Erfahrungen eines Rettungsobmannes
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Erfahrungen eines Rettungsobmannes

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Emil Grubenmann

( Appenzell ) Die « Alpen » vermitteln ihren Lesern alljährlich ein interessantes Bild über die alpinen Unglücksfälle. Sie schildern dabei in aufschlussreicher Art und Weise besonders jene verhängnisvollen Ereignisse, deren Ursache und Hergang auf Unkenntnis, Unvorsichtigkeit und mangelnder Erfahrung der Verunglückten beruhen. Alle diese Unglücksfälle, bei denen ein sichtbares Mitverschulden der Direktbeteiligten vorliegt, beweisen mit aller Deutlichkeit, dass in dieser wirklichen Aufklärung nie zu viel getan werden kann; entscheidet doch richtiges Verhalten im richtigen Zeitpunkt über Leben und Tod des Gefährdeten. Leider wird es aber immer wieder solche geben, die das alles schon wissen und keine gutgemeinten Belehrungen nötig zu haben glauben. Trotzdem möchte ich einen Beitrag zur Verhütung alpiner Unglücksfälle geben und vor allem unsern Jungen anhand einiger Beispiele zeigen, was sie auf ihren Bergfahrten zur Erhaltung von Leib und Leben nicht tun sollten.

Eine der gefährlichsten « Untugenden » des Bergwanderers ist das Alleingehen. Obwohl es an und für sich verständlich ist, dass wir gehetzte Menschen von heute ab und zu ein wahres Bedürfnis nach vollständiger Ruhe und Abgeschiedenheit empfinden, ist und bleibt es eine besondere Gefahr, Berg- und Klettertouren allein auszuführen. Meistens liebt der Alleingänger jene Routen, die wenig begangen werden. Über sein Ziel verrät er gewöhnlich nichts. Bleibt er wider Erwarten länger aus, weiss niemand genau, wo eine erfolgversprechende Suchaktion einzusetzen hat. Wird er nach langem, kostspieligem Suchen tot aufgefunden, ist man bei der Feststellung von Ursache und Hergang meistens auf Vermutungen angewiesen. Fällige Versicherungssummen müssen in solchen Fällen sehr oft auf dem unliebsamen und teuren Prozesswege erstritten werden. Man darf mit gutem Recht behaupten, dass sich die meisten Unglücksfälle der Alleingänger vermeiden liessen, wenn diese ihre Touren in Begleitung eines wirklichen Kameraden ausführen würden.

An den Wideralpstöcken verunglückte vor Jahren ein junger Mann tödlich. Ohne ge- naue Angaben über sein Vorhaben entfernte er sich am Samstagnachmittag von zu Hause und kehrte nicht mehr zurück. Am Montag liessen die Angehörigen die Vermisstmeldung durch das Radio verkünden und avisierten gleichzeitig die Rettungskolonne Appenzell. Für die bevorstehende Suchaktion diente als einziger Anhaltspunkt das im « Pfannenstiel » in Brülisau zurückgebliebene Fahrrad des Vermissten. Nach genaueren Erkundigungen konnte sich ein Bruder desselben erinnern, dass dieser sich vor längerer Zeit einmal über einen « Edelweiss-Platz » an den « Stöcken » geäussert hatte. Die Suchaktion vom Montagnachmittag verlief zufolge dichten Nebels ergebnislos. Genau unterhalb des Aufstiegs zur erwähnten Stelle wurde der Gesuchte anderntags gefunden. Er schien unverletzt zu sein, lag auf dem Bauch, hangaufwärts, die Arme wie zum Klettern ausgestreckt, in jeder Hand einen Stein, das Kinn auf einem solchen aufgestützt. Nach ärztlichen Feststellungen ist der Tod erst einige Stunden nach dem Absturz, der aus geringer Höhe erfolgt sein muss, eingetreten. Hätte der Mann den Aufstieg zusammen mit einem Kameraden unternommen, wäre das Unglück vielleicht nicht passiert; auf jeden Fall aber hätte der Kamerad rechtzeitig Hilfe herbeirufen können.

Frl. E., die in einem Hotel im Weissbad in den Ferien weilte, stieg eines Tages zum Äscher hinauf. Dort angekommen, stellte sie fest, dass ihr die Zeit nicht mehr ausreichen würde, bis zum Mittagessen wieder im Hotel zu sein. Sie kam auf den unglücklichen Gedanken, unterhalb dem Äscher durch das sogenannte « Seilloch » direkt nach Wasserauen abzusteigen, trotzdem sie mit den örtlichen Verhältnissen keineswegs vertraut war. Am steilen Rasenhang kam sie mit ihren ungenagelten Halbschuhen zu Fall und rutschte ab. Trotz des hohen Grases vermochte sie sich nicht mehr zu halten und stürzte über eine ca. 8 Meter hohe Wand zu Tode. Beim Absuchen der Absturzstrecke nach verlorenen Effekten konnten deutliche Spuren der Absätze festgestellt werden; die Verunglückte muss sich demnach verzweifelt gegen das Ausrutschen gewehrt haben. Dieser Fall zeigt eine ganze Reihe von Gefahrenmomenten, die von der Verunglückten ausser acht gelassen wurden: Sie war allein, hatte keinerlei Ausrüstung, war bergungewohnt und fremd in der Gegend.

Ein Mann von 60 Jahren, aus dem deutschen Bodenseegebiet, ein geübter, erfahrener Berggänger, kam eines Tages allein nach « Roslen » und erkundigte sich bei anwesenden Touristen, wie die Kletterberge heissen. Er machte sich, mit Rucksack und Pickel ausgerüstet, an die Besteigung des vierten Kreuzberges. Kletterer, die von der Scharte 4./5. aus am « fünften » im Aufstieg waren, konnten seinen Absturz gegen die Rheintaler Seite beobachten. Ursache und Hergang konnten nicht ermittelt werden. Tatsache ist, dass er allein war und sich zudem in den Kreuzbergen nicht auskannte.

Die imposante Felspyramide des Öhrli war letztes Jahr Ort des Geschehens eines ebenso tragischen Unglücksfalles. Die wenig begangene Nordwand hatte einen 43jährigen Freund der Berge angelockt. Er war ein bedächtiger, vorsichtiger Kletterer, der aus seinen « Erfolgen » nie viel Aufsehens machte und sich daran allein, aber im Grunde des Herzens ehrlich freute. Sicher ist, dass er die ziemlich brüchige Wand in Zeitabständen mehrmals anging, um schliesslich sicher an sein Ziel zu gelangen. Bei einem erneuten Rekognoszierungsauf-stieg, der ihn nahe an den Gipfel kommen liess, stürzte er tödlich ab. Eine nachträgliche Rekonstruktion des Unglückes an Ort und Stelle liess erkennen, dass er von einem verlässlichen Seilgefährten da, wo sich der Absturz ereignete, mit grosser Wahrscheinlichkeit hätte gehalten werden können. Da er allein und ohne jegliche Sicherung war, führte sein Ausgleiten zum tödlichen Absturz.

Schon mancher Berggänger hat sich, oft unbewusst, dadurch grosser Gefahr ausgesetzt, dass er Ungeübte, ja sogar ihm völlig Unbekannte auf seine Touren mitgenommen hat.

Die Alpen - 1954 - Les Alpes10 Endet ein solches Unternehmen gut und ohne Unfall, lobt man sich gegenseitig über die erstaunlichen Fähigkeiten! Nimmt die verheissungsvolle Kletterfahrt ein bitteres Ende, will gewöhnlich niemand die Verantwortung für das Unglück tragen. Das nachfolgende « Musterbeispiel » zeigt mit aller Deutlichkeit, wohin solche « Gefälligkeiten » führen können.

Sechs « Naturfreunde » ( zwei Mädchen und vier Burschen ) im Alter von 18-27 Jahren kamen an einem Samstagabend nach Meglisalp, um anderntags ihre geplante Wanderung über Bötzel—Marwies nach dem Sämptissee auszuführen. Im Laufe des Abends traf ein weiterer « Naturfreund » L., der jedoch einer andern Ortsgruppe angehörte, dort ein. Er war ein geübter Kletterer und war auch diesmal für eine solche Tour ausgerüstet. Beim gemeinsamen Aufstieg zum Bötzelsattel einigten sich die sechs Kameraden, unter L.s Führung die Freiheittürme in Richtung West/Ost zu traversieren. Beim Aufstieg benützten zwei der Burschen ein 10 Meter langes Seil; die übrigen fünf Teilnehmer das 40-Meter-Seil des L. Trotzdem die beiden Mädchen vom Klettern « keine Ahnung » hatten, glückte die Überschreitung nach geraumer Zeit ohne Zwischenfall. Erst unterhalb der Abseilstelle trat die schicksalhafte Wendung ein. Nachdem L. und Frl. I. sich abgeseilt hatten, mussten sie sich, früher, als die Situation es diesmal erlaubt hätte, vom Seil lösen, um es den Nachfolgenden zur Benützung freizugeben. So standen sie ohne jegliche Sicherung, unweit voneinander, auf gleicher Höhe am steilen Wandfuss. Frl. I. trug statt Kletterschuhen wollene Socken über den Seidenstrümpfen. L. warf ihr eine offene Reepschnur zu mit der Anweisung, sich daran anzubinden. Während er nach einer Sicherungsmöglichkeit Ausschau hielt, rutschte sein Schützling aus und riss ihn mit in die Tiefe. Beide hauchten kurze Zeit nach dem Absturz ihr junges Leben aus. Die Angehörigen des L. forderten von der SUVAL eine jährliche Rentenzahlung, die abgewiesen wurde. Aus dem Urteil des Eidgenössischen Versicherungs-gerichts ist zu entnehmen, dass L. das Opfer seiner eigenen Unvorsichtigkeit geworden ist, indem er durch das Mitnehmen von zwei Ungeübten sich selbst und alle Teilnehmer einer grossen Gefahr aussetzte und das Unglück selbst verschuldete.

Gefährlich ist das Edelweißsuchen. Zahlreiche Unglücksfälle finden immer wieder in ihm die Ursache. Allein im Alpstein sind innerhalb der letzten 18 Jahre 15 Menschen durch diesen Blumenraub verunglückt, die meisten tödlich.

Ein in St. Gallen wohnhafter Innerrhoder benötigte vor Jahren für einen besondern Anlass einige Exemplare dieser begehrten Blume. Als einstiger « Handbueb » von Fahlen waren ihm die « Wände » vertraut, und so entschloss er sich, trotz Zeitmangels, sie an Ort und Stelle selbst zu holen. Eiligen Schrittes kam er an den stillverträumten See, kletterte in den « Zügen » hinauf und - stürzte zu Tode! Als wir ihn im Leichensack, mit Edelweiss und Alpenrosen geschmückt, vom See her gegen die « Platte » trugen, kam sein einstiger Schulkamerad, der « Lawanne-Senn », des Weges. Wie vom Schlag getroffen stand er da, als wir ihm auf seine Frage wahrheitsgetreue Antwort gaben. « Trost'en Gott! de guet Frenz! » stammelte er hervor. « Jää, wenn 's der uustue ischt, denn moscht em Ogföll noe-springe! » Fürwahr, er hatte nicht ganz unrecht, der « Lawanne-Senn ». « Es geschieht nichts ohne Wissen und Willen des Vaters, der im Himmel ist », dachte ich im stillen für mich. Daran wollen wir auch nicht zweifeln, aber diese Tatsache darf uns nicht dazu verleiten, die Hände in den Schoss zu legen, um die grosse Wende unseres Schicksals, das wohl vorausbestimmt ist, tatenlos abzuwarten. Sie gibt uns auch kein Recht, gestützt auf das grösste Gottvertrauen, uns in aller Sorglosigkeit, unbeachtet der drohenden Gefahr ins Unglück zu stürzen. Schliesslich hat uns der Schöpfer einen Naturverstand und einen freien Willen geschenkt, die uns sichtbare Gefahren oft erkennen und meiden lassen. Deshalb sind wir uns selbst gegenüber schuldig, zur Erhaltung von Leib und Leben alles einzusetzen und unsere Bergfahrten gründlich vorzubereiten und nur an die Dinge heranzugehen, denen wir gewachsen sind. Werden wir dann trotzdem von einem ungeahnten Ereignis überrascht und besiegt, dann haben wir uns demütig den unergründlichen Gesetzen des Herrn über Leben und Tod zu fügen.

Feedback