Eine Reise in die Senkrechte
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Eine Reise in die Senkrechte

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Michel Piola,

Rothorn im Simmental und Six des Eaux Froides La Croix-de-Rozon GE Sonnenaufgang auf der Alp Am undere Bluttlig am Fuss des Rothorns Diesseits und jenseits des Rawilpasses Der Rawilpass ( 2429 m ), eine der traditionellen Achsen für Reisende, die zu Fuss vom Kanton Bern ins Wallis gelangen wollen, schliesst im Süden das lange Simmental wie ein zwischen den schneebedeckten Ausläufern des Wildhorns ( 3247 m ) und dem Wildstrubelmassiv ( 3244 m ) eingeklemmtes Komma ab. Sobald man den Pass in Richtung Wallis überschritten hat und die hohen, sonnenüberfluteten Alpen von Armeillon betritt, bietet sich einem der Tiefblick auf den Staudamm des Lac de Tseuzier; das chaotische darauffolgende Tal lenkt kaum vom wunderbaren Hintergrundpan-orama ab, das durch die berühmten Silhouetten der Walliser Viertausender gestaltet wird.

Neben ihrem rein sportlichen Interesse ist diese klassische Passwanderung, die zwei Gebiete, zwei Sprachen, aber die gleiche Lebensart in den Bergen miteinander verbindet, sehr empfehlenswert wegen der abwechslungsreichen Landschaft und Ambiance. Beim obligatorischen Halt auf der Passhöhe wird der am Sportklettern interessierte Wanderer noch von anderen Perspektiven fasziniert sein: In der Ferne, nur dürftig durch runder geformte Bergrücken versteckt, entdeckt er grosse Felswände. Zwei dieser Wände, die eine im Südsüdwesten -der Six des Eaux Froides1 ( oder Rawilhorn ) -, die andere im Norden - das Rothorn2 -, waren und sind ( und werden es auch in Zukunft bleiben ) eine der grossen Leidenschaften meines Alpinistenlebens.

Das Rothorn: kompakter Kalk über Edelweissmatten In einem der malerischsten Täler der Schweiz - dem Färmeltal, einem Seitental des Simmentais - leben Familien im althergebrachten Rhythmus der Feldarbeit und der Viehhaltung. Hoch über dem sorgfältig bearbeiteten Talboden, hoch über den Sommerweiden empfinden wir Zweibeiner die beeindruckende und kompakte Kalkwand des Rothorns als unüberwindbar! Diese scheinbare Unbesiegbarkeit wurde allerdings ein erstes Mal bereits im Sommer 1969 von der Seilschaft Jürg von Känel und Hans Müller angegriffen; sie überwanden die Wand und stürzten sich dabei - der damaligen Mode entsprechend - in ein grosses Abenteuer künstlicher Kletterei. Das Resultat war die , die über den markanten Überhang links der heutigen Route führt. Dieser erste, hochstehende Exploit begründet von Anfang an den Ruf des Rothorns, dessen Fels einen explosiven Cocktail bietet: senkrechte Wand, Qualität und Kompaktheit des Felsens, grosszügige, 250 Meter hohe Routen, technische Schwierigkeiten und schwieriges Daniel Anker bei der Eröffnung der Route

Zahlreiche neue Anstiege, die innerhalb des darauffolgenden Jahrzehntes in den Fels gelegt wurden, bestätigten diesen Ruf; die erste Eröffnungswelle endete 1978 mit der kühnen Erstbegehung des « Gemein-schaftsweges>, der durch das Herz der aussergewöhnlichen, gelben, überhängenden Wand führt, die den Hauptgipfel des Rothorns untermauert. Alle bis dann eröffneten Routen, deren fünf an der Zahl3, stellen interessante Anstiege dar, die jeder Kletterer und Alpinist seiner Tourenliste einzuverleiben versuchte. Die eingerichteten Routen - die Haken wurden von den Erstbegehern belassen - bieten kombinierte, freie und künstliche Kletterei der feinsten Art trotz einiger weniger Stellen mit Gras oder in brüchigem Gelände. Die ersten Anstiegswege folgten den logischen Linien der Wand, da, wo Risse auf ein Vorwärtskommen durch'2905 m, LK 1286 Saint-Léonard, Koord. 597/132 2 2410 m, LK 1246 Zweisimmen, Koord. 601/153 3 Das sind, von links nach rechts: ( von Känel/ Müller, 1969Berner Route> ( Schifferii/Gross, 1969Dia-gonalwegi ( Cubeus/Grossen, 1974 ); iGemeinschaftsweg> ( Cubeus/Gross, 1978 ); Frutigerweg ( Trachsel/Grossen, 1970 ).

klassisches Hakensetzen hoffen liessen; der Gebrauch von Bohrhaken beschränkte sich auf die allzu kompakten Wandzonen.

So zeichneten sich in jener Phase einige der besten Alpinisten aus und erwiesen sich als brillante Entdecker von Routen grosser Klasse: Hans Grossen, Hans-Peter Trachsel, Etienne Gross, Edi Cubeus. Während langer Jahre bleibt das Rothorn eines der unumstrittenen Zentren der schweizerischen Vor-alpenkletterei, bevor ihm schliesslich das neu aufkommende Sportklettern hinterhältig seinen Status einer grossen ( Mode-Wand ) raubt.

Wir befinden uns am Anfang der achtziger Jahre. Tatsächlich, an den Felsen des Unterlands spielen sich eigenartige Dinge ab: Klettergebiete und Routen vermehren sich rasch, die Kletterer unterziehen sich einem intensiven Training, und das technische Niveau wird - als logische Folge -sprunghaft angehoben. Die ersten künstlichen Kletterwände entstehen. Wer könnte -angesichts dieser ( Konkurrenznoch Vergnügen daran finden, sich zu einem langen Zustiegsmarsch aufzuraffen, bevor man sich an antiken, allmählich vom Rost zerfressenen Stahlhaken zwischen angeklebten Grasbüscheln und losen, von unserem Unterbewusstsein verteufelten Schuppen aufhängt? Selbstverständlich nicht ohne den ersten auftretenden Gewittern - die ja in dieser Region besonders furchterregend sind - ausgeliefert zu sein! Die wahren Alpinisten -jene, welche die tiefgelegenen rundlichen Felsformationen verachten? Ab und zu vielleicht. Die Kletterer-Abenteurer, die Treuen unter den Treusten, die zu einem kleinen Häufchen zusammengeschmolzen sind? Sicher. Die Klettergarten-Kletterer ( ein ist ein , d.h. durch einen Klebanker ersetzt )? Nein, für die ist das alles viel zu gefährlich! Die waschechten Toproper, die dreissig Meter über dem Boden einen Brechreiz kriegen? Nein, niemals, absolut niemals! Abgesehen von dieser karikaturistischen Darstellung der Kategorie Kletterer des modernen ( homo alpi-nus> ist es Tatsache, dass Anfang der achtziger Jahre schöne, gut abgesicherte und mit Vorteil überhängende Schwierigkeitsklette-reien in Mode sind. Somit haben die damaligen Kletterer nichts mit den Routen am Rothorn am Hut; dies beweisen die Fachzeit- schriften jener Jahre, die nur das gelobte Land Südfrankreich überschwenglich besingen.

Einer jener oben erwähnten Kletterer-Abenteurer jedoch, Jean-Claude Tièche aus Leysin, erahnt bald einmal das ungeheure Potential an moderner Kletterei, das an diesem Ort brach liegt, und zieht schliesslich meine Wenigkeit ins Vertrauen, die angesichts solch vielversprechender Aussichten auf schöne Klettereien natürlich nicht gleichgültig bleibt.

So steigen wir schliesslich am 22.Septem-ber 1987 über die steilen Grashänge und Schutthalden zum Wandfuss auf, die Augen auf die wunderbare Kalkmauer geheftet, die uns überragt. Unglaublich: Bereits erahne ich eine, zwei, drei - was sage ich denn -zehn, zwölf Erstbegehungs-Möglichkeiten; wie gewohnt überträgt sich dieser Zustand der innovativen Übererregtheit in ein starkes inneres Fieber, das Motivation und Potential beträchtlich steigert.

An jenem Tag begnügen wir uns damit, die ersten Seillängen der später zum grossen Klassiker des Gebietes avancierenden herrlichen Route

einzuweihen. Der hervorragende Fels und der grosse Reiz der Kletterei bestätigen mir die feine Nase meines Gefährten, der für dieses Gebiet zutreffende Zukunftsvisionen gehabt hat: Das Rothorn, das auf eine ruhmreiche Vergangenheit zurückblicken kann, steht vor der Schwelle zu einer neuen, grossen Zeit! Später helfen mir Hervé Bouvard und vor allem Daniel Anker dabei, eine ganze Reihe neuer Routen in die Wand zu legen, die alle wunderbare Erinnerungen an Abenteuer und Freundschaft verkörpern. Es sind Erinnerungen an Farben - mächtige, graue, ins Leere tauchende Kalkpfeiler, vorstehende Riegel aus orangefarbenen Dächern, die den Weg zum Gipfel versperren, blütenweisse Schneefelder auf den steilen Hängen am Wandfuss. Andere starke Erinnerungen: die fast totale psychische Erschöpfung am Ende der heiklen Längen, die die Routen

Sibérie>. Oder dann Erinnerungen an Mate-rialrucksäcke, die in den Überhängen von in ausserirdische Umlaufbahnen davonsausen, an Bilder von flaumigen Edelweissblüten, die sich, soweit das Auge reicht, ringsum auf Bändern und Gras ausbreiten.

Heute also hat das Rothorn wieder den Platz inne, der ihm in unseren Voralpen gebührt: Es ist ein sportliches Ziel, das den Erwartungen der Kletterer unserer Zeit entspricht, für welche die Länge des Zustiegs im Verhältnis zum Reiz der Kletterei stimmen muss, die sich aber gleichzeitig noch immer für eine intakte Natur oder eine aussergewöhnliche Landschaft begeistern können - wobei im Fall des Rothorns das Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau den eindrücklichen Hintergrund bilden.

Der Six des Eaux Froides: vergessener Pfeiler in verlorenem Tal Spricht man vom Six des Eaux Froides, so erwähnt man einen der bezauberndsten Orte dieses Kontinents! Man wird mir sagen, dies sei eine allzu entschiedene Behauptung; und doch...

Hat der Wanderer einmal die Staumauer des Lac de Tseuzier - ein massiges Betonun-getüm - hinter sich gelassen, dann entdeckt er ein kleines Tal von ländlichem Charme, eingefasst von sanften Nadelbaumwäldern, geschmückt von einem smaragdfarbenen See, in dem sich majestätische Steilhänge spiegeln. Dieses farbige Aquarell mit seiner Vielfalt an Formen und Elementen, die sanfte Ruhe, die Wesen und Dinge einhüllt, lassen uns unfehlbar an die Postkarten denken, die eine unserer Vorstellung entsprechende nordische Landschaft wiedergeben:

1976 steigen Eric Blanc, Gaby Bonvin und Roland Aymon, junge Kletterer aus der Gegend, über die Grashänge zu seinen Fussen auf. Sie hegen die feste Absicht, diesen schönen Pfeiler, der eher an die Dolomiten als an die Alpen erinnert, zu entjungfern. Nach ein paar Stunden Kletterei und ein oder zwei Haken, die sie da und dort gesetzt haben, steigen die drei Freunde auf seinem Gipfelkamm aus. Sie haben die Route

Die Stille wurde erst 1993 und 1994 unterbrochen, als sich Vincent Sprungli und der Autor dieses Textes buchstäblich in das Gebiet verlieben und sich damit befassen, die grossen, gewölbten Platten der Flanke des Sporns zu erschliessen, die - eine rare Gelegenheit-wunderbarerweise noch von jeglicher Route verschont geblieben sind! Der Kalk, der ringsum mittelmässig, hier aber - und nur hier - von sehr guter Qualität ist und zudem beinahe 300 Meter Wandhöhe aufweist, bestätigt uns den sportlichen Reiz dieses Gebietes, das bereits für seine Toprope-Routen in der Nähe des Staudamms und des Sektors Armeillon4 bekannt ist. Die drei eröffneten Routen, gegen die aufgehende Sonne ausgerichtet, rühmen sich eines ausgeprägt alpinen Charakters, der verstärkt wird durch eine oft schräg verlaufende Kletterei ( schwieriger Rückzug !) und einen relativ komplizierten Abstieg ( zu Fuss, zusätzlich drei Abseilstellen ). Damit sind sie eher den erfahrenen Kletterern vorbehalten!

So wie ich nicht vom Rothorn sprechen kann, ohne den Namen meines Freundes Daniel Anker zu erwähnen, so sind auch die Erschliessungen am Six des Eaux Froides * Siehe Kletterführer Escalades en Valais central von Daniel und Eric Blanc, Imprimex, Ayent VS 1992.

eng mit der Persönlichkeit eines anderen treuen Seilschaftsgefährten verbunden: Vincent Sprungli. Vincent - seines Zeichens Kla-vierlehrer, ausgewiesener Allround-Alpinist, versierter Kletterer, begabter Gleitschirmpilot ( zweiter Platz an den französischen Meisterschaften von 1993 ) und gelegentlich Ski-alpinismus-Wettkämpfer oder Extremskifahrer - ist ein wesentlicher Bestandteil jener Kategorie von unverbesserlichen Optimisten mit eisernem Durchhaltewillen, denen der Schnee nie kalt genug und der Sturm nie stark genug ist, um sich zur Umkehr oder zum Verschieben des Aufbruchs zu einer Tour zu entschliessen. Er, der wertvolle Begleiter bei vielen grossen Unternehmungen und junge , liebt es, die Dinge genau zu machen, und besitzt überdies die äusserst rare Gabe, ein geborener Routen-Erstbegeher zu sein. Niemals käme es ihm in den Sinn, die benö- Der Pfeiler des Six des Eaux Froides südwestlich des Rawilpasses Vincent Sprungli in der Rampe der 4. Seillänge von iConcerto pour main gauche> ( 6c ) tigte Zeit oder die Schweisstropfen zu zählen, wenn er sich der undankbaren Aufgabe widmet, eine Route millimeterweise zu putzen oder einen Zustiegsweg zu erstellen. Die Gemeinschaft der Kletterer verdankt ihm eine beachtliche Zahl von schönen Routen aller Schwierigkeiten, die geprägt sind von der Überzeugung, dass der Begriff der Qualität jenem der Quantität vorzuziehen sei. Die Kletterer, die sich an den Six des Eaux Froides begeben und an den Routen zahlreiche Mängel feststellen - stellenweise weniger kompakter Fels, anhaltend schräg verlaufende Kletterei, durchgehend geneigte Wand, Schatten am Nachmittag -, sollten bedenken, dass es viel schlimmer sein könnte! Denn die alpinen Klettereien am Six des Eaux Froides haben in erster Linie mit Bergen, Vergnügen und Ambiance zu tun! Die Beschreibungen der neuen Routen am Rothorn ( 2410 m ) und am Six des Eaux Froides ( 2905 m ) findet der Leser im gleichzeitig erscheinenden Monatsbulletin.

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