Ein unfreiwilliges Biwak
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Ein unfreiwilliges Biwak

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Hans Brändli.

An einem Sonntagmorgen strahlte wundervolles Licht über Tal und Berg. WohinMax wollte nichts Besonderes unternehmen, ich hingegen dachte: einen solchen Tag soll man besser nutzen. Endlich entschlossen wir uns für das Balmhorn und stiegen im Nachmittag hinauf zur Wildelsigenhütte.

In der Sonntagfrühe um 130 Uhr war allgemeiner Aufbruch. Bis zum Frühstückplatz stiegen wir ohne Unterbruch bei Laternenschein hinan, wir zwei, froh, dass wir uns an eine vorausgehende Partie halten konnten; wir hätten sonst gewiss einige Zeit verloren, obwohl ich am Vorabend das mir unbekannte Gelände ein wenig studiert hatte.

In der Dämmerung querten wir hinüber zu dem Punkte, wo der Einstieg in die Wildelsigenrinne beginnt. Bis oberhalb des Einstieges folgten wir den Vorankletternden, dann aber war es des durch sie verursachten Steinschlages wegen nicht mehr möglich. Wir mussten deshalb an einer einigermassen geschützten Stelle warten, bis sie vollständig oben waren und wir keine Steine mehr zu gewärtigen hatten. Das dauerte fast zwei Stunden.

Es kollerten viele Steine herunter, und die Stufen, die ins Eis gehauen worden, waren so unverantwortlich klein, dass wir beide uns des Gefühls, der Führer wolle uns eine ganz besondere Freude bereiten, nicht erwehren konnten. Wie menschlich wäre doch das!

Die nähere Betrachtung der Rinne und der Kletterer darin flössten meinem Freund Max nicht das grösste Vertrauen ein. Auch die vorgerückte Zeit und der Ärger stimmten ihn ein wenig um.

Langsam kamen wir indessen vorwärts. In aller Behutsamkeit machten wir Schritt um Schritt. Einmal angefangen, musste die Fahrt durchgehalten werden. Meine eigene Sicherheit und die wiederholte Versicherung, dass mit der Überwindung dieses Couloirs der schwierigste Teil der Aufgabe erledigt sei, vermochten Max einigen Mut zu spenden. An eine Umkehr dachte ich nicht im entferntesten, und auch meine Eisstufen bewiesen das; sie waren möglichst weit voneinander ( wir haben beide lange Beine ) und gerade so gross, als es erforderlich schien, auf keinen Fall aber für einen Abstieg berechnet. Ich selber dachte: Es ist gut, dass wir diesen Weg im Aufstieg und nicht im Abstieg machen müssen. Doch, was ich nicht dachte, das sollte noch werden!

Als wir endlich nach vielen Mühen oben anlangten, trat ein, was ich befürchtet hatte. Mein Freund erklärte mir, nachdem er sich nachlässig auf einen Stein niedergelassen hatte, er gehe keinen Schritt mehr von dieser Stelle, weder vorwärts noch rückwärts, ich solle sofort allein hinuntergehen nach Kandersteg und Mannschaft holen, er wolle hier oben warten. Diese unerwartete Eröffnung überraschte mich denn doch etwas, wenngleich ich sie vorerst nicht so sehr tragisch nahm. Immerhin musste ich mich wirklich davon überzeugen, dass mein guter Freund ganz unbegreiflicherweise körperlich und vor allen Dingen seelisch vollständig erschöpft war. Was tun? Ich hiess ihn vorerst ein wenig schlafen und stellte ihm für nachher einen guten Tee mit Wurst, Ei, Brot und Kognak in Aussicht. Ohne Zögern befolgte er meinen Rat. Ich hatte nun Zeit, mir die Zukunft ein wenig zu überlegen.

Die Lage war natürlich nicht gerade ermunternd. Doch schnell war mir klar, dass ich Max nicht da oben lassen könne. Die vorangegangene Partie war ausser Ruf- und Signalnähe; sie war verschwunden. Also von ihr war nichts mehr zu erwarten. Wir waren auf uns selbst angewiesen. Es war nun mittlerweile schon 1130 Uhr geworden. Nebelschwaden ballten sich zusammen. Bald waren auch wir im Nebel, und jede Beurteilung des Wetters war ausgeschlossen. Somit musste ich den schlimmsten Fall annehmen, nämlich Wind und Schneefall. An ein Freilager hier oben war gar nicht zu denken. Es gab nur eines: sobald als möglich hinunter, um wenigstens noch vor Nachteinbruch den Frühstückplatz wieder zu erreichen, von wo aus der weitere Abstieg dann auf alle Fälle gelingen musste. Und zwar musste dies unbedingt geschehen. Wir hatten nur die notwendigsten Lebensmittel bei uns, und Max konnte ich auf keinen Fall sich selbst überlassen. Wäre er oben geblieben und wären Kälte und Schneefall eingetreten, so würde er mit Sicherheit der Kälte erlegen sein. Und auch die Arbeit einer Rettungsmannschaft wäre bei Neuschnee diesen Weg hinauf eine sehr schwierige geworden. Wir mussten den Rückweg beginnen.

Ich weckte Max und lud ihn zum Essen ein, erzählte ihm von Berggeschichten mit unliebsamen Zwischenfällen und versuchte, ihn auf alle Arten zu heben. Er aber wollte nicht so recht davon hören, weil er wohl meine Ab- sieht witterte. Ich eröffnete ihm alle meine Gedanken, und nach einigen wohlgemeinten Flüchen begannen wir 1230 Uhr den Abstieg.

Dieser verlangte das Höchstmass an Vorsicht. Meiner alleinigen Verantwortung war ich mir völlig bewusst; ich war der Anstifter zu dieser Bergfahrt. Bei einem Unglück wäre die Schuld auf meine Schultern allein gefallen. Dieses Bewusstsein nagte an meiner moralischen Festigkeit, aber die unabwendbaren Tatsachen vor Augen überwand ich seine entmutigende Wirkung, um mit um so festerem Vertrauen die nun folgende schwere Arbeit in Angriff zu nehmen.

Zuerst wickelte sich alles zu unserer Zufriedenheit ab. Unangenehm wurde die immer dichter werdende Bewölkung und Vernebelung, und die vormittags gehauenen Stufen waren völlig unbrauchbar geworden. Nach einiger Zeit wurde die Geschichte ernster. Das steile obere Rinnenstück war mit glattem Grundeis gefüllt, und die Seitenwände boten wenige, teilweise gar keine Stellen für genügende Seilsicherung. Auch gute und bequeme Griffe sind dort nur spärlich vorhanden. Max war unfähig, eine Stufe zu schlagen; er musste sich immer, wenn möglich mit beiden Händen, am Fels halten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. So war ich denn wohl oder übel gezwungen, zur Eissicherung zu greifen. Eine Eisrinne wurde ausgepickelt, ein Seilring darein gelegt, und Max daran angebunden. Ich selbst, auch daran gesichert, musste dann für mich einige Stufen schlagen, dann für Max Aus-weichestufen. Daraufhin konnte ich wieder hinauf zur Ausweichestelle steigen und Max, so weit das Seil reichte, hinunterlassen. Dann wurde bei Max wieder eine neue solche Eissicherung gebaut, wieder schlug ich Stufen für mich und für Max, und so geschah es etliche Male. Ein zeitraubender Gang! Als endlich die steilste Stelle zurückgelegt war und wir wieder im Fels steigen konnten, war der Nebel schon so dicht, dass wir nur einige Meter vor uns her etwas erkennen konnten. Auch war die Zeit ganz bedenklich vorgerückt; die Uhr zeigte schon gegen die siebente Abendstunde, und es begann zu dämmern. Ich knüpfte den guten Max an einen Stein und versuchte allein, ohne Seil, den Ausstieg zu finden. Ziemlich weit stieg ich hinunter, doch fand ich den Ausstieg aus der Rinne nicht mehr. Auch dünkte es mich, ich sei doch sicherlich schon zu weit unten. Die einbrechende Dunkelheit und der immer dichtere Nebel zwangen mich unverrichteter Dinge zu Max zurück.

Nun gab es nichts anderes mehr, als hier oben zu übernachten, komme was da wolle. Auf einem kleinen Felsvorsprung, dessen Rücken stark geneigt war, liessen wir uns häuslich nieder. Wir konnten leidlich sitzen. Von Liegen und Sichsichern war keine Rede. Somit waren wir dazu verdammt, die ganze Nacht hindurch uns durch Sprechen und Boxen wach und warm zu halten. Heisser Tee tat uns wohl. Ungeheuer träge schlichen die Stunden dahin, und rabenschwarz war die Nacht. Ein leichter Windzug strich an uns vorüber; es war ein guter Wind.

Etwa um 1 Uhr morgens entdeckte ich voller Freude einen Stern. Dann noch einen, einen dritten, vierten. Es begann aufzuhellen. Welches Glück für uns! Nun wusste ich zuversichtlich, dass wir endgültig gerettet waren, denn der weitere Abstieg musste, am Masstab von gestern gemessen, unbedingt ohne Zwischenfall möglich sein. Nach etwa zwei Stunden war der Himmel sternenklar.

Einen unvergleichlichen Sonnenaufgang durften wir erleben, eine Morgendämmerung von unbeschreiblicher Erhabenheit.

Nun aber packten wir zusammen und begannen mit halbsteifen Gliedern den Abstieg, denn Max wollte nichts mehr von einem neuen Angriff auf das Balmhorn wissen. Voller Zutrauen zu uns selbst, verloren wir rasch an Höhe und fanden auch mit Leichtigkeit den Weg zu unserem Frühstückplatz von gestern. Von hier gelangten wir ohne Seil und Schwierigkeiten gemächlich zur Hütte und ins Tal. Als wir unten im Gasterntal den Fuss wieder auf ebenes Land setzen konnten, war mein Max trotz seiner grossen Ermüdung wieder glückstrahlend.

Eine Lehre aus dieser Bergfahrt habe ich mir gezogen. Ich brauche sie dir, lieber Leser, nicht erst zu sagen, aber mein Leben lang werde ich sie nie vergessen!

Feedback