Eine Reise zum Ararat
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Eine Reise zum Ararat

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Ararat

Jean-Marc Rhein, Aclens ( vd )

Im Aufstieg zum Ararat, zwischen Camp I und Camp II Man vermutet kein lebendes Wesen in diesem endzeitlichen Durcheinander von Steinen; man vermutet kein Leben, und doch hat dort unten ein Hund zu bellen begonnen.

Der zunehmende Mond bedeckt die Landschaft mit zartem Silberlicht, hell genug, um zu sehen, dass hier wohl nichts mehr leben kann: Kein Baum ragt auf, soweit das Auge reicht, kein Kraut oder Gras ist höher als der kleinste Kiesel, nur einige hochmütige Disteln warten mit scharfen Stacheln auf die verletzli-chen Knöchel der Wanderer.

Und doch bellt ein Hund, will anscheinend den Beobachter dieser trostlos öden Landschaft überzeugen, dass er und seine Meister, nomadisierende Schafhirten, die jetzt in ihren Zelten aus grobem Zeug schlafen, durchaus da sind, verborgen hinter einer der zahllosen Geländefalten, die der Mond jetzt ebenso scharf zeichnet, wie es die untergehende Sonne tun könnte.

Weiter entfernt, viel weiter entfernt, tiefer unten auch, drängen sich winzige, flackernde Lichter zusammen: rechts die türkische Stadt Dogubayazit, aus der wir kommen, und noch weiter fort, im Osten, eine Siedlung, die bereits im Iran liegt. Wendet man sich weiter nach links, nach Norden zu, so stösst der Blick gegen den Fuss des Ararat, doch man kann sich gleich dahinter die wieder aufleuchtenden Lichter der Stadt Eriwan im sowjetischen Armenien vorstellen. Dazwischen die Spitze von Aserbaidschan, auch das sowjetisch - wie lange noch?

Jetzt ein anderes Bellen, ebenso aus dem Nichts, sicher antwortet es dem ersten. Es macht uns Mut, weiter aufwärts diese gespenstische Landschaft zu erkunden. Diesmal taucht, ausser einem etwa 400 Meter entfernten Camp einer Militärgruppe, kein anderes Lager im Helldunkel des Mondscheins auf. Die Anwesenheit von Soldaten in dieser öden Gegend erinnert uns ständig an die Nähe der brennenden Grenze.

Die Stimme des zweiten Hundes, zu der sich inzwischen das Wiehern eines der kleinen, zierlichen und nervigen, widerstandsfähigen und fügsamen Pferde gesellt hat, die morgen unsere Lasten tragen werden, lenkt unsere Aufmerksamkeit immer mehr in die Höhe, bis das Auge nur noch an dem weissen Kragen des Riesen Halt findet. Es ist ein sehr kräftiges Weiss oberhalb der allgegenwärti- gen schwarzen Ströme, die der Berg eines Tages, vor nur anderthalb Jahrhunderten, in einem wütenden Ausbruch von Feuer und Asche ausgespien hat. Morgen werden wir im Camp Il auf 4000 Meter Höhe an diese Grenze des Schnees eines ewigen Winters kommen. Jetzt sind wir 1000 Meter tiefer, im ersten Camp, und betrachten, ehe wir unsere Zelte aufsuchen, die Nacht in dieser innern Sammlung, zu der die unendliche Natur zwingt, die ihrem ursprünglichen Wesen nahe zu sein scheint. Aber wie viele Wege haben wir in wenigen Tagen zurücklegen müssen, um hier anzukommen!

Vorbereitungen Wie viele Schritte bei der türkischen diplomatischen Vertretung in der Schweiz waren nötig, um die Papiere zu erhalten, die uns zur Besteigung des strategisch wichtigen Ararat ermächtigten, wieviel Zeit haben wir auf dem Flughafen von Istanbul zugebracht, um unser Gepäck ausfindig zu machen, dann, um sieben Plätze in einer Maschine nach Ankara zu beschaffen, denn unsere hat es nicht für nötig gehalten, auf uns zu warten. Später ein In-land-Flug Ankara-Erzurum und wieder eine Scheibe des unvermeidlichen Kuchens der Turkish Airlines; nichts lässt uns hoffen, dass es die letzte sein wird. Wir werden uns also nicht über die fünf Stunden dauernde Busfahrt von Erzurum nach Dogubayazit beklagen, um so mehr, als der abendländische Reisende jetzt wilde Landschaften und ländliche Szenen zu sehen bekommt, die in ihm das merkwürdige Gefühl wecken, nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit unterwegs zu sein.

Auf den Feldern keine einzige moderne Maschine; die Frauen gebückt, die Sichel in der Hand; viele primitive Geräte, die aus einem andern Zeitalter zu stammen scheinen; Korn-garben und -hocken. Um die Fremdartigkeit des Bildes zu vervollständigen, kniet fern, winzig, mitten in einer riesigen Weidefläche, ein Mann, die Stirn auf den Boden gepresst: ein betender Muslim. Da und dort eine Schafherde mit einem Hirten in schweren Gewändern, mit tief gefurchtem, von der unerbittlichen Sonne gegerbtem Gesicht, das durch eine Rasur à la Serge Gainsbourg noch dunkler wirkt, und mit dichtem schwarzem Schnurrbart. Dazu mit der unvermeidlichen Mütze.

Blick auf die gewaltig Pyramide des Ararat Blaue Bienenstöcke, hingesetzt wie ferne Dörfer, veranlassen uns, den ganz kurzen Grasteppich näher zu betrachten. Dort entdecken wir Blumen, deren verstreute kleine Blüten, Pünktchen in lebhaften und ganz verschiedenen Farben, sich bemühen, die Grasfläche, die in dieser Jahreszeit kein Schatten vor den kräftigen Strahlen der Sonne bewahrt, ein wenig mit Leben zu erfüllen.

Drei-Stern-Hotels folgen einander. Nach unsern Beobachtungen wurden die Sterne nach den folgenden Kriterien verteilt: einer für den Lärm, ein zweiter für die defekten Installationen, der dritte für den Staubsauger, den wahrscheinlich 1840 der letzte Lavastrom mitgerissen hat.

Ein Lastwagen führt uns fort von diesen letzten Zeichen der Zivilisation. Durchgeschüt-telt auf der Ladefläche - das Holpern lässt den ganzen Aufbau ächzen -, vom Staub blind und halb erstickt, erreichen wir endlich das Basislager. Jetzt müssen wir das Material einige zehn Meter hinauf schleppen. Es ist die erste Herausforderung des Riesen mit seinem ewigen Schnee, 2000 Meter über unsern Köpfen, an uns arme Schweizer, denen wegen des bereits knappen Sauerstoffs bei jedem Schritt der Atem ausgeht. Wir entledigen uns der Aufgabe ehrenvoll, denn die Zelte sind blitzschnell aufgestellt und auch die Mahlzeit ist sofort bereitet. Bald darauf kündet der Mond eine Nacht, würdig der berühmten tausend-undeinen Nächte, an. Ein Hund beginnt fern im Nichts zu bellen. Es ist der im Anfang meines Berichts geschilderte Augenblick.Ein letzter Blick zum Gipfel, der jetzt seine Wolkenkappe übergezogen hat, dann schläft jeder mit seinen Zweifeln und Hoffnungen ein.

Pferde und Bakschisch Wie kommt es, dass solch kleine, zerbrechlich wirkende Pferde drei von Lebensmitteln, Kleidern, Seilen, Steigeisen und Rechauds überquellende Säcke auf dem Rücken tragen können? Wie überstehen sie derart beladen einen schnellen Aufstieg in einer Höhe zwischen 3000 und 4000 Metern, bei dem sie bald mit den Hufen in unsicherm Geröll versinken, bald einen halben Meter hohe Stufen zu nehmen? Ihre Herren - ihr Alter liegt zwischen fünfzehn und fünfzig Jahren - muntern sie auf oder beruhigen sie, beschleunigen den Schritt, um zu ihnen aufzuholen, kehren dann wieder nach hinten zurück, um ihnen zu helfen oder sie wieder auf den rechten Weg zu bringen. All das in den in einem Stück gegossenen Plastikschuhen, die wir nicht einmal den Puppen unserer Kinder anziehen würden. Nach einer Unterwegs zum Ararat: ein Zeltlager der nomadisierenden Hirten Stunde haben sie zwanzig Minuten Zeit, um auf uns zu warten und uns müde, mit leerem Blick, kommen zu sehen. Unsere Schritte sind bereits langsam, schwer und gleichmässig geworden.

Dort, wo der Hang für ein kleines Stück etwas flacher wird, hat auf den letzten begrasten Flächen eine Nomadenfamilie ihre Zelte aufgestellt. Sie sind hoch, sehr einfach, mit ungefähr drei Meter Radius. Im Freien bereiten die Frauen eine Mahlzeit auf einem Feuer, das sie mit getrocknetem Mist, dem einzigen Brennstoff in dieser baumlosen Gegend, entzündet haben. Sogleich stürzen die Kinder auf uns zu, manche in Lumpen, aber alle mit von Freude und Gesundheit strahlenden Gesichtern; zumindest ist das unser Eindruck. Eine kleine Enttäuschung erfahren wir, als aus all den lachenden Mündern die Frage nach Bakschisch, nach Geschenken ertönt. Daran haben frühere Touristen sie gewöhnt. Sei's drum, einige Bonbons genügen ( noch ?), um sie zufriedenzustellen. Aber ist es unvermeidlich, dass die Neugier, die sich in ihnen regt, allein weil sie uns begegnen, uns ihre Namen erklären und unsre erfahren möchten, der gute Wille, mit dem sie unsern Wunsch erfüllen, zu sehen, wie sie ihre Schleudern benutzen, diese intensiv erlebten Augenblicke einer brüderlichen Verständigung zwischen zwei Ländern - dass all dies von ebenso wertlosen wie vergänglichen Geschenken begleitet wird?

Anstrengungen und Gefühle Drei Uhr morgens: Ein Mann ruft einen andern so laut und beharrlich, dass man nicht mehr vorgeben kann, nicht zu wissen, dass es Zeit zum Aufstehen ist. Ein Wind, der eisig zu sein scheint ( tatsächlich liegt die Temperatur kaum unter Null Grad ), bläst durch die Zeltleinwand und trägt den sowieso schwachen Willen mit sich fort, aus dem Schlafsack zu kriechen, der wie der behaglichste Zufluchtsort wirkt, obgleich er auf Fels liegt.

Aber was tue ich eigentlich hier?

Trotzdem finden wir uns alle draussen zusammen, wissen nicht recht wie, wagen nicht, uns zu fragen warum, warten verstört darauf, dass ein unter den Windböen dumpf und stossweise prustender Kocher uns warmes Wasser liefert. Wenn es uns aufgetaut hat, werden wir vielleicht wieder Mut fassen.

Die Kolonne setzt sich in Bewegung. Gleich darauf fordert der Hang grosse Anstrengungen, um unsere schweren und noch schläfrigen Massen nach oben zu bewegen. Es ist vier Uhr. Ein blasses Morgenlicht weckt die Hoffnung auf die ersten Sonnenstrahlen; jeder erwartet im geheimen, dass sich dann der ununterbrochene, beissende Wind beruhigen wird, der durch die zu dünnen Kleider dringt. Oh, umkehren können... der noch warme Schlafsack... Nein! vorwärts gehen, hat man mir geraten, Schritt und Atem in Einklang bringen... Der so lange ersehnte Gipfel ist jetzt ganz nah, vier Stunden nur, nach all den vielen, die uns hierher gebracht haben... Wie konnte ich auch nur eine Sekunde daran denken umzukehren? Und die andern, was geht in ihren Köpfen vor? Keiner sagt ein Wort.

Die Sonne erreicht uns, während wir die Steigeisen anlegen und uns anseilen. Nicht, Camp II auf ca. 4200 m Auf dem Weg zum Gipfel, ein paar Minuten vor Sonnenaufgang dass wir uns über Abgründen bewegen würden, aber ein Ausrutscher auf dieser unebenen und steinharten Schneedecke würde den Unvorsichtigen in grosser Geschwindigkeit zu nackten Felsen gleiten lassen. Dann nehmen wir den Marsch wieder auf. Es ist leichter, weil der jetzt gleichmässige Boden nicht mehr unter den Füssen verschwindet, vor allem aber, weil man, hebt man die Augen ein wenig, unter dem riesigen Gewölbe nur einen kleinen weissen Hügel entdeckt. Dieses letzte Stück kostet uns gleichwohl noch eine gute Stunde: Das Gebirge macht durchaus keine Geschenke, alles muss bezahlt werden, und zwar im voraus; bis zur letzten Sekunde, bis zum letzten Meter verweigert der Büyük Agri Dagri unserer kleinen Seilschaft, die noch in etwas steckt, was vermutlich ein Krater ist, den endgültigen Erfolg.

Und dann ist mit einem Schlag plötzlich alles in Ordnung: Ein ständiger Wind beisst und reisst von allen Seiten, gleichzeitig taucht vor den Augen ein unermesslich weites Bild auf. Die Landschaft, die wir schon seit einigen Ta- Aus dem französischsprachigen Teil, übersetzt von Roswitha Beyer, Bern gen bewundern, sehen wir jetzt von sehr hoch oben. Durch den noch dichten Nebel hindurch wird sie von der Morgensonne - es ist halb neun Uhr - erhellt, von dieser Sonne, deren Wärme abzunehmen schien, je höher wir stiegen, die uns aber in diesem zauberhaften Augenblick das Gefühl gibt, mindestens die Hälfte des Abstands zwischen ihr und den normalen Sterblichen, denen uns dieses wunderbare Stück der Ewigkeit vorübergehend fernrückt, zurückgeigt zu haben.

Wie merkwürdig ist dieser Eindruck, ein noch ungeglättetes Modell zu betrachten, dessen Schöpfer die Zeit gefehlt hat, es mit Bäumen oder einer noch so kleinen Spur menschlichen Wirkens zu versehen. Wie sollte man nicht an Noah denken, der dort strandete und die Verwüstungen zu seinen Fussen betrachtete, die sich, je weiter das Wasser zurückging, um so mehr ausdehnten.

Für uns ist es nur der Höhepunkt unseres Abenteuers, doch im Innern jedes einzelnen setzt sich verstohlen das noch unklare Gefühl fest, dass in seinem Leben irgend etwas nicht mehr so sein wird wie vorher. Ist das der Grund, oder ist der Wind daran schuld, dass in manchem Auge eine Träne zu sehen ist?

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