Eine Nacht auf dem Weisshorngrat
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Eine Nacht auf dem Weisshorngrat

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

H. R. Schweizer, Liestal

Die Luft schien dünn und durchsichtiger als sonst, als wir noch vor Tagesanbruch die Weisshornhütte verliessen. Die gewaltigen Räume unter uns waren von schwachem Mondlicht erfüllt, die Gestalten der Berge erschienen hell und zart, aber allzu schwerelos, unangreifbar, schwindelerregend. Die Vorbereitungen in der Hütte waren in ein lastendes, beinahe starres Schweigen gehüllt gewesen; keiner hatte gewagt, die dumpfe Stille zu durchbrechen. Nun schritten wir eigentümlich gespannt und fast hastig zum Gletscher hinauf, unsere Tritte mit dem seltsam verlegenen Licht, das man mit sich führt, beleuchtend. Das Weisshorn war neu für uns; dafür zahlt man mit zusätzlicher Spannung. In der Gletschermulde oben fühlten wir uns bereits sicherer, da über dem dunklen, gezackten Kamm der Domgruppe das Licht des Tages allmählich emporwuchs. Die Realität der felsigen Umrisse erschien uns jetzt glaubhafter als in der geisterhaften Mondnacht. Eine steile, tiefe Rinne, dann eine verschneite Rippe führten auf den gewaltigen Rücken des Ostgrates empor. Da blitzte auch schon die Sonne auf zwischen den Zacken: Es musste ein grosser, freier Tag werden. Erst dort, wo man den Grat er- reicht, am Frühstücksplatz, hielten wir an. Die Felsen waren freundlich erhellt, und über dem kurzen Felsgrat leuchteten die Eisbrüche der Ostflanke und der steile Gipfelaufbau, wo stets - man sieht es von überall her - das erste Licht einfällt. Über die eisige Nordflanke des Grates und dessen in reinem Weiss leuchtenden Vorbau sahen wir durch webende Strahlen zu dem Dorf Randa hinab, das, fast 3000 Meter tiefer, aber unmittelbar am Fuss unseres Berges noch schlafend auf Matten zerstreut erschien. Weit im Norden schwammen feuchte Wolken auf dem Morgendunst, und unter ihnen ragten, tief beschattet, einige Berner Gipfel heraus. Im Süden hatte das klare Licht die starre, zerfurchte Gletscherwelt vor dem kantigen Bau des Matterhorns zu plastischen, fein modellierten Formen erweckt.

Doch wir wollten oben ankommen, solange diese Räume und Gestalten noch vom Morgenlicht erfüllt waren. Der verschneite Grat nahm die ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Die Tritte waren zwar gesetzt, aber oft glitt der Blick am Fuss vorbei in zwei jagende Abgründe. Über den Felsen setzte ein scharfer Schneegrat an; er führte mit zunehmender Steilheit zur Spitze, nur durch eine kleine Schulter unterbrochen, den einzigen Ruhepunkt des ganzen Aufstiegs. Jetzt beschränkte sich das Gespräch auf das Allernötigste, denn zwei Atemzüge reichten kaum aus für einen Schritt. Bald waren wir so ins Schrittfassen und ins Atemholen vertieft, dass die Wolke unserer Aufmerksamkeit entging, die den Gipfel einzuhüllen begann. Auf einmal war der silberne Bau verschleiert, ohne dass wir so recht darauf achteten. Angestrengt arbeiteten wir uns den letzten Steilaufschwung empor - und standen unvermittelt auf dem Gipfel, wurden uns dessen aber kaum bewusst, denn ein heftiger Wind zerrte an der Wolke, die, sich erneuernd, über uns weg-strich; er brachte - das war bald zu erkennen -immer neue Wolkenzüge von Südwesten her. Bald drohten diese mit düsterem Grau, bald liessen sie das harte Mittagslicht wieder frei. Schatten und gleissende Flächen regten sich weit unten in dem Gletscherchor; auch bei uns glitt Welle auf Welle über blendendes Eis und pulvrige Schneehänge. Wir liessen uns anregen durch das gewaltige Spiel, das so anders als erwartet den Morgen abgelöst hatte. Und so entschlossen wir uns, auf dem langem, schwierigem, noch unge-spurten Nordgrat abzusteigen. Die Wetterlage gab zu keinen Bedenken Anlass, und der Weg führte noch stundenlang über 4000 Meter zu dem als selbständiges Ziel lockenden Bishorn hinüber. Eine Aufhellung erleichterte den Entschluss; so wurden die ersten Schritte im weichen Pulverschnee unwiderruflich gefasst. Es war eine besondere Freude, eine neue Spur in den reichgewell-ten Kamm zu treten. Doch da jagte der Wind wiederum Wolken heran, und auf einem schmalen, verschneiten Felsrücken wurde uns die Ausgesetztheit der Route bewusst. Jeder Schritt musste nun wieder überwacht werden, und das Gespräch galt nur noch dem richtigen Weg. Eine nachdenkliche Rast am grossen Gendarm war der Rückschau gewidmet: Der Gipfelaufschwung und die scharf geschnittene, aber durch die pulvrige Oberfläche gemilderte Gratkante erschienen jetzt von Wolkendampf umspielt. Freundlicher Glanz lag auch auf den halbver-schleierten Nachbarn des Weisshorns. Aber es wurde uns klar, dass uns der Schnee, der unsern Berg so frisch erstrahlen liess, allzu lange aufgehalten hatte. Ohne davon zu sprechen, dachten wir an die Schwierigkeiten, die uns erwarteten. Dass die 60-Meter-Reepschnur für den Abbruch unter dem Gendarm reichen würde, hatte uns der Hüttenwart bestätigt. Doch wie wird es weiter unten aussehen? Solche Gedanken pflegen meist keine klare Gestalt anzunehmen, sie werden vielmehr von konkreten Aufgaben verscheucht; aber es bleibt doch ein unbestimmtes Gefühl wach, nämlich, dass es durchzukommen gelte.

Auf dem Felskamm packte uns wieder der Wind, und zugleich eröffnete sich eine Aussicht, die alles übertraf, was wir erwartet hatten: ein Gewirr von Türmen über senkrechten Wänden und irgendwo vor uns der Absturz, der am Dop- pelseil überwunden werden musste. Noch strahlte die Sonne durch bräunliche, rauchige Wolken, aber der Wind fand die Kraft zu immer neuen Stössen. Wir duckten uns nieder und suchten, dem Wind abgewandt, die Abseilstelle. Nachdem der Blick schon einige Male ins Leere geglitten war, sahen wir einen Haken stecken. Hier musste es sein, die ersten Meter jedenfalls überhängend, aber wenigstens im Windschatten. Wir warfen das Seil aus, das wir in der Hütte nochmals sorgfältig in Schlingen gelegt hatten. Es flog gut; aber es berührt immer seltsam, wenn man etwas in den Abgrund wirft, in den man steigen will. Aus dem Rucken und Gleiten des Sicherungsseiles machte ich mir ein Bild von den Schritten des Freundes. Bald kam sein Kommentar: « Ein Absatz; ich bin schon unten. » Als wir beide auf diesem Absatz standen und die Wand zu überblicken versuchten, sahen wir den Abgrund kaum mehr. Aber das grössere Stück stand uns noch bevor. Wieder glitt das Seil durch die Hand; doch da lief es plötzlich zu rasch, und ich hörte ein paar ärgerliche Worte und ein unterdrücktes Stöhnen. Gleichzeitig versuchte ich weich zu bremsen. Mein Freund hatte den Abstieg ein wenig forciert, war in die Fallirne zurückgedreht worden und hatte den Fuss angeschlagen. Wir sprachen nicht viel darüber, kletterten behutsam in die Scharte unter dem Abbruch hinüber. Wie leicht schlägt man irgendwo an, besonders wenn man so durchfroren ist.

Wieder zog der Anblick des Grates die Aufmerksamkeit auf sich. Die Felsen in der glatten, schneefreien Westwand waren jetzt von den letzten Strahlen gerötet, die zwei letzten, schwierigen Aufschwünge schienen greifbar nahe, und tief unter uns glänzte das gewundene Band eines Baches herauf; gleichzeitig vernahmen wir auch wieder ein sanftes Rauschen. Noch langsamer als vorher setzten wir unsere Schritte; Türme, Scharten, schneebedeckte Platten stellten meinen Freund auf eine harte Probe. Die konzentrierte Aufmerksamkeit, die jedem Griff und jedem Tritt galt, liess den stechenden Schmerz zurücktreten, aber der Einbruch der Dämmerung bewies, dass wir instinktiv langsamer und vorsichtiger kletterten als sonst. Endlich standen wir in einer Felsnische unter dem Überhang, der knapp vor dem Ausstieg aus dem Felsgrat noch zu überwinden ist. Ich tastete mich ein Stück weit hinauf: Es war wirklich die schwierigste Stelle des ganzen Abstiegs. Zugleich spürte ich die 16 Stunden, die wir hinter uns hatten, und es wurde mir bewusst, dass die Nacht schon hereingebrochen war. Was man bis zuletzt aus seinen Gedanken verdrängt, was man vielleicht unbewusst beiseite schiebt, war jetzt klar: An dieser Stelle, also auf etwa 4200 Metern Höhe, musste der Morgen abgewartet werden!

Es war Platz zum Sitzen da, knapp unter der Kante, hinter der der Wind noch immer heulte. Ist es nicht eine schöne, erregende Vorstellung, eine Nacht so hoch oben unter freiem Himmel zuzubringen; ist es nicht eine Möglichkeit einzigartiger Bewährung? Solch befreiende Gedanken schoben die Frage beiseite, wie man ohne Schlafsack und Biwakmaterial durchhalten werde. Und bevor weitere Überlegungen den Entschluss ins Wanken bringen konnten, begannen wir eine lebhafte Tätigkeit zu entfalten: Eis wegpickeln, eine Unterlage legen, um jede Nässe abzuhalten, eine Sicherung herstellen ( der Haken war schon da ), möglichst viel essen, den Inhalt der Rucksäcke an einen sichern Ort bringen, Zeitungen und alles Papierartige unter die Windjacke stopfen, die nassen Schuhe ausziehen, um die Füsse in den Rucksack zu stecken.Jetzt erst wurden wir wieder auf die Verletzung aufmerksam. Der Knöchel war blau angeschwollen. Ein möglichst eng anliegender Verband mochte da helfen. Mit aller Sorgfalt legte ich die Binde an, aber wir dachten an nichts Ernsthafteres, auch nicht daran, wie der Fuss auf die Anforderungen des nächsten Tages reagieren würde. Unsere Aufmerksamkeit galt jetzt der Nacht, in die wir dicht eingehüllt schienen, die offenbar wieder von ziehenden Wolken erfüllt war. Doch blinkten einzelne Sterne auf, und da glitt auch schon lautlos eine Stern- i64 schnuppe herab. Dass die Nacht lange dauern würde, darauf waren wir gefasst; um so weniger war zu begreifen, dass wir zwar den bestimmten Eindruck hatten, die Kälte lasse uns nicht schlafen, dass aber jedesmal, wenn wir uns wieder verständigten und natürlicherweise auf die Uhr schauten, die Zwischenzeiten merkwürdig rasch vergangen waren. Zu jedem « Erwachen » gehörte die Gewissheit, dass der Wind nicht nachgelassen hatte, und doch glaubte ich im Dämmerzustand des Halbschlafs, er weiche dem fernen Tosen der Bäche im Tal. Noch immer trieben Wolken über den Kamm, auf dem wir sassen. Etwas scheu blickten wir stets wieder zu den wenigen Sternen empor, wenn wir uns regen mussten, um uns besser gegen die Kälte zu schützen. Wir sprachen wohl auch von den einfachen, ganz unfassbaren Vorgängen über uns und fragten uns, was für ein Tag sich aus dieser von rastloser Bewegung erfüllten Nacht entwickeln werde. Doch der anbrechende Morgen nahm solchen Gedanken die Schwere, wie denn das neue Licht auch sonst allein schon Hoffnung weckt. Die Wolkendecke im Osten, die weiträumig auf- und nie-derwogte, liess nun zeitweise den Horizont sichtbar werden. Die Sonne musste schon irgendwo aufgegangen sein, denn rötliche Schimmer drangen zu der starren, verschleierten Flanke unseres Berges herüber. Wir griffen nach den Schuhen, doch sie waren hart gefroren: ein neuer, unvorhergesehener Widerstand. Es war offenbar kälter gewesen, als wir gedacht hatten. So geschieht es vielleicht oft in solchen Lagen, Schritt für Schritt: Man bleibt immer ein wenig ahnungslos, bis alle Hindernisse zusammen den Kreis enger schliessen und man gefangen sitzt.

Da trat die Sonne als rotgelbe Scheibe aus der Wolkenbrandung hervor. Ihr Licht war nicht morgendlich frisch, sondern wie von Feuchtigkeit durchtränkt; fahl und kraftlos spiegelte es sich am Gletscherhang. Jetzt aber wollten wir uns aufmachen, bevor das Schlechtwetterzeichen ernst machen konnte. Doch aus trüben Erwartungen erlöste uns unvermittelt die Gewissheit, dass der Morgen mit seiner ganzen Frische über das Wolkengewühl siegen werde. Unaufhaltsam begann sich die Welt um uns zu verwandeln: Die Nebel, die eben noch den Fels mit Rauhreif überzogen hatten, erschienen jetzt nur noch als Reste, die das klare, klingende Licht nur noch zu trüben, aber nicht mehr abzuhalten vermochten. Blendend weiss trat der Firn hervor, und die Wolke, die noch immer, aber ohne Hoffnung am Gipfel hing, hatte wieder eine klar umrissene Gestalt vor dem reinen Blau des Himmels angenommen.

Jetzt griffen wir zu: Wir traten und bogen die Schuhe weich; eine Stärkung gehörte zur Pflicht, obgleich uns das Wasser ausgegangen war, und während mein Freund die Siebensachen zusammenpackte, stieg ich hinauf, entschlossen, den Überhang im ersten Anlauf zu nehmen. Freilich war zuerst jeder Tritt zu prüfen. Man müsse mit dem richtigen Fuss anfangen, hatte der Hüttenwart bedeutungsvoll gesagt. Also zuerst mit den Augen klettern: Welchen Fuss zuerst in den Riss; wo sind weiter oben die entscheidenden Griffe? Als ich die Lösung zu haben glaubte, packte ich zu und gelangte ohne Anstrengung und schneller als erwartet hinauf. Allerdings konnte mein Freund noch kaum auf dem verletzten Fuss stehen. Wie zu erwarten war, fiel ihm das Gehen schwerer als am Vorabend. Aber jetzt war alles erlaubt: Kriechen, Rutschen und hie und da ein kurzer Seilzug. Ein senkrechter Aufschwung erhob sich noch vor uns, doch war er leicht zu ersteigen, und Schritt für Schritt kam auch mein Freund nach. Auf diesem letzten Turm setzten wir uns hin und blickten zurück: Was für ein Weg lag hinter uns! Scharf und ausgesetzt schwingt sich dieser Grat, über den grossen Gendarm ausholend, zum Gipfel auf. Wie am Vortag glänzte und strahlte das Silber der Ostflanke, in deren Eisgebilde wir nun auch von der andern Seite hineinschauen konnten. Die ganze westliche Wand dagegen lag noch im Schatten. Dazwischen lief die Scheidelinie genau dem gezackten Kamm entlang: Es gab keine Unklarheit, kein Ausweichen schien möglich. Dieser Linie hatten wir folgen müssen.

Es war jetzt etwa 8 Uhr. Auf dem Bishorn drüben standen bereits die ersten Berggänger; sie schienen zu winken, aber wir wussten nicht, dass sie uns beobachtet und sich unseretwegen Sorgen gemacht hatten. Wir waren froh, den Berg so nahe vor uns zu sehen, der lange Zeit das Ziel unserer Wünsche und das Sinnbild für endgültige Sicherheit und Ruhe gewesen war. Dort musste alle Spannung vorüber sein. Wir wussten nicht, wie viele mühsame Schritte uns noch von diesem Berg trennten, hatten noch keine Vorstellung von dem zwölfstündigen Abstieg ins Tal, der uns, vor allem meinem Freund, bevorstand. Wir holten erst einmal nach, wozu wir seit dem vergangenen Nachmittag kaum mehr die nötige Freiheit und Ruhe gehabt hatten: Wir suchten in den übermenschlich weiten und lichten Räumen dieses zweiten Morgens heimisch zu werden. Nur einzelne Bilder bleiben mit zureichender Prägnanz in Erinnerung - der Ausblick von einem solchen Berg ist nie zu bewältigen: die wilde, zerrissene Gletscherwelt des Zinaltales, das erst zu erwachen begann; das von den Wurzeln an sichtbare Massiv der Domgruppe - und weit im Norden, leicht verschleiert, wie unter Glas, die Berner Alpen...

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