es ist für mehr Gäste gedeckt als sonst, es haben sich Besucher aus den andern Hotels des Dorfes, ja, von Raveisch angemeldet. Nur im « Muttier » ist Musik und Tanz. Das Essen ist festlich gut. Es werden bessere Weine getrunken, auch Champagner. Die Stimmung wird angeregt und heiter. Nach der Mahlzeit tritt man hinaus hinters Hotel.

Rechts, wo die Maisasmatte zum Wald ansteigt, sind Vorbereitungen fürs Feuerwerk getroffen. Manches Freudenfränkli soll verpulvert werden. Alt und jung vergnügt sich daran. Die Kulissen sind grossartig: die steilen, nächtlich ernsten Waldhänge und drüber die ewigen Feuer des Himmels. Etwa in der Mitte des Mattenvordergrunds ist eine einfache Rednertribüne errichtet worden. Links davon soll das Feuer entzündet werden. Nach halb 9 Uhr wandern die Leute im Dunkeln über die Matte. Was der Festredner wohl zu sagen hat? Ein Trüpplein Kinder mit Papierlaternen sammelt sich um die Bühne. Mit leuchtenden Augen schauen sie auf das Licht ihrer Lampions. Der Redner naht, und alles drängt sich weiter nach vorn. Das Feuerwerk knallt und übersprüht den Platz mit farbigen Funken. Das Feuer ist entzündet und beleuchtet das Gesicht der Leute. Ein Lied wird angestimmt, doch nur schwach erwidert.

Überraschenderweise tritt jetzt nicht der Gemeindepräsident oder sonst ein Mann der Politik auf das Rednergestell, sondern ein katholischer Priester, Vertreter der Kirche. Er entschuldigt sich deshalb, als ob nicht jeder aufrechte Schweizer, Gemeindepräsident oder Priester, am 1. August sein eidgenössisch gerichtetes Wort aussprechen dürfte. Es klingt wie eine versteckte Entschuldi- gung, dass man nun eben nicht ein treueidgenössisches, sondern ein Wort der Kirche zu hören bekomme. Und so ist 's auch. Anfangs klingt 's noch zaghaft, bald werden kräftigere Register gezogen, so dass es laut und eindringlich über die nächtliche Matte bis zu den Berghängen und ins stille Dorf hineintönt. Was die vielen, meist ausländischen Zuhörer vernehmen, ist eine gut katholische Predigt über die « Freiheit in Gott ». Erst werden sie zu ihrer Überraschung über Petrus, als den ersten Papst, aufgeklärt. Keine patriotisch aufmunternden Worte über die geschichtliche Bedeutung des Tages, über das Rütli, den Bund in Brunnen und die ersten grossen Freiheitskämpfe nach dem eidgenössischen Zusammenschluss! Kein Wort über die historische Sendung des heutigen Eidgenossen, der heutigen Eidgenossenschaft! Kein Wort über die mahnenden Höhenfeuer. Der grosse Geburtstag der Eidgenossenschaft und des Schweizervolkes wird ganz verschwiegen. Es scheint sogar eine gewisse Absichtlichkeit dahinter zu stecken: Alt-Österreich und seine Kirchenpolitik gespenstern durchs Tal, und ihr kann die alteidgenössische Geschichte wenig behagen, so schweigt man sie tot. Welch einzigartige Gelegenheit wird hier umgangen und versäumt, den vielen deutschen und österreichischen Zuhörern von der grossen Sendung und Verpflichtung des Schweizertums in einer politisch so unruhigen Umgebung zu berichten, als Aufforderung, den wirklich freien Geist auch in ihrem Vaterland zu wecken und zu fördern, den wir trotz aller Mängel so reichlich in unserer Heimat geniessen dürfen, und der uns immer wieder eine Aufforderung zum höchsten Menschlichen sein muss und sein wird!

Bezeichnenderweise fragt mich nach der Rede eine ältere Deutsche, was eigentlich das Fest zu bedeuten habe. Sie zeigt sich sehr überrascht und interessiert über meine kurze historische Aufklärung.

Es geht im Samnaun auch heute noch politisch, wirtschaftlich und religiös das Gespenst des Feudalismus um und tritt in den leitenden Männern in Erscheinung. So kann ein schärferer Beobachter wohl glauben, er befinde sich in einer altösterreichischen Exklave. Der dahinter versteckte Vorwurf richte sich aber weder gegen die Kirche noch gegen Österreich, sondern der Pfeil treffe den biederen Schweizerknaben, der in dieser verborgenen Ecke seines geliebten Heimatlandes vielleicht manches versäumt!

Soll ich hier noch ein Wort über die Höhenfeuer sagen? Gewohnt, rings auf den Höhen die flammenden Fanale freudig zu entdecken, schaue ich hinauf zum Muttler, zum Motnair, Pizett, zu den Ausläufern der Stammerspitze, zum Munschuns - nirgends ein Feuer! Die Signalstangen liegen also noch unbenutzt auf dem Boden des Muttiergipfels. Doch halt, auf dem Piz Ot ist ein merkwürdiges Glimmen, das sogar ein wenig aufflackert! Ein tapferer Eidgenosse hat auf den steilen Schuttkegel einen Benzinkanister hinaufgeschleppt. Und so brennt im Zeitalter des Autos ein Benzinhöhenfeuer. Vielleicht wird in spätem Jahren ein atomares Feuer entzündet!

Über diese Enttäuschung tröstet uns das Feuerlein auf der Matte selbst nicht hinweg. Es bezeichnet nur deutlicher die Ärmlichkeit solchen Schweizergeistes inmitten der Erhabenheit der Bergesnacht.

Nach der Feierlichkeit eilen die Leute in den Doppelsaal des Hotels zurück, der zum Tanzsaal umgeräumt ist. Bei Tanz und Trunk, mit Spässen und Lachen findet die Fröhlichkeit am frühen Morgen ihren Ausklang, und das vaterländische Gefühl legt sich zur Ruhe.

Muttier international, 3298 m Für die zweitletzte Ferienwoche hatte ich mir die Besteigung des höchsten Samnauner Berges, des Muttiers, vorgenommen Mit unserm stets gutgelaunten Bergkameraden unternahm ich erst an einem Nachmittag einen Erkundungsausflug, mit der Nebenabsicht, dem Berliner auf den Zahn zu fühlen. Er war zwar als Leichtathlet sportlich trainiert. Aber ich wusste wohl, dass das Bergsteigen oft andere Anforderungen stellt. Zudem waren seine zwar guten Schuhe nicht genagelt, waren blosse Wanderschuhe.

Bei der Post überschritten wir den Maisasbach und wanderten auf dem recht guten Bergpfad rechts des Baches bergan, gleich anfangs an einem Camping von mehreren Zelten und Autos vorbei, die mich persönlich nicht ergötzten. Ein grosses Zelt war, mit echter deutscher Unverfrorenheit, quer über den Weg aufgestellt. Dieser führte erst wenig steil über grünen Rasen hinan, am Rande mit blauem Eisenhut geschmückt. Dann wurde der Hang zur Linken immer wüster vom Schiefergeröll und -schutt überstreut, die vom Maisasjoch und seinen Vorläufern heruntergeworfen wurden. Zur Rechten frass sich der Wildbach tiefer ein, der Pfad wurde steiler und felsiger. Dort unten schäumte er in einem langgestreckten Tobel, ja, in einer Schlucht, zu der der Hang vom Weg steil abfiel. Jenseits strebten die Vorläufer der Stammerspitze zu den Gipfelpyramiden empor. Oben beim Punkt 2731 entdeckten wir einen Steinadler, der in majestätisch ruhigem Flug fast ohne Flügelschlag die Spitze wohl ein Dutzendmal umflog, in wenigen Sekunden den Kreis schloss, der immerhin eine Strecke von wohl achthundert Metern bedeutete. Welches modernste Flugzeug bewegt sich mit solcher Ruhe, Sicherheit, Anmut und Lautlosigkeit! Vermutlich suchte er die Hänge nach Murm eltierbeute ab. Etwa in halber Höhe zum Rossboden war auf einer grünen Terrasse ein Bänklein angebracht; von hier aus hatte man einen recht hübschen Rückblick aufs Dorf mit seinen Hotels und auf die zurückgelegte Wegstrecke. Jetzt wurde der Pfad wilder und felsiger. Rechts und links am Hang blühten noch Alpenrosen, deren Sträucher sichtlich den Hirten Weideboden raubten. Höher oben, kurz vor dem Trümmerfeld des Rossbodens, fanden wir einen grossen grünen Buckel mit weichem, dichtem Gras, auf dem lauter Jungvieh weidete. Es starrte uns erstaunt und blöd an. Die Tiere waren sehr misstrauisch, liessen sich zögernd die Stirne krauein und wichen bei der leisesten Bewegung sprunghaft zurück. Nur der junge drollige Appenzeller Hund bellte erst wichtig, kam dann wedelnd näher und liess sich gerne ein Zückerlein geben. Er war ja nicht verwöhnt, war mager, aber trotzdem lebhaft. Der Hirte war ein junger Tiroler Bursche. Zu unserer Verwunderung trieb ein zweiter Hirte einen Teil des Jungviehs den steilen Hang zum Bach hinunter und liess die Tiere die wenigen Grasbänder am Ufer und zwischen dem Schutt abweiden. Wie geschickt zeigten sich dabei die doch eher plumpen Tiere in ihren Bewegungen und gelegentlichen Sprüngen, wenn der Bursche sie mit seinem dicken Stecken abwärtstrieb! Während des ganzen Aufstiegs hörten wir bald links, bald rechts im Fels und Geröll die Warnpfiffe der Murmeltiere, konnten aber keines entdecken.

Vom Grasbuckel aus bestaunten wir in imposantem Halbkreis die schroffen, steilen und zerrissenen Wände und scharfen Spitzen, die Trümmerhänge der Stammerspitze und des Muttiers. Hier erkannte man auch, dass jene trotz etwas geringerer Höhe ein ungemütliches, launisches und gefährliches Frauenzimmer für ihre Besteigung sein musste, weit erregender aussah als ihr ruhi-gerer älterer Bruder zur Linken. Dieser Eindruck verstärkte sich noch vom Gipfel des Muttiers aus.

Nun erreichten wir die Schutt- und Geröllmasse des Rossbodens. Wir hielten uns mehr links, weil wir glaubten, dadurch dem Trümmerfeld ausweichen zu können, sahen uns aber bald getäuscht. Wir mussten eher mehr und schwierigere Gesteinstrümmer übersteigen, bis wir zu den schmalen Schneestreifen dort drüben gelangten, wo der eigentliche Aufstieg beginnen sollte. Der ganze Hang zum Punkt 3146 schien uns ein wenig verlockender Schutt- und Geröllabsturz zu sein, vielfach von grössern Blöcken unterbrochen. Schon der wenig ansteigende Rossboden mit seinen vielen eingefressenen Wasserläufen zwischen den Gesteinsmassen hatte uns genug Mühe gekostet.

Wie das oft ist, entdeckten wir erst beim Rückweg einen leichter begehbaren, mehr oder weniger sogar grünen und weniger überrollten Streifen, an dessen Ausgang wir auch eine Art Markierung fanden, die den leichtesten Durchgang durch das Gesteinsfeld andeutete.

Beim Abstieg begegneten wir nur Deutschen und Tiroler Ausflüglern, netten, gesprächigen Leuten. Wir unterhielten uns mit einem Frankfurter Ehepaar. Sie klagten uns, sie wären von hier aus an den Gardasee gefahren, hätten aber dort nur Hitze, eine Unmenge Campings und « ekel-hafter Leute » gefunden, aber keine Ruhe und Erholung, die sie hier in Samnaun hätten haben können. « Und jetzt reisen wir wieder bleich und unerholt in unsere Stadt zurück, so wie wir hierhergekommen sind !» jammerte die Frau.

Mein Berliner hatte meine Bedenken wegen seiner ungenagelten Schuhe beseitigt. Er selbst erwies sich als guter Berggänger, war mir meist voraus. Nur stieg er zu rasch. In der Besiegung des Felstrümmerfeldes war er gewandter und beweglicher als ich, allerdings auch etwa vierzehn Jahre jünger. Das sportliche Training zeigte sich auf jeden Fall vorteilhaft. Wir beschlossen also, den « Alten » zu erobern. Aber der Wettergott machte in den nächsten Tagen ein griesgrämiges Gesicht. Die Pyramide des Muttiers bedeckte sich bis herunter zum Rossboden mit Neuschnee, so dass an eine Besteigung nicht zu denken war. Wir mussten aber nur wenige Tage warten. Der Muttler legte seinen Wintermantel beiseite, nur die wenigen offiziellen Schneefelder, die sein Haupt auch zur Sommerszeit schmückten, blieben liegen. In der Wartezeit hatten wir uns von einem Berner einen Aufstieg erklären lassen, der den Fels- und Schuttmassen mehr auswich und deshalb für die Besteigung angenehmer war.

Am strahlendschönen Dienstagmorgen der letzten Ferienwoche brachen wir um 6 Uhr auf, frisch und frohgemut. Wir wanderten über die Maisasmatte hinter dem Hotel auf der linken Bachseite; denn mein Berliner hatte entdeckt, dass Knaben mit einem Brett und Steinplatten einen Übergang über den reissenden Bach gebaut hatten. Bald erreichten wir den rechtsufrigen Bergpfad und in dreiviertel Stunden das Bänklein. Jetzt verliessen wir den Weg und stiegen links die steilen Grashänge hinan. Es war meist recht trockener und magerer Boden, und die Blumen waren selten. Am ehesten fand man zwischen Steintrümmern und gelblichem Gras hübsche Pölsterchen, die unbekümmert rot herausleuchteten - Leimkraut oder Steinschmückel. Erst weiter oben konnten wir dem Geröll und den Felsblöcken nicht mehr ausweichen. Mehrmals mussten wir die eingefressenen, steinigen Bachbette übersteigen, die vom Maisasjoch herunterführten. Weiter oben sahen wir uns mitten im Geschiebe, in Steinmassen, die den Anstieg recht mühsam machten.

Beim Punkt 2817 des Maisasjochs hielten wir Rast. Einige Bergdohlen, von uns aufgescheucht, flogen auf und verschwanden bald hinter dem Grat. Das Weglein führte nun um ein paar Felsköpfe auf dem schmalen Grat bis zum letzten Abschnitt unserer Besteigung: einer riesigen Schuttpyramide, deren Gipfel man in einer halben Stunde zu erreichen glaubte. Die Wegspur führte ziemlich mühsam zwischen und auf den Blöcken und Schuttmassen hinan, verschwand wieder, weil sie verschüttet war, wurde dann auf Händen und Füssen gefunden und benützt und wieder verloren. Kein Lebewesen, keine Pflanze oder Blume! Wir berührten den Rand von drei sehr steil abfallenden Schneestreifen, die wir wohlweislich mieden, weil wir keine Steigeisen besassen. Der Gipfel verschwand. Aus der halben Stunde war schon eine ganze geworden. Der Berliner immer munter voraus, ich mit kurzen Atemhalten etwa fünfzig Meter hintendrein. Wir setzten uns etwa auf einen Block, turnten uns eine schwierigere Stelle hinauf. So verging noch eine mühsame halbe Stunde. Jetzt ertönte von oben ein Jauchzen. Mein Bergkamerad winkte dreissig Meter höher oben und schrie: « Wir sind oben! » Zweifelnd blickte ich hinauf; denn man sah weder Gipfel noch Signal. Neben ihm stand ein anderer Mann, mit dem er sich eifrig unterhielt. Sie winkten mir zu, und endlich war ich - auf Händen und Füssen emporklimmend - auch oben! Der Fremde, ein Frankfurter, begrüsste mich mit Handschlag und gab seinem Erstaunen mit den Worten Ausdruck: « Wenn ich einmal mit 66 Jahren noch eine solche Leistung fertigbringen werde, dann will ich zufrieden sein. » Diese Worte freuten mein Selbstgefühl um so mehr, als ich mich mit dem Berliner verabredet hatte, jedes Jahr eine solche Bergbesteigung auszuführen, um zu prüfen, ob Herz, Lungen und Leber noch in Ordnung seien: Letztes Jahr die Mischabelhütte mit 3400 m, dieses Jahr den Muttler mit 3300 m und nächstes Jahr den Piz Mondin mit ungefähr 3200 m und so jedes Jahr hundert Meter abgestuft. Für die Besteigung hatten wir viereinhalb Stunden gebraucht, also einiges mehr, als im Clubführer zu lesen ist. Denn auch die Jahre hatten Alterszulagen verlangt.

Jetzt die Aussicht! Ich hatte in Jüngern Jahren bei klarem Wetter die Aussicht auf dem Oberalpstock, dem Scopi, dem Piz Medels, dem Weissfluhjoch, dann in den letzten Jahren auf der Bella Tola und andern Wallisern bewundert und genossen. Aber was ich hier oben sah, war einzigartig. Die Luft war kristallklar und durchsichtig, nur wenig sehr hohe, leichte Wölklein im Südwesten, die dort als Schmuck am Himmel schwebten. Das Neue und Einzigartige aber war, dass man deutlich nicht nur einen, sondern zwei geschlossene Gesichts- oder Bergkreise unterscheiden konnte, einen nahen und einen sehr weiten und fernen. Erst fiel der Blick auf die nächste Umgebung des Muttiers, vor allem auf den gezackten Grat der Stammerspitze mit den steilabstürzenden Felswänden gegen Norden und den kaum weniger steilen Hängen und Einschluchtungen gegen das Val Tiatscha und Sinestra, dann der zerklüftete Osthang des Muttiers selbst, die Sicht auf das Val Sampuoir und Val Maisas. Den nähern Gesichtskreis bildeten die Berge des eigentlichen Samnauns im Westen bis zum Fluchthorn und zur Silvretta, im Norden zum Bürkelkopf, im Osten zu den Unterengadiner Dolomiten. Und nun in weiter, lichtblauer Ferne der äussere, grossartige Gesichtskreis, der Tiroler, Bündner, Berner und Walliser Hochalpen einschliesst! Wahrlich ein erhabener und erhebender Ausblick!

Der Gipfel des Muttiers bot keine grossen Lagergelegenheiten. In der Mitte stand noch die eine Stange des Signals. Sie war so wackelig, dass ich ihren Fuss mit einigen grossen Steinen zu stützen suchte. Sie wird aber trotzdem den Winter nicht überdauern. Die beiden andern Stangen lagen am Boden, um vielleicht an einem 1. August für das Höhenfeuer Verwendung zu finden. Dieser Tag war schon vorbei. Ein paar Schritte davon erhob sich das Steinmannli. Leider wussten wir nicht, dass unter seinen obern Steinplatten das « Bordbuch » verborgen war. So legten wir unsere Visitenkarten mit Datum und Alter zwischen die Steine des Mannlis und beschwerten sie, damit der Bergwind sie nicht herausblasen konnte, mit kleinern Steinplatten, als Zeugen unseres Sportheldentums. Pflanzen gab 's hier oben nicht, nichts als Steine und Steine, so dass der Frankfurter meinte, ihn wundere nur, dass dieser Trümmerberg noch stehe und nicht schon lange in sich zusammengestürzt sei. Ja, Trümmerberge sind die Samnauner Höhen fast alle, besonders südlich des Haupttales.

Nun von den Lebewesen: Wir sollten nicht die einzigen bleiben - ein Berliner, ein Frankfurter und ich. Bald entdeckten wir noch drei Erklimmer auf unserer Aufstiegsroute. Zuerst erkletterte auf allen Vieren mit affenartiger Behendigkeit ein junger Bursche das letzte Stück und entpuppte sich als munterer, schlagfertiger Badenser. Etwas später tauchte aus dem Trümmersturz eine Wienerin auf und zuletzt eine bleiche, schon ergraute Frau, die Mutter des Badener Bürschchens. Sie sah sehr erschöpft aus. Dass wir uns alle herzlich begrüssten, war selbstverständlich. Die Bergwelt macht die Menschen ohnehin aufgeschlossener und zugänglicher, so dass das Beste und Aufrichtigste aus dem Innern hervorschaut. Der Junge gefiel mir trotz der aufschneiderischen Pläne, die er uns darlegte, wegen seiner muntern und unverdorbenen Art. Er meinte: « Ein Berliner, eine Wienerin, ein Frankfurter und wir zwei Badenser - Herr Limbach, Sie als Schweizer sind hier eigentlich deplaciert. » Vielleicht gilt dieser Ausspruch ein wenig fürs ganze Samnaun.

Bald entdeckte ich weitere Lebewesen: Mehrmals flogen Baumweisslinge und Kleine Füchse über die Kuppe hin, setzten sich wohl einen Augenblick an eine etwas feuchte Stelle am Boden und flogen dann in elegantem Schwung über den Steinhang in die Tiefe, ohne Mühe und in raschem Tempo. Ich beobachtete hübsche Hummeln, die da oben in 3300 m Höhe umhersurrten und ich weiss nicht was suchten.

Am nächsten Tag schrieb ich ins Fremdenbuch des Cafés « Auf dem Muttier traf ich an Weib und Mann Aus Berlin und Wien, aus Frankfurt am Main, Schmetterling ', Hummeln gross und klein.

Ein Badener Jüngling, ungeniert, Fand mich Schweizer deplaciert - Heil dir, Helvetia!

J. Limbach und Genossina. » Der Frankfurter entschloss sich als erster zum Abstieg, wiederum über den Nordgrat. Zuvor knipste er uns zwei ab. Er war ziemlich schnell unsern Blicken entschwunden. Wir schauten erst nach der günstigsten Abstiegsmöglichkeit aus, entschlossen uns aber bald für den gleichen Rückweg, da Hang und Route nach West oder Südwest wenig einladend aussahen: Von oben bis hinunter zum Rossboden Geröll und Schiefertrümmer! Auf unserer Route hatten wir immerhin die Aussicht, vom Maisasjoch an teilweise über Rasenhänge hinabzugelangen. In einer halben Stunde erreichten wir das Joch. Hinter uns folgten die Wienerin, der Badener Jüngling. Seine Mutter aber war noch nirgends zu sehen. Ich machte ihm Vorwürfe, nach den Regeln des SAC sei Bergkameradschaft und -hilfe eine der wichtigsten moralischen Erwartungen. Und zudem sei sie seine Mutter. Wie leicht könnte ihr etwas geschehen! « Ich bin nicht im SAC », war seine lachende Antwort. « Aber es ist auch ein allgemeinmenschliches Gesetz », erwiderte ich. Er kümmerte sich nun tatsächlich mehr um die Mutter und wich nicht mehr von ihrer Seite. Und dies freute mich.

Jetzt war ich gegenüber meinem Kameraden im Vorteil, weil mir der Abstieg immer wenig Mühe bereitet. Der Berliner blieb mehr und mehr mit der Wienerin zurück. Ein altes Leiden, ein Meniskus, behinderte ihn gerade beim Abstieg sehr. Ich stieg direkt ab, um schon in der Nähe des Rossbodenanfangs auf den guten Maisaspfad zu gelangen, die andern vier in Abständen hintendrein, zuletzt der arme, aber willensstarke Berliner. Da die steilen Matten voll Rasenlöcher und Geröll waren, strengte dieser Abstieg Knie und Wadenmuskeln stark an. Endlich erreichten wir den Weg. Beim Bänklein warteten wir auf unsern Berliner. Die zwei Tiroler Hirten kamen auch herunter. Sie nahmen mit Vergnügen den Rest unseres Hotelproviants entgegen. Beim Hüten hatten sie ja kaum viel zu beissen gehabt, wir aber wollten die Sachen nicht wieder zurücktragen. Ihr Hund schwänzelte um uns herum, und der magere Kerl erhielt auch seinen Teil. Nach zweieinhalb Stunden kamen wir froh und zufrieden wieder im « Muttler » an und versäumten nicht, dem richtigen Muttler im Abendglanz einen Blick zuzuwerfen und dem Wein etwas mehr zuzusprechen.

Die Seitentäler Es lohnt sich, auch ein Wort über die Seitentäler des Haupttales zu sagen. Bieten doch gerade sie Gelegenheit für mühelose und schöne Wanderungen auch für bergungewohnte Naturfreunde. Und jedes Tal hat seinen eigenen Charakter, seinen besondern Reiz. Es sind dies südlich gerichtet das Val Gravas für die Besteigung des Piz Chamins und des Piz Vadret, das Val Chamins für den Aufstieg zur Stammerspitze, das Val Maisas zum Muttler und das Val Sampuoir für die Besteigung des Piz Mondin - nördlich gerichtet aber das Raveischtal zum Piz Ot, das Val Schischenader zum Piz Munschuns, das Vanal oder Alpbachtal hinauf zum Bürkelkopf, Grübelekopf und das Zanderstal zum Martinskopf und Kreuzjoch.

Vom Val Gravas, dem Tal des Felsschuttes, habe ich zur Besteigung des Piz Chamins schon berichtet. Beim Val Chamins blieb 's diesmal nur beim blossen Suchen nach einem Pfade, den wir linksseits ( östlich ) der schönen Matte vor dem Taleingang zwar fanden, aber nicht nach hinten verfolgten. Ebenso berichtete ich bei der Muttierbesteigung ausführlich vom Val Maisas, dem Tal der Gletschertische.

Eines Tags wanderten wir talabwärts zum Pfandshof. Oft mussten wir entgegenfahrenden Autos, am Rande der schmalen Bergstrasse wartend, ausweichen. Trotzdem genossen wir wieder die grossartige Abgeschlossenheit des Haupttals. Etwas oberhalb des Pfandshofs brach ein Bach lärmend aus dem schluchtartig eingeengten Val Sampuoir herunter. Auf der südöstlichen Bachseite kletterte unter den merkwürdigen Natursäulen ein steiler, nicht besonders einladender Waldweg empor. Ich hatte im Clubführer nachzulesen versäumt, dass weiter unten vom Haupttal aus ein guter neuerer Weg viel bequemer und schöner ins Val Sampuoir hinaufführte. Nun, unser Pfad, dessen Fortgang oft mehr vermutet werden musste, brachte uns immer durch Wald und Buschwerk, über offene Stellen mit entsprechender Fliegenplage hinan. Er liess uns wenig Aussicht. Nur rechts drüben über dem Bach, der meist unsichtbar blieb, traten etwa die steilen, felsigen Hänge hervor, Nach dreiviertel Stunden lief unser Pfad unvermutet in den oben genannten Weg ein. Die Sicht wurde freier, der Wald trat zurück, stieg hinan bis zum Felshang. Der Weg führte zum Bach hinab und auf der andern Seite weiter. Der Charakter des Tals veränderte sich, es wurde weiter. Zur Linken stiegen die Matten steil auf. Wir befanden uns eigentlich erst jetzt im « Tal der Samnauner Weiden », auf dem eigentlichen Alpgebiet. Wir sahen aber kein Vieh. Der Muttler stand immer vor unsern Blicken. Rechts blieb der Hang schroff und zerrissen. Der Weg begleitete den Bach, übersprang ihn wieder, wurde steiler und wüster und führte hinan zum Cuolmen Salèt. Wir kehrten nahe zweier Hüttchen um. Den Abschluss des Tales bildeten die wenig einladenden zerklüfteten Ost- und Nordabstürze des Muttiers und des Mot délias Amblannas ', woher die Quellbäche des Sampuoirbaches herabstürzten. Etwa in der Mitte des Tales schwenkten wir beim Rückmarsch auf den rechts am Hang hinführenden Weg ein, der dann sehr angenehm durch den Wald uns etwa eine Viertelstunde unterhalb des Pfandshofs auf die Talstrasse brachte.

Von den nordseitigen Tälern bot wohl das Alpbachtal die schönste Wanderung. Wir fuhren mit dem Postauto nach Compatsch. Hinter der Kirche führte der gute Weg etwas steil empor. Reizend war der Blick hinüber auf Laret, das sauber und einladend heraufgrüsste. Ein schöner Weg verband die beiden Dörfer. Rechts stiegen prächtige Matten und drüben der Wald bis hinauf zum felsigen Dach an. Überall zerstreut auf der Matte sahen wir merkwürdige schwarze Flecken, die sich bei schärferem Hinsehen bewegten, ja - aufflogen. Eine wohl 6O-8Oköpfige Krähengesell-schaft trieb ihr Spiel und suchte sich dazwischen ihr Futter, schwärmte auf zum Wald und liess sich bald mit Geschrei wieder auf die Matte nieder. Der Weg lag ziemlich hoch ob dem Bach, und sein Rauschen tönte schwach aus der Tiefe. Der jenseitige Hang stieg steil an. Wir wanderten gemächlich zwischen den prächtigen, aufgerundeten Alpweiden. Links nach unten, rechts nach oben waren sie belebt von fleissigen Älplern, die mähten, zettelten und zusammenrechten. Nach der Abzweigung zur Alp Trida links wurde das Gelände alpiner. Wunderschöne grüne Hänge strebten zu den verschiedenen Punkten des Piz Urezza, des Mutt bis zum Munt da Cherns hinan, und ihre Besteigung schien von hier aus mühelos zu sein; man entdeckte keine Schutthalden. Ob der Unteren Alp sah man hinüber zur Alp Trida. Der Weg dorthin war weniger einladend: Das Gelände war von der Unteren Alp an mit Felsblöcken und Geschiebe überstreut. Auf einem schmalen Grasweg zwischen einzelnen, hübsch mit Blumen geschmückten Klötzen gelangten wir, nördlich ansteigend, durch ein engeres Tor des Baches, vorbei an einer Gruppe arbeitender Älpler und ihrem scharfen Appenzeller Hund zur Obern Alp, in die riesige Mulde der Alp Bella. Sie war im Norden und Osten von den Grenzbergen umschlossen, vom Grübelekopf an bis hinüber zum Bürkelkopf.

Im Gegensatz zum Val Sampuoir, wo wir keinen einzigen Menschen antrafen, hatten wir hier im Alpbachtal reichlich Gelegenheit, mit den Sennen und ihren Frauen und Kindern uns zu unterhalten. Trotz ihres Arbeitseifers gaben sie recht freundlich und gemütlich Red und Antwort, gestützt auf Gabel oder Sense. Nur der weniger freundliche Hund fletschte jeweils die Zähne, gab sich dann auf einen Wink des Meisters zufrieden und schnüffelte, misstrauisch forschend, an meinen Hosen herum. Diese Leute sprachen den singenden Samnauner Dialekt, waren also Einheimische, was hier besonders erwähnt sei! Der Blumenreichtum in der Obern Alp war gross, in den untern Matten war alles abgemäht.

Hübsch ist auch der Weg, der ob der Autostrasse über Wiesengelände von Raveisch hinüber ins Val Schischenader führt. Man überquert erst den Bach und gelangt etwas höher oben auf den Bergpfad von Plan her. Auch hier fallen uns die schönen Alpweiden und Grasbuckel auf, die besonders rechts weit zum Munschuns hinaufsteigen. Zerstreut stehen runde Heutürme, Ersatz für Heuschober. Das Tal ist still und einsam, und Wolkenschatten stempeln ihm tiefen Ernst auf. Grüner, weicher Rasen bis weit hinauf, wo der Bach, ähnlich der Raveischa, aus Felsen sich heraus-zwängt, und rechts der schmale Pfad zur Planer Salas aufklettert.

Das Zanderstal mit dem Malfragtal versparten wir uns auf den nächsten Sommer Das nicht sehr günstige Wetter zwang uns zu mancher Programmverkürzung. Wir überschritten es nur bei seinem untersten Abschnitt auf unserer Flohhaxenwanderung nach Spiss.

9 Die Alpen - 1959 - Les Alpes129 Die Witterungsverhältnisse im Samnaun werden oft fälschlicherweise mit denen in den Walliser Seitentälern verglichen. Unsere Erfahrung bestätigte dies keinesfalls. Wir verglichen täglich die Wetterberichte aus dem Wallis und Unterengadin mit den unsern, fast immer zu unsern Ungunsten. Hier war das Wetter viel unbeständiger, unberechenbarer und kühler als z.B. in Almagell. Tagelang zogen von Westen oder Nordwesten Wolkenmassen übers Tal, luden gelegentlich ihre Last ab und frassen die blauen Streifen auf. Dabei kühlte sich die Luft so sehr ab, dass sogar für einige Tage alle Pize und Köpfe bis auf zweitausend Meter herab eine Neuschneekappe sich überzogen und der Muttler mehr einem Skigebiet glich. Ebenso rasch aber verschwand die weisse Hülle wieder, wenn die Sonne einen Tag lang recht warm schien.

Ausklang Nach vier Wochen fuhren wir mit vielen Gästen und einem leisen Bedauern im Herzen, aber reichbeladen mit schönen Bergerlebnissen und Zukunftshoffnungen talabwärts ins Engadin und über die Albula nach Hause. Wenn ich rückblickend mir alles nochmals überschaue, drängt sich mir der Gedanke auf: Das Samnaun wäre ein ideales Besuchs- und Feriengebiet für Senioren des SAC, die nicht mehr an strenge Kletterpartien und Besteigungen denken können, aber dennoch nicht auf Bergfreuden verzichten wollen und müssen. Die meisten Gipfel und alle Täler und Alpen, recht lohnend, sind auch für bemooste Häupter unter den bergbegeisterten Clubkameraden erreichbar. Auch Kletterer älteren Datums finden am Piz Mondin, an der Stammerspitze, am Piz Vadret und auch am Bürkelkopf und Vesulspitz Gelegenheit genug, Kraft und Geschicklichkeit unter Beweis zu stellen, während verbrauchtere Bergfreunde reichlich Aussichten für alpine Wanderungen und leichte Besteigungen haben.

Allerdings möchte ich hier noch einen Wunsch anbringen. Das ganze, doch ziemlich grosse Gebiet besitzt ausser der etwas abseits liegenden Heidelbergerhütte keine einzige Clubhütte. Das Gasthaus auf der Alp Trida kommt darum nicht in Betracht, weil der eigenwillige Besitzer ( es soll ein Tscheche seinüber den Sommer ungastlicherweise seine Gaststätte geschlossen hält. Und gerade das Gebiet der grossen Alpen Trida und Bella sollte für einfache Bergsteiger als Ziel und Ausgangspunkt eine Hütte aufweisen für die Besteigung der Grenzköpfe - etwa im westlichen Teil der Alp Bella oder bei den Seelein am Südfusse des Bürkelkopfes. Dann im südlichen Samnaun etwa beim Muttler, als Ausgangspunkt für Mondin, Stammerspitze usw. Von Süden her ist wohl durch Zuort und Schieins für Zugänge gesorgt, aber nicht von Norden her aus dem Haupttal selbst.

Wenn mancher Bergfreund dieses abseits liegende, aber gerade darum einzigartige Bergparadies aufsuchen und miterleben wird, ist der Zweck dieses Berichtes erfüllt.

Oktober 1958.

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