Fahrten in Eisflanken. Sommer 1956
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Fahrten in Eisflanken. Sommer 1956

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON ADRIEN VOILLAT 1

Mit 4 Bildern ( 34, 36, 37, 40 ) Nordflanke der Aiguille d1 Argentière Heh, Ihr Jurassen, geht Ihr auf die Pilzsuche?

So neckt uns eine Seilschaft, die uns überholt und unser Vorrücken ohne Zweifel zu gemächlich findet. Es ist noch dunkle Nacht. Eine alte Spur führt von der Trienthütte dem Fenêtre de Saleinaz entlang. Wir können ihr, halbwach, wie wir sind, einfach blindlings folgen, was uns sehr zugute kommt; denn bei dem Lärm, der in der Hütte herrschte, haben wir wenig geschlafen. Und überhaupt verabscheuen wir in unserer Seilschaft überstürztes Aufbrechen und forcierte Märsche, besonders am Morgen früh und bei Dunkelheit.

Beim « Gratfenster » angekommen, sind es dann aber doch wir, die warten müssen, bis die « schnellere » Partie - die nun ihrerseits langsam vorwärts kommtaus dem Gefahrenbereich unter uns heraus ist; denn wir befinden uns auf lockerem Gestein, das wir beim Vorrücken loslösen könnten. Als wir weiter über den Gletscher ansteigen, gegen den Col du Chardonnet, färben sich im strah- 1 Siehe « Die Alpen » 1956, September und Oktober 1956, Seite 267.

lenden Sonnenaufgang des 21. Augustes die Gipfel mit zartem Rosa. Unser Ziel ist die Nordflanke der Aiguille d' Argentière. Man könnte diese Flanke, abgesehen vom Anmarschweg, als Zwillingsschwester der Nordwestflanke der Wellenkuppe bezeichnen. Vom Bergschrund an erheben sich beide 480 m hoch, und ihre mittlere Hangneigung beträgt 50°. Jacques Lagarde und Henry de Segogne haben sie am 2. August 1926 unter schwierigsten Bedingungen teilweise erstiegen. Sie mussten " damals die Flanke traversieren und sich über eine Felsrippe zum gewöhnlichen Passweg durchschlagen.

Am 10. August 1930 gelang Bobbi Arsandaux und Robert Greloz beim vierten Versuch der direkte Anstieg, und seither ist diese schöne weisse Flanke, die sich vom Bergschrund an in einem Aufschwung bis zum Gipfel erhebt, immer mehr zur klassischen Tour geworden.

Diesmal ist unsere Seilschaft wieder vollständig; denn das verletzte Knie unseres Kameraden Brandt ist nahezu vernarbt. Im Anblick der Wand reden wir nach unserer Gewohnheit schon nicht mehr von der gegenwärtigen, begonnenen Fahrt. Wir schmieden bereits neue Pläne:

« An der Mont-Gond-Wand werden wir nicht so tief im Schnee einsinken! Dort frieren wir dann weniger an die Füsse. Wir werden in der Sonne auf warmem Fels klettern! » - Unbewusst betrachten wir die Tour als schon verwirklicht, und das erlaubt uns dann ohne Zweifel, überlegener an sie heranzutreten.

Der Gletscher ist rasch traversiert. Auf dem Hang vor dem Bergschrund sind wir überrascht, zwei Spuren vorzufinden, die uns unsere Aufgabe erleichtern könnten. Bei näherer Untersuchung erweisen sie sich aber als unbrauchbar; denn sie sind von der Sonne teilweise geschmolzen und wieder zugefroren. Es geht schneller, daneben neue Stufen zu schlagen als sich mit den alten abzumühen.

Über dem Bergschrund wird der Hang steiler. Da hier die Schneeverhältnisse besser sind, kommen wir aber rasch vorwärts. Eine der beiden Spuren führt zu einer Felsrippe hinüber und verschwindet; die andere läuft auf den Westgipfel zu.

Eine grosse Spalte lässt sich durch eine prächtige Schneebrücke überschreiten. Der Hang wird noch steiler, aber die oberste Schneeschicht ist pulvrig, so braucht es nur wenige Pickelschläge, um eine Stufe zu schlagen. Ein Serac zwingt uns, den Hang nach links zu queren; nachher nimmt die Neigung sofort ab, und wir kommen ohne Stufenschlagen vorwärts.

Hinter uns zeichnet sich der Chardonnet klar vom tiefblauen Himmel ab, neben ihm der von Gipfeln, Fenstern und Türmen durchbrochene Grat der Saleinazgruppe. In der Tiefe liegt, vom Morgennebel verdeckt, das Val Ferret. Auf der grauen Nebelschicht scheinen die Gipfel der Combins wie leuchtende Edelsteine zu ruhen. In der Ferne das Gipfelgewirr der Pennines, aus denen als höchste das Weisshorn, die Dent Blanche und das Matterhorn herausragen! Im Gegenlicht erscheint diese Gipfellandschaft ungewöhnlich sanft.

Zu unserer Rechten gewahren wir wieder die alte Spur, die dem regulären Hang folgt und auf dem Grat neben dem Westgipfel wieder auftaucht. Die Versuchung ist gross, ihr wieder zu folgen. Der Hang ist dort weniger schroff und auch kürzer, und man könnte sich auf soliden Fels stützen. Aber wir möchten die Schwierigkeiten nicht umgehen, wenn uns nichts dazu zwingt! Wir werden unsern Weg zu Ende gehen. Und wir sind gut beraten; denn es wird die schönste und eindrücklichste Passage der ganzen Flanke werden!

Wir wenden uns etwas nach links. Unter den Felsinselchen nimmt die Steilheit des Hanges ab. Aber ich bedaure es; denn wir werden die Erleichterung durch eine um so steilere nachfolgende Strecke ausgleichen müssen. Und wirklich, über den Felsinselchen, die an sich schon schroff sind, steigt der Hang kerzengerade zum Sattel hinauf. Im Anfang geht es gut, aber die Steilheit nimmt rasch zu, und die Schneeschicht, die wir beseitigen müssen, um eine Stufe schlagen zu können, wird immer enormer. An einer Stelle müssen wir über unserem Kopf beginnen, um auf Kniehöhe zu gelangen. Dazu ist es so kalt, dass die Füsse unerträglich schmerzen, wie ich es diesen Sommer an keinem Berg erlebt habe. Dann nimmt die Neigung unmerklich ab... Jetzt genügt es, den Schuh einzuschlagen, um eine brauchbare Stufe zu treten und plötzlich tauche ich über dem Gipfelgrat der « Reine du cirque de Saleinaz » auf.

Ich kenne kein Betreten eines Gipfels, das mehr überwältigen könnte! Stumm lasse ich Rose nachkommen, um ihr die Überraschung nicht vorwegzunehmen. Aber ihre Verblüffung übertrifft noch meine Erwartung: Tränen verraten ihre Erschütterung!

Auch Maurice ist tief beeindruckt. Denn es ist ein einzigartig packendes Erlebnis, wenn man beim Übersteigen der Nordwand sich ohne Übergang plötzlich dieser Mauer aus Fels und Eis gegenübersieht, die wohl einzig dasteht in ganz Europa. Sieben Kilometer lang, bildet sie eine einzige Kette von Gipfeln mit über tausend Meter hohen Abbruchen von unglaublicher Schroffheit. Sie erinnern unwiderstehlich an die Riesen des Himalaya.

In wenigen Minuten erreichen wir den Gipfel. Die Ersteigung der Flanke hat uns sechs Stunden gekostet. Die ersten Bezwinger haben, bei besseren Bedingungen, nur vier gebraucht.

Auf rostroten Felsen sitzend, erquicken wir uns am Anblick des gewaltigen Massivs. Von weitem grüsst der Mont Blanc, mit dem mich Erinnerungen an meine erste grosse Fahrt verbinden. 1934 war ich einfach gekommen, ihn aus der Nähe zu sehen; aber er faszinierte mich und ich bestieg ihn als Alleingänger. Neben ihm die Aiguilles, dann, links, die Grandes Jorasses und im Vordergrund die Courtes, die Droites und die Verte, um nur die wichtigsten Gipfel zu nennen, die man von hier aus sieht.

An der Nordflanke der Courtes steigt ein wundervolles senkrechtes Trasse in direkter Linie empor. Aber etwa 100 m vor dem Gipfel biegt es ohne sichtbaren Grund in rechtem Winkel ab und führt zum linken Grat hinüber. Mit Bedauern denkt man an die Anstrengung, die es kostete, zu jenem Punkt zu gelangen, und an die Enttäuschung, dann um den höchsten Genuss, den Gipfel zu erreichen, betrogen zu sein. An einer Nordflanke besteht für den Kletterer die grösste Befriedigung darin, ein Trasse zu entdecken, das in eleganter Linie möglichst nahe zur höchsten Erhebung führt!

Über dem Argentine-Gletscher bilden sich Wolken und an den Gipfeln steigt Dunst auf. Es ist Zeit, an den Abstieg zu denken. Unsere Rast hat schon zu lange gedauert; vor Nacht werden wir die Hütte nicht mehr erreichen.

Mit tiefem Bedauern reissen wir uns aus unserm Sinnen auf und schon nach wenigen Schritten befinden wir uns im Banne des faszinierenden Abstiegs.

Während unserm ersten Abseilen bildet sich direkt unter uns eine dampfende, von Eisnittern schillernde Wolke. Zusammen mit dem Tiefblau des Himmels, den roten Felsen des Grates und dem Weiss der Flanke ergibt sich ein unvergessliches Farbenspiel.

Drei Seillängen bringen uns zu den Felsinselchen. Hier nimmt die Schroffheit ab, und wir steigen ungezwungen in unserer Aufstiegsspur tiefer. Im Abstieg finden wir, wie immer, den verdienten Ausgleich für die Anstrengungen des Aufstiegs. Die dünne Luft beeinträchtigt bis zu einem gewissen Grade sowohl den Willen als auch die Vorsicht. Denn wie einerseits das seelische Befinden die körperliche Widerstandskraft beeinflusst, so kann auch das Umgekehrte gelten: Die Müdigkeit begünstigt ein Sichgehenlassen, und viele Unfälle haben wohl ihre Hauptursache in einer zu grossen Hast, zum Gipfel zu gelangen. Besser später ankommen, als nieIn einer Eisflanke, wo die Kletterzeit in besonderem Masse von der jeweiligen Beschaffenheit derselben abhängt, ist man weniger versucht, sich mit andern zu vergleichen und einem verwerflichen Wettbewerbsgeist zu verfallen. Um so freier und offener bleibt der Geist für das Erlebnis, für das Einswerden mit dem Berg.

Bei den Séracs, wo der Hang schroffer wird, seilen wir uns, nach links haltend, drei Seillängen ab; dann nehmen wir unsre Aufstiegsspur wieder auf und gelangen rasch und ohne Zwischenfall bis zum Gletscher.

Dieser erste Abstieg hat uns dreieinhalb Stunden gekostet.

Im aufgeweichten Schnee sind die Überquerung des Gletschers, der Aufstieg zum Fenêtre de Saleinaz und besonders das Waten bis zur Trienthütte äusserst mühsam. So öffnen wir unsere « Ventile », um unsre üble Laune loszuwerden. Es tut wohl, sich in solchem Fall mit Kameraden herum-balgen zu können... Als wir aber beim Eindämmern die Hütte erreichen, sind Mühsal und Müdigkeit alsbald vergessen, und was zurückbleibt, ist nur eine lichte Erinnerung.

Das Doldenhorn über den Spitzstein und die Nordflanke Am 24. September, im sanften Licht eines Herbstspätnachmittags, schlendern wir den Fussweg am Oeschinensee entlang gegen die Fründenhütte. Die Lärchen beginnen sich leuchtend zu färben, und dem Wald entströmt ein feiner Duft von dürrem Laub und verwelkenden Pflanzen, Herbst-düfte, die die friedliche Einsamkeit betonen, wenn die Touristen den Berg freigegeben haben. Die Natur lässt ihre Schönheit wie ein Feuerwerk noch einmal aufleuchten, bevor sie sich zur Ruhe begibt.

Mit einem gewissen Heimweh geniessen wir diesen Feiertag doppelt, im Wissen, dass es unsre letzte grosse Fahrt des Jahres sein wird. Die Felsen oberhalb der Hütte sind schon weiss verschneit. Der Hüttenwart Hari empfängt uns mit sichtlicher Freude; er hat nicht erwartet, uns in diesem Jahr noch einmal zu sehen. Die Fründenhütte ist unsere bevorzugte Hütte im Berner Oberland. Der Weg zu ihr ist kurz und die Landschaft abwechslungsreich. Die Hütte ist klein und heimelig, und der Hüttenwart ist wie seine Vorgänger sorgfältig ausgewählt. Jeder Berggänger weiss, was das für ihn bedeutet.

Der Felsriegel, der den Fründengletscher vom Doldenhorngletscher trennt, ist mit 10 cm Neuschnee bedeckt, als wir ihn am nächsten Morgen vor Tagesanbruch erreichen. Es ist gut, dass wir den Weg kennen. In der Dunkelheit und bei den herrschenden Verhältnissen ist die Orientierung schwierig.

Auf dem Galletgrat finden wir eine schöne Neuschneedecke, so dass wir jede Hoffnung verlieren, auf diesem Weg zum Gipfel des Doldenhorns zu gelangen. Es ist klüger, den Gletscher zu traversieren, um zur gewöhnlichen Spitzsteinroute zu gelangen.

Als wir die ersten Felsen erreichen, bricht der Tag an, und mit Erleichterung versorgen wir unsere Laterne im Rucksack. Auf dem unsicheren Fels werden wir mit freien Händen besser vorwärts kommen.

Der Grat lässt sich leicht ersteigen. Als wir auf dem ersten Vorsprung bei warmem Sonnenschein unsere Steigeisen befestigen, stossen zwei weitere Seilschaften, aus der Doldenhornhütte kommend, zu uns. Die erste, aus einem erfahrenen Alpinisten und einem Jüngling bestehend, setzt den Aufstieg sofort fort. Für uns wird dies eine der Chancen des Tages werden. Der Jüngling stürzt sich mit einem Eifer und einer Hingabe in die Aufgabe, um die wir ihn beneiden könnten. Er bleibt Erster und bereitet uns die Spur vor bis zum Gipfel, was bei diesem tiefen Schnee etwas heissen will!

Nachdem wir den Rundblick auf die winterlich anmutende Landschaft genossen haben, machen wir uns auf den Abstieg über die Nordflanke Bei der Bewältigung dieser Wand zeigt sich beispielhaft, wie die jeweils herrschenden Schneeverhältnisse die Kletterzeit zu beeinflussen vermögen, und ebenso verschieden sind die Eindrücke, die die Kletterei vermitteln kann. Die Erstbesteiger führten den Aufstieg in acht Stunden aus. Bei S. Pliez hinterliess die Wand im ganzen den Eindruck von ausserordentlicher Exponiertheit, und das letzte Zehntel erschien ihm als « eine Endstrecke von äusserster Schroffheit und phantastischer Eindrücklichkeit ».

Oswald Imobersteg ( von der Blümlisalp-Nordflanke ) erkletterte die Wand allein. In der ersten Stunde gelangte er schon über die Mitte hinaus. Aber dann änderten sich die Bedingungen, und er brauchte 17 Stunden, um den Gipfel zu erreichen. Seine Eindrücke waren folgende: « Mitte der Nordwand, 6 Uhr 20, Gipfel um 22 Uhr 20, Doldenhütte 01 Uhr 20. Schrecklich, diese Wand! Stufen schlagen, Stufen schlagen, und das bei Schneesturm. Ich befinde mich wieder unter den Lebenden. » Wie es allgemein bei jeder Eiswand der Fall ist, wird auch diese je nach Seilschaft mit grosser Phantasie geschätzt: 62°, 55° und 57%, d.h.37°. Ich habe den Eindruck, dass es sich von einer gewissen Neigung an mit der Schätzung verhält wie bei den Geschwindigkeitsmessern der Motorfahrzeuge! Was die Angabe in Prozenten anbelangt, meinen viele, 100 % bedeute soviel wie vertikal, also 90°, wobei es sich aber nur um 45° handelt. ( Solange eine Hangneigung in Prozenten ausgedrückt werden kann, kann sie gar nicht vertikal sein !) Diese Verwirrung, die in der Bezeichnung der Hangneigung herrscht, ist sehr verständlich; denn dem, der nicht grosse Erfahrung mit Schneehängen besitzt, erscheinen sie allgemein steiler, als sie in Wirklichkeit sind. Zur Zeit meiner ersten Eiswände überschätzte ich deren Neigung jedesmal. Immer, wenn ich sie nachher nachrechnete, hatte ich mich getäuscht, und trotz unserer heutigen Erfahrung variiert unsere Schätzung noch zwischen einem Zuviel oder Zuwenig von bis zu 7°. Das Unterbewusstsein beeinflusst und ändert unser Befinden und damit unser Urteilsvermögen je nach den Bedingungen, denen wir ausgesetzt sind. Ist der Hang mit Schnee von guter Beschaffenheit bedeckt, so erfolgt Unterschätzung, und wenn er vereist ist, Überschätzung der Steilheit. Nach der Landeskarte kann die mittlere Neigung nur annähernd bestimmt werden. Wir haben dabei Variationen von gleich grossem Spielraum und in beiden Richtungen festgestellt, wie bei der Schätzung von Auge. Nur mit dem Neigungsmesser ( Klinometer ), der mit transparentem, in Grade eingeteiltem Winkelmass und mit Lotfaden versehen ist ( welches Instrument gleichzeitig als Höhenmesser dienen kann, indem man eine bekannte Kote anvisiert ), können wir die Hangneigung objektiv bestimmen.

Höhe und Länge einer Hangneigung werden gewöhnlich mit noch grösserer Phantasie geschätzt und oft miteinander vermengt. Um möglichst objektive Vergleiche zu erlauben, müsste man logischerweise als Anfangspunkt einer Flanke immer den Punkt annehmen, wo der Basisgletscher -oder Basisschneehang - die eigentliche Neigung der Flanke nicht mehr durch Schneeanhäufungen beeinflusst. Dieser Punkt fällt im allgemeinen mit dem Bergschrund zusammen. Die vorangehenden Hänge sollten deshalb zum Anmarschweg gerechnet werden. Um z.B. beim Doldenhorn zu bleiben, schreibt S. Plietz: « Auf 700 m Höhenunterschied kein Ruhepunkt! » Ein anderer Tourist äussert sich darüber: « Eine totale Höhe von 600 m »; wieder ein anderer: « Ein Hang von 700 m unter den Füssen. » Vom Bergschrund an gerechnet, berechne ich eine Erhebung von ungefähr 640 m ( nach der Landeskarte ), eine Neigung von 52° ( 128% ) und eine Hanglänge von 800 m, nach dem Verhältnis zwischen Höhe und Neigungswinkel. Es ist klar, dass ( nach der arithmetischen Progression ), je länger ein Hang bei einer gegebenen Höhe ist, desto mehr nimmt seine Schwierigkeit ab, wenn nicht übermässig viel Schnee liegt. Die Nordwand der Ebnefluh kann als Schwester der Doldenhorn-wand betrachtet werden. Sie weist dieselben Verhältnisse auf; ihre Höhe beträgt auch 640 m und die Neigung 51°. Von beiden ziehe ich das Doldenhorn vor, seines Anmarschweges, seiner landschaftlichen Umgebung und seines Gipfelaufbaus wegen.

An den Pickeln der freundlichenTouristen befestigen wir unser erstes Seil von 60 m. Die erste Phase beim Abseilen ist ungemein eindrucksvoll: nach einer kurzen Abschrägung hängt man zuerst vollständig im Leeren, mehr als 800 m über dem Gletscher. Der Gipfelvorsprung lässt die ganze Flanke verschwinden. Durch ein nicht ganz senkrechtes Kamin-Couloir gelangen wir dann mit unserer Seillänge gerade bis unter den Felsriegel. Infolge der guten Schneeschicht ist die Passage viel leichter als sonst.

Als Rose nachkommt, stellen wir fest, dass ihr Pickel noch auf dem Gipfel aufgepflanzt ist, zur Seilsicherung, mit denjenigen der andern Partie. Die andern kommen herunter... aber ohne den PickelSie haben ihn uns dann in der gleichen Woche noch zukommen lassen. ) Die Verbindung mit dem Gipfel ist abgeschnitten. Wir sind wieder allein, umgeben von Eiswänden, mit denen wir uns so vertraut fühlen. Rings um uns unberührter Schnee! Keine menschlichen Spuren ausser unsern eigenen. Unter uns der schwindelnde Hang, dann der Gletscher. Nach einer neuen Leere das tiefe Blau des Sees, umrahmt vom dunkeln Grün der Tannen, welches schon vom Gold des Herbstes leicht übersät ist. Im Westen sind die blauen Berggipfel mit weissen Kumuluswolken geschmückt. Es ist ein zauberhafter Anblick, bei dem sich unser Herz weitet. Unter diesen einzigartigen, winterlichen Verhältnissen wird dieser Abstieg zu erhöhtem Genuss.

Ohne die umgebende Landschaft wäre die Flanke gar nicht zu erkennen. Wir hätten nie gedacht, dass sie sich im Verlaufe eines Jahres so verändern könnte. Ein Felsvorsprung, unter dem wir das letzte Mal viele Stufen schlugen, ist fast verschwunden. Der ganze Abhang ist von tiefen Eis- und Schneefurchen durchzogen, was für uns von grossem Vorteil ist. Wir benützen abwechselnd zwei davon, um unsere Füsse aufzusetzen. Dass der Pulverschnee daraus weggefegt ist, erspart uns viel Arbeit. Auf dem dicken Schneepolster in den Furchen steigen wir mühelos ab. Wir sind in verschiedener Hinsicht begünstigt: Das Wetter ist wunderschön und die Luft frisch, und es besteht keine Lawinengefahr. Ein Aufstieg wäre wohl bei den herrschenden Verhältnissen kaum möglich; für unsern Abstieg sind sie ideal. Und wir geniessen dieses verdiente Vergnügen voll, ohne Hintergedanken! Wir empfinden nämlich immer ein gewisses Unbehagen, wenn wir über eine schwierige Flanke oder einen schwierigen Grat absteigen, ohne sie vorher bestiegen zu haben. Wenn es ausnahmsweise vorkommt, so holen wir die Erkletterung sobald als möglich nach, um den Abstieg nachträglich « abzuverdienen », sonst bedrückt er uns wie eine Schuld. Da wir diese Flanke letztes Jahr bestiegen haben, ist die Sache für uns in Ordnung.

Die zahlreichen Flanken, die wir im Laufe der Saison 1955 bewältigt haben, haben uns mit ihren objektiven Gefahren vertraut gemacht. Fast zu vertraut; denn von einem gewissen Punkt an bewirkt die Gewohnheit nicht mehr eine Verringerung der Gefahr, sondern eher eine Zunahme. Sie verleitet unbewusst zu Unvorsichtigkeiten. Man erreicht den Punkt, wo die Verwegenheit rascher zunimmt als die Erfahrung.

Während des Abseilens von 60 zu 60 Meter kommt mir der Einfall, die mittlere Zeit für die Zurücklegung dieser Strecke zu ermitteln. Sie beträgt zweieinhalb Minuten... So ist 's! ich habe es mit der Stopuhr festgestellt. Weil ich schon daran bin, kontrolliere ich auch die Erwärmung meines Abseilinstruments ( ein Modell ganz aus Metall, wie ich es in den « Alpen » schon beschrieben habe ) bei Beschleunigung des Abseilens. Resultat: Der Schnee, den ich ins Innere gestopft habe, ist nicht einmal geschmolzen. Das Instrument ist also einer langen Lebensdauer des Nylonseiles sehr zuträglich... aber kaum geeignet, um Wasser für den Tee zu kochen!

Ich weiss nicht, wie es kam, aber während wir gemeinsam absteigen, will mich Maurice einholen, und, einmal « losgelassen », kommen wir auf die ausgefallene Idee, ein « Wettrennen » zu veranstalten, indem wir den ungeeigneten Ort ganz vergessen. Rose ihrerseits hat aber ihre Vernunft bewahrt und sagt uns ihre Meinung ins Gesicht... Kommt wohl dieser leidige Wettkampfgeist heute vom Motorengeknatter der Autos vom Blausee—Kandersteg-Rennen, das uns die Luft zuträgt?

Unsere Unvorsichtigkeit ist jedoch nicht so gross, wie es scheinen mag. Sehr wahrscheinlich könnten wir uns im Falle eines Ausrutschens wieder auffangen. Wir haben nämlich andernorts schon freiwillige Versuche mit Abrutschen auf gleicher Hangneigung und ebenfalls bei Schnee gemacht und sind so weit gekommen, das Abrutschen nach einem Ausgleiten nach etwa 20 Meter bremsen zu können. Diese Versuche wurden sowohl fuss- wie kopfvoran ausgeführt. Es ergibt sich bei solchen Versuchen eine gute Kontrolle unserer Reaktion und unserer Kaltblütigkeit bei einem eventuellen Sturz.

Beim Bergschrund angekommen, der hier überhängend ist, traversieren wir gegen Westen, wo wir über eine Schneebrücke den in der Sonne liegenden Gletscher erreichen.

Wir haben fünfeinhalb Stunden für diesen ersten Abstieg gebraucht. Letztes Jahr machten wir den Aufstieg in zwölf Stunden.

So geht diese letzte Tour über eine Eisflanke der Saison 1955 zu Ende.

Aus dem Französischen übersetzt von F. Oe.

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