Erinnerung an zwei Freunde
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Erinnerung an zwei Freunde

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Walter Fuchs, Kaiserstuhl OW

« Nimma heecher! » höre ich jemanden hinter mir rufen. Wie wild spure ich durch den knietiefen Neuschnee. Der Nebel verschluckt die zwanzig nachfolgenden Führerkameraden. Irgendwo dort im undurchsichtigen Grau muss die Chelen-lücke sein. Dort, an den südlichen Felsen, ist, laut Rettungschef, der Helikopter mit unseren Freunden Bruno Kohler und Hans Streich zerschellt. Führerkamerad Xander hat sie gestern gefunden. Bald sollte der Westgrat des Gwächtenhorns auftauchen. Die Stahlseilwinde drückt auf den Schultern. Zu unserer Erleichterung laufen wir unmittelbar nach einer Hangtraverse an einen Felssporn. Nach kurzer Abfahrt erreichen wir den gesuchten Punkt. Das Rettungsmaterial muss geordnet werden. Vier Mann versuchen die Unfallstelle zu erreichen. Ein scharfer Wind kommt auf, der Nebel teilt sich. Eben können wir beobachten, wie die zwei vorderen Retter einen Steilhang anschneiden. Plötzlich - ein dumpfer Ton, die Schneeseite kommt in Bewegung. Sämi gelingt es durch Ausfahren, dem Unheil zu entrinnen. Xander sehen wir wild mit der schwimmenden Schneemasse kämpfen. Das Schneebrett kommt in der Gletschermulde zum Stillstand. Wir befürchten das Schlimmste. « Dort ist er! » ruft einer. Tatsächlich wühlt sich Xander in der Mitte des Kegels, sich zuletzt wie ein Hund schüttelnd, aus den Schneemassen. Nach einer halben Stunde kommen alle zurück. Einen Ski mussten sie der Lawine überlassen. Um den Unglücksort zu erreichen, müsste noch ein weiterer Steilhang traversiert werden. Der Obmann entscheidet, die Bergung abzubrechen, besseres Wetter und bessere Verhältnisse abzuwarten. In gedrückter Stimmung wenden wir uns talwärts.

Jetzt wollen wir doch einmal sehen, wo dieser « Städter » mit uns hin will. Bruno, mein Klassenlehrer, lacht mir fröhlich zu. Sein wettergebräuntes Gesicht strahlt voller Tatkraft und Unternehmungslust. Dank seinem Können, seiner Bescheidenheit und Güte lernten wir Bergführerkandidaten in ihm ein leuchtendes Vorbild, einen Meister seines Fachs und einen wahren Freund kennen. Am frühen Morgen ist unsere Klasse von der Hütte aufgebrochen und klettert jetzt am schönen und steilen Fründenhorn-Westgrat. Täglich muss die Klasse von einem Anwärter auf den Gipfel und wieder zur Hütte gebracht werden. Der Klassenlehrer, hinten am Seil, bewertet sein ganzes Verhalten in technischer, organisatorischer und nicht zuletzt menschlicher Sicht. An einem Grataufschwung ist der zuständige Aspirant, statt gerade hinauf, in die abschüssige Nordflanke geklettert. Etwas belustigt sind wir ihm nachgestiegen. « Ein richtiger Denkzettel kann keinem schaden », wird sich Bruno gesagt haben. Plötzlich wird die Wand steiler und glatter. Zuverlässiges Sichern ist nicht mehr möglich, denn es können weder Haken geschlagen, noch Schlingen gelegt werden. Über einen Felsblock kann ich eine Nische erreichen. Hier ist wenigstens ein Tritt, um mit einem Bein Stand zu fassen. Unterdessen ist die dritte Seilschaft über den Gratturm hinaufgeklettert. Etwa dreissig Meter höher sehen wir, wie sie ihre Köpfe hinausstrecken und uns aufmerksam beobachten. Bruno winkt ihnen und fordert sie auf, uns ein Seil herunterzulassen.

Ein mächtiger roter Vogel fliegt auf mich zu, rasend schnell, unaufhaltsam, und stürzt in grossem Bogen über mich. Gleich noch einer - und wieder, jetzt wellenartig einer hinter dem andern. Dazwischen ein Ruck und ein Gefühl unendlicher Bodenlosigkeit. Unvermittelt werde ich aus der Traumwelt gerissen. In meinen Armen halte ich krampfhaft ein weisses Kopfkissen. Der ganze Körper ist schweissnass, wie verrückt hämmert das Herz in der Brust. Langsam kann ich die Umgebung erkennen: das Spitalzimmer, den Handgriff über meinem Bett. Ich höre die Atemzüge meiner Bettnachbarn und erinnere mich wieder: Unsere Seilschaften wurden miteinander und durch das herabgelassene Seil verbunden. Mein Hintermann konnte nachsteigen. Kraftvoll zieht er sich am Felsblock hoch. Doch dieser neigt sich plötzlich und fällt dann mit Poltern und Krachen, den Kameraden mitreissend, in die Tiefe. Bruno klammert sich einige Meter höher an den Fels. Ein Ruf- ein Ruck - und wir stürzen beide rückwärts aus der Wand. Bruno fliegt mit seiner roten Windjacke wie ein roter Adler über mich hinaus. Wie verrückt dreht sich die Welt. Dunkle Nacht ringsum, Nebelschleier, rasender Schmerz, unendlicher Abgrund. Um den Bauch angebunden, hänge ich voll im Seil. Es ist mir nur unter grossen Schmerzen möglich, mich zu bewegen. Bruno und den andern ist es besser ergangen. Nach freiem Zwanzigmeterflug ist er mit seinem Hintern auf einem Schneeband gelandet. Er ist bereits oben auf dem Grat und leitet meine Rettung. Unterdessen hat sich aber das Wetter verschlechtert. Sturmwind fegt über den Grat. Ich finde mich ausserstande, auch nur einen Schritt zu gehen. Der Rucksack wurde mir abgerissen, auch der Pickel ist weg. Ein Kamerad gibt mir eine Schmerztablette und warmen Tee. Zwei Mann sind schon unterwegs, um Hilfe zu holen. Ich werde eingepackt und wie eine Salami verschnürt. Bald darauf- zuerst hören wir ihn nur -taucht er über dem Lötschental aus einer Nebelbank: der rettende Engel. Er wird hin- und hergeschüttelt, sackt ab, kann sich auffangen und dreht weg. Beim zweiten Anflug wird uns ein Seil zugeworfen. Trotz des Sturms gelingt es den Kameraden, dieses zu fassen. Blitzschnell wird ein Karabiner eingeklinkt, und ab geht 's. Kurz darauf befindet sich auch Bruno neben mir im Passagierraum. Wir sehen uns in die Augen, drücken uns die Hand. Nochmals Glück gehabt! Wo wären wir wohl, wenn Bruno nicht das Zusammenhängen angeordnet hätte? Wie, wenn das Seil die Belastung von vier Stürzenden nicht ausgehalten hätte? Was, wenn oben am Grat nicht unser « Ele-fanti », Zweimetermann und Vizeweltmeister im Seilziehen, gehalten hätte?

Bei jedem Schritt knirscht das Kies des Fried-hofweges unter unseren schweren Bergschuhen. Heute haben wir wieder eine herrliche Kletterfahrt erlebt. Beim Abstieg fanden wir selten schöne Alpenrosen. Nun stehen wir mit einem schönen Strauss und aufgewühltem Innern vor einem gutgepflegten Grabhügel. « Bruno Kohler » steht auf dem schlichten Holzkreuz. Es schnürt mir die Kehle zusammen. Über dem Grabkreuz steht der Kirchturm von Meiringen. Der Blick schweift darüber hinaus und bleibt an der mächtigen Platte der Hundsfluh hangen. Nie werde ich den Tag vergessen, an dem ich, kurz vor dem Unglück, mit meinem Freund Bruno diese Steilwand geklettert bin. Es war unsere letzte gemeinsame Tour. Ich sehe ihn noch, wie er elegant über die äusserst schwierige Platte aussteigt und wir uns mit kräftigem Handschlag über die gelungene Tour beglückwünschen. Ich versuchte ihn auf nächsten Sonntag für eine rassige Felsfahrt zu gewinnen. Er leite einen Eiskurs auf dem Steingletscher und benötige noch einen Klassenlehrer. Da ich lieber auf die Gipfel steige als in den Gletscherspalten herumkrieche, lehnte ich das Angebot ab. Wäre ich mitgekommen, Bruno, so würde ich jetzt sicher hier neben Dir liegen. Denn die Gelegenheit, Helikopter zu fliegen, hätte ich mir sicher nicht entgehen lassen. Du warst mir ein Freund, wie man selten einen findet. Ich werde Dich nie vergessen!

Gleichmässig laufen die Seile durch meine Hände. Ich bin in einer Standnische der Tälli-stocksüdwand. Keinesfalls sollen wir zu lange durch den dunklen Risskamin hochsteigen, hat uns der Hüttenwart geraten. So klettert nun Hans in offener, senkrechter Wand nach rechts. Er ist um eine Kante verschwunden. « Wie geht 's, sind wir richtig? » — « Nachkommen! » erhalte ich zur Antwort. Der Quergang ist äusserst schwierig; mein Freund ist ohne jegliche Zwischensicherung eine ganze Seillänge zum nächsten Standplatz geklettert. Ohne Zweifel sind wir falsch. Zurückklettern scheint uns aber unmöglich. « Obsi drüüs », meint Hans und reicht mir mit seinem gewinnenden Lächeln sein Hakensortiment. Meter um Meter nagle ich mich den überhängenden Riss hinauf. « Hans, keine Haken mehr! » rufe ich hinunter. « Ich auch nicht; probier 's ohne », erhalte ich zur Antwort. Auf dem « äussersten Ast » gelange ich in eine Nische. Ohne Hakensicherung verklemme ich mich im Loch. Hammer- schlage verraten, dass mein Kamerad versucht, möglichst alles Material mitzunehmen. Mir wird unser ausgesetzter und ungesicherter Standort bewusst. Ich habe aber so grosses Vertrauen in meinen Gefährten, dass weder Unsicherheits- noch Angstgefühle auftreten. Hans gilt nicht umsonst als einer der besten Bergführer im Haslital.

Nun sitzen wir gemütlich auf einem schmalen Felsband bei Tee und Alpkäse. Wir freuen uns an unserer direkten Durchstiegsvariante. Nach vier Seillängen äusserst schwieriger Kletterei sind wir zum Schlingenstand des Rechtsquergangs der Originalroute gelangt. Diese Kletterei hat uns so angespornt, dass die folgenden schwierigen Stellen mit Leichtigkeit überwunden wurden. Unten an der Wand sehen wir, nicht weit vom Einstieg auf einem Grasband, einige Gemsen äsen. Ein Kitz unternimmt, wohl zur Begrüssung der wärmenden Oktobersonne, übermütige Kapriolen. Das Muttertier wirft hin und wieder den Kopf hoch und sichert in alle Windrichtungen. Ich kann es nicht verkneifen, meinen Freund, den Wildhüter mit Leib und Seele, zu fragen, was er jetzt machen würde, wenn plötzlich « es Schitzi » fallen sollte und er von unserem luftigen Standort aus zusehen müsste, wie der Frevler das Tier aus-weide. Ja, da müssten wir halt schnell aufbrechen, und es sei noch keineswegs sicher, dass der Wilddieb ihm dann durch die Latten gehe. Beinahe hat uns jetzt das Jagdfieber gepackt. Hans weiss da einiges zu erzählen. In Gedanken bin ich noch beim Anpirschen und Ansprechen von Gems und anderem Wild und klettere prompt in eine Sackgasse. Ein gewagter Quergang bringt mich bei den bekannten Orgelpfeifen wieder auf den richtigen Weg. Auf dem Gipfel geniessen wir einen wunderschönen Blick ins herbstliche Gadmertal auf der einen und ins Gental mit dem tiefblauen Engstlensee auf der andern Seite. Über goldgelbem Laubwald ein dunkler Gürtel Nadelholz und anschliessend im ersten Neuschnee weiss leuchtendes Hochgebirge. Unermesslich schön. Aus den Augen meines Kameraden strahlen grosse Freude und innere Glückseligkeit. An solchen Er- lebnissen erhole er sich vom nervenaufreibenden Wildhüterberuf. Schon manchen Ärger habe er nach einem solchen Tag überwunden. Wir geloben einander, jährlich mindestens eine solche Kameradentour zusammen zu unternehmen.

Der Regen prasselt auf das Meer der schwarzen Regenschirme. Gesenkten Hauptes marschieren wir langsam dem Friedhof zu. Wildhüterkamera-den haben ihn die steile Treppe heruntergebracht. Ihn, den kerngesunden und kraftstrotzenden Naturmenschen, Wildhüter, Langläufer und Bergführer. Oh, diese unseligen Alpinisten, die sich unkameradschaftlich im Gebirge voneinander getrennt haben! Dieser unglückliche und verhängnisvolle Suchflug bei stürmischem Wetter! Unterdessen ist der Trauerzug durch die Fried-hofpforte getreten. Die Trauerweiden triefen vor Nässe. Langsam wird der Sarg in die Erde gelassen. Undeutlich vernehme ich die Worte des Pfarrers: « Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen »... Berge, in denen Du aufgewachsen, die Dir viel, fast alles bedeuteten. Zurück bleiben eine Frau mit drei Kindern, ein Sohn, der sich nie an seinen Vater erinnern wird. Und wir, Deine Freunde, trauern um unseren Führer—Jäger —Langläufer -Turn- und Bergkameraden. Wir werden Dich nie vergessen, Dein kurzes Leben wird uns stets ein Beispiel sein! Wie ein Zeichen der Hoffnung reisst der Nebel auf. Der Laubstock und das frisch verschneite Hangendgletscherhorn werden sichtbar. Berge, wie könnt ihr doch so brutal und unbarmherzig sein - und trotzdem so schön und unvergleichlich!

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