Eine Heklabesteigung
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Eine Heklabesteigung

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Otto Zumstein

( Basel ) Bergsteigen ist in Island keine einfache Angelegenheit. Die Distanzen sind gross, die Verbindungen selten, Wege und Stege darf man nicht mit mitteleuropäischem Maßstab bewerten. Kurz, vieles ist anders als bei uns.

Das alles wussten wir wohl. Doch wir fünf Grönlandschweizer wollten nun einmal unsere unfreiwillige Wartefrist1 in Island angenehm verkürzen und uns durch einige rechte Touren ins Innere der vulkanischen Insel in guter Form behalten. Dann aber lockte uns auch der Zauber des Namens. Wir wussten um den berühmten Ausbruch des Jahres 1947 und wollten - urschweizerischem Drange folgend - uns die Dinge einmal von oben und aus der Nähe besehen.

Schon als wir zu fünft an einem wolkenlosen Julisamstag in voller Bergausrüstung in Reykjavik auf unseren hochbeinigen Bus warteten, erregten wir besonders bei der Jungmannschaft ordentliches Aufsehen. Wir hatten es zwar längst aufgegeben, den mitleidigen Blicken auszuweichen, und ertrugen das neugierige Augenzwinkern der Jungen und Mädchen mit stoischem Gleichmut.

Gute vier Stunden dauerte die Fahrt, die uns über Reykir und Skard an den Fuss des Hekla brachte. Die Wege sind holprig und staubig, und oft zieht der Chauffeur seine Spur ganz einfach durch einen Flusslauf. Aber ganz nahe sahen wir jetzt unseren Berg. Vorerst hatten wir ihn eigentlich nur geahnt, je näher wir aber kamen, desto mehr beherrschte er die Landschaft, und friedlich blies er seine Rauchfahne in den Abendhimmel hinein.

Schliesslich fand unsere Fahrt an einem Flusslauf ein plötzliches Ende. Mit allerlei Ge-zeiges und der ganzen Kunst unserer Fingersprache verständigten wir uns mit dem blonden 1 Die NE-Grönlandexpedition Dr. Lauge Kochs wurde im Juli 1952 durch ungewöhnliche Eisverhältnisse in den Fjorden Grönlands während 14 Tagen in Reykjavik festgehalten.

Chauffeur, und er versprach, uns morgen zur selben Stunde und am selben Orte wieder abzuholen.

Da standen wir also!

Als wir uns gerade anschickten, den Fluss zu durchwaten, sandte uns ein gütiger Himmel einen Isländer mit einem Jeep, der ungefragt unsere Siebensachen auf dem Dache und dem Kühler seines Gefährtes verstaute, uns in verschiedenen Fahrten übersetzte, kein Trinkgeld und keinen Dank annahm und erklärte, es sei schon alles in Ordnung und verschwand, wie er gekommen war.

Nach diesem guten Anfang marschierten wir los - immer der Rauchfahne zu, denn mittlerweile war es « Abend » geworden.

Wegen des Dunkelwerdens brauchten wir uns ja nicht zu sorgen, denn es wird im Juli in diesen nördlichen Breitengraden nie Nacht, nur die Helligkeit des Tageslichtes lässt nach und macht einer leichten Dämmerung Platz. Wir waren aber doch froh, als wir ein einsames Bauernhaus fanden, wo wir für einige kurze Stunden unterkommen konnten.

Seltsam, dass es hell war, als wir kurz nach Mitternacht aufbrachen. Wir genossen die Einsamkeit, die Weite und die Stille und freuten uns schon auf unsern Gipfel.

Über Grasweiden und Geröll, einer schmalen Ponyspur folgend, schritten wir bergan, und es dauerte gar nicht allzu lange, bis wir zum ersten Male die grossmächtigen, erkalteten Lavaströme betraten. Sie sollten uns für Stunden nicht mehr freigeben. Es war überaus schwierig, die Richtung einzuhalten, denn der grosse Ausbruch hatte die Landschaft von Grund aus umgeformt. Und wie langsam wir nur vorwärts kamen! Manchmal hatten wir das Gefühl, wir befänden uns auf einem riesigen verschrundeten Gletscher, fänden keinen Ausweg und keine Richtung - mit dem Unterschied nur, dass hier alle Materie schwarz, spitz und von schneidender Schärfe war.

Wie atmeten wir auf, als wir gegen 11 Uhr doch aus unserem Labyrinth hinauskamen und den eigentlichen Kraterrand in Angriff nehmen konnten. Aber auch hier war das Vorankommen nicht weniger leicht. Der weiche Boden und der lose Sand gaben uns wacker zu schaffen. Nebenkrater, denen heisser Dampf entströmte, fanden wir zur Linken und zur Rechten, und rötlich und gelblich färbte sich die Erdoberfläche in unserer Umgebung. Als wir endlich oben auf dem Kraterrande standen, hatte sich der Himmel mit einem grauen Schleier überzogen, und es hielt schwer, die mächtige Rauchfahne unseres Vulkans vom dichten Nebel zu unterscheiden, der bald alles einhüllte. Unverzagt kämpften wir uns auf dem scharfen Rande weiter. Nie werden wir den Anblick vergessen, der sich dort oben unsern Augen darbot. Eine eigentliche Höllenvision war es. Von links aus dem Krater dampfte, brodelte und zischte es wie aus Urweltstiefen herauf, rechts verlor sich der Absturz im weissen Nebel im Unendlichen, und mittendurch arbeiteten wir uns auf der schmalen Kante weiter.

Wie nun der Dampf und der Schleier sich für eine kurze Weile hoben, erspähten wir in einiger Entfernung den Gipfel. Dass wir dann aber genarrt waren und nicht den Hauptgipfel bezwungen hatten, was tat uns das! In einer kurzen Stunde weiter stapften wir über Eis- und Schneehänge hinauf, bis es wirklich nicht mehr aufwärts ging.

Als die Hänge dann im weissen Gischt auf allen Seiten sich senkten, stellten wir bewegt fest, dass wir auf dem Gipfel standen. Aber auf die Gipfelrundsicht mussten wir leider verzichten, und aus der beglückenden Gipfelstunde wurde nichts. Als wir uns durchfroren die Hände reichten, waren wir aber dennoch mächtig stolz, dass wir Islands berühmtesten Vulkan bezwungen hatten.

Auf demselben Wege, den wir zum Aufstieg wählten, kehrten wir auch wieder zurück. Erst eine Stunde unterhalb des Gipfels traten wir aus dem Nebel heraus. Den höchsten Punkt konnten wir während des ganzen Sonntags nicht mehr erspähen. Es schien uns, als ob der Hekla, ob der Eindringlinge erbittert, sein Haupt uns absichtlich verhüllt hätte.

Es waren noch etliche Orientierungsschwierigkeiten zu bestehen, bis wir unsern einsamen Hof wieder fanden, wo wir die « helle Nacht » verbracht hatten. Mit Bestürzung stellten wir dort auch fest, dass wir längst bei unserm Autobus am Fluss sein sollten. So setzte es dann noch einen guten Eilmarsch ab und ganz am Schluss, als Krönung, die währschafte Flussüber-querung, die uns gestern erspart geblieben und die wir später in Grönland tagtäglich üben konnten. Doch das Rezept ist: Schuhe, Socken und Hosen auf dem Rucksack verpackt, Pickel in die Hand und hinein in das Vergnügen! Am Anfang prickelt es, dann läuft es einem kalt und kälter die Beine und den Körper hinauf; schliesslich aber gewöhnt man sich an alles und fügt sich ins Schicksal und bezwingt jeden Fluss!

Jenseits des Ufers hatte uns der isländische Chauffeur längst erspäht. Die gut einstündige Verspätung seines Kurses nahm er ruhig in Kauf, ja er lud uns gar noch zu einem Kaffee ein, als wir bei seinem Weiler durchfuhren, und so wurden aus der einen Stunde gar deren zwei! Er holte zwar auf der Rückfahrt nach Reykjavik alles aus seinem Ford heraus, und keiner der Fahrgäste beklagte sich nachher wegen Nichteinhaltens des Fahrplanes. « Es gibt nichts so viel wie Zeit, es gibt immer wieder neue », sagt man unter solchen Umständen auch in Island.

Wir kamen nach unserer 15stündigen Heklatour frohgelaunt, müde und mit zerschlissenen Händen wieder in der Hauptstadt an. Wir freuten uns unseres Erfolges - in Gedanken jedoch waren wir bereits jenseits der Nordsee in Grönland, wo neue alpinistische Taten auf uns warteten.

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