Ferientage in den Dolomiten
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Ferientage in den Dolomiten

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Carole Milz, Neuchâtel

Delago- und Stabeler-Turm ( Torri del Vaiolet ) Als alles Kletter- und Campingmaterial im 2CV verstaut ist, finden wir drei gerade noch genügend Platz, um uns auch noch hineinzuzwängen. Nun endlich ist es soweit: Wir starten - am späten Nachmittag - zu einer Ferienwoche in den Dolomiten. Ruhige Nacht an den Ufern des Davoser Sees, Mittagsrast im Kiefernwald des Nationalparks, problemlose Fahrt bis nach Bozen, dann über den Karerpass nach Canazei. Wir haben eben noch Zeit, das Zelt aufzuschlagen, schon stürzt Regen auf uns herab: ein kräftiges Gewitter. Zugleich aber putzt es den Himmel so blank, dass wir am nächsten Morgen das Zelt in der strahlenden Sonne trocknen können.

Für unseren ersten Tag haben wir uns vorgenommen, Marianne die Torri del Vaiolet zu zeigen, die wir vor einigen Jahren mit der JO bestiegen haben. Sie zeichnen sich prächtig vor dem blauen Himmel ab, weisen architektonisch so klare Linien auf, ragen so stolz in die Höhe, dass sie zu den nobelsten und elegantesten Berggestalten der Dolomiten gehören. Mit grossem Vergnügen beginnen wir mit dem Grat des Delago-Turms ( 2700 m ), der uns leichte, aber sehr luftige und eindrucksvolle Kletterei bietet.

Auf dem Gipfel erlauben wir uns eine rechte Pause, um die Landschaft zu bewundern, die sich unter uns ausbreitet: wilde, nackte Felsen und in der Ferne die Königin der Dolomiten, die Marmolada, mit ihrem grossen Gletscher, ein schmutzigweisser Fleck inmitten dieser einheitlich grauen Welt.

Auf die Betrachtung folgen Taten: Wir erklettern noch den Stabeler-Turm ( 2825 m ), der nicht zu grosse Schwierigkeiten bietet, aber uns schöne Eindrücke hinterlässt.

Nach diesem ersten Tag verbringen wir den Abend damit, Führer zu studieren. Sollen wir in die Gegend der so berühmten Tre Cime di Lavaredo ( Drei Zinnen ) zurückkehren? Sollen wir eine der langen und ausgesetzten Routen der Marmolada-Südwand wählen? Oder das Civetta-Massiv? Schliesslich entscheiden wir uns für das Massiv der Pale di San Martine Es ist das südlichste der Dolomiten, zugleich eins der wildesten und interessantesten. Breite und tiefe Täler umgeben es, und zahlreiche befahrbare Strassen erleichtern von allen Seiten her den Zugang.

Im Westen erstreckt sich mit Wiesen und Wäldern das grüne Val Cismon, das vom Passo di Rolle gegen Fiera die Primiero hinun- ter verläuft. Von dort steigt eine schöne Strasse zum Passo di Cereda an der südlichen Grenze des Massivs, mündet dann in das mittlere Valle del Cordevole, das die nordöstliche Begrenzung bildet. Im Norden verläuft das Tal des Torre Biois, eines Nebenflusses des Cordevole.

Unser kleiner 2CV hat ziemlich Mühe, die Steigung bis zum Passo di Rolle zu bewältigen, wir lassen ihn also eine Weile verschnaufen und benutzen die Zeit, um die steile Pyramide des Cimon della Pala - er wird wegen seines Umrisses gelegentlich ( Matterhorn der Dolomiten ) genannt - und die majestätische Cima della Vezzana zu bewundern, aber auch in das im Nebel versinkende Tal zu blicken. Wir verproviantieren uns in San Martino di Castrozza, ehe wir den mühsamen Aufstieg zum Bivacco Velo della Madonna ( 2358 m ) in Angriff nehmen. Nach einer knappen Stunde Wegs durch den Wald müssen wir seinen wohltuenden Schatten verlassen und kommen auf einen steilen, kahlen Hang. Schwer beladen, schwitzen wir grosse Tropfen. Die besonnten Steine strahlen eine erstickende Hitze aus, nicht ein Windhauch kühlt die Glut. Die Feldflaschen sind schnell geleert. Und kein Wildbach weit und breit! Schliesslich erreichen wir nach drei anstrengenden Stunden die ganz neue Hütte. Sie wird von einem sehr ( pittoresken ) Hüttenwart geführt. Draussen auf der Terrasse bereiten wir unser Tomaten-omelett. Wirklich eine verrückte Idee, frische Eier im Rucksack zu transportieren! Aber als wir dann am Tisch sitzen, bedauern wir es nicht. Als es kühler wird und der Nebel allmählich das Massiv einhüllt, ziehen wir uns ins Innere zurück und diskutieren, vor grossen Schalen heisser Milch, mit dem Hüttenwart. Er ist erstaunt über die drei ( ragazze ), deren Pläne ihm reichlich ehrgeizig scheinen. Er erzählt uns von seinen zahllosen Besteigungen des Spigolo del Velo an der Cima della Madonna, die unsere Hütte überragt. Sicherlich muss er ein ganz grosser ( Dolomitenpapst ) sein, wie auch all die berühmten oder unbekannten Persönlichkeiten, deren Porträts die Wände seiner Hütte schmücken. Vor allem aber gibt er uns wertvolle Auskünfte über unsere für den nächsten Tag geplante Route, eben jenen Aufstieg über den berühmten Spigolo del Velo. Der Name hatte uns sofort gefallen, und wir freuten uns schon während unserer ( Ferienplanung ) darauf, diesen kühnen Felssporn zu erklettern. Erst sehr viel später wird uns dann bewusst, dass dieser Name ( Schleierkante> heisst und dass der Schleier der Madonna damit gemeint ist.

Nach einer sehr bequemen Nacht in einem kleinen Vierbettzimmer werden wir am nächsten Tag schon sehr früh geweckt. Wir wollen nämlich die ersten sein, die die Route in Angriff nehmen. Die Einstiegsseillängen, in recht gutem Fels, sind leicht ( III—IV ). An der Schlüsselstelle, einer von zahllosen früheren Seilschaften polierten Kaminverschneidung ( V, übernimmt Marianne die Spitze und bewältigt geschickt - mehr oder weniger elegant, das ist Ansichtssache - die Schwierigkeiten. Der Aufstieg ist luftig, und auf den letzten vierhundert Metern schöner Kletterei begleitet uns die Sonne. Auf dem Gipfel verweilen wir einen Augenblick und benutzen die Gelegenheit, uns der Helme zu entledigen, unter denen der Kopf zwar schwitzt, die aber leider in diesem nicht immer ganz festen Fels unbedingt nötig sind.

Der Abstieg bereitet uns nun allerdings mehr Sorge und Angst als der Aufstieg: Abseilen über Überhänge mit heiklem Abklettern in brüchigen Couloirs und über wenig sicheres Geröll. Nach diesem schönen Erfolg schlage ich vor, noch einmal in unserem hübschen Bivacco Velo della Madonna zu übernachten, denn der immer schwärzer werdende Himmel kündet ein schlimmes Gewitter an. Aber meine Gefährtinnen sind anderer Meinung, sie können es nicht erwarten, neue Wände zu entdecken. Schliesslich packen wir unsere Sachen zusammen und ziehen unter den ersten Regentropfen los. Der Weg führt über Geröll, steigt durch Rinnen aufwärts, wird zur Leiter, dringt dann in den Nebel ein. Gelbe Mohnblü-ten, die einzigen Farbtupfer in diesem Steingrau, zittern fröstelnd.

Nach einem Pass sinkt der Pfad in ein schwarzes Loch. Uns scheint, als gerieten wir in das Innere der Erde, als drängen wir in Plutos Reich ein. Der treibende Nebel macht, ähnlich feuchtem Dunst, die Atmosphäre beklemmend. Wir beschleunigen unsere Schritte, denn wir haben nicht die geringste Lust, an diesem unheimlichen und eingekesselten Ort vom Blitz überrascht zu werden. In die Wand einzementierte Metallsprossen und vereiste Ketten weisen uns den Weg entlang eines Abgrundes, den wir kaum erahnen. Schliesslich kommen wir auf eine etwas freundlichere Wiese und erreichen dann fast im Laufschritt das Rifugio Pradidali. Wir haben Glück gehabt! Kaum einige Minuten nach unserer Ankunft öffnet der Himmel seine Schleusen, zuerst ergiessen sich Wassermas- Abendstimmung bei der Rosettahütte sen, dann folgt ein Hagelwetter, das die Landschaft in wenigen Augenblicken in Weiss hüllt.

Die Hütte ist zum Bersten voll, doch wir finden eine kleine Ecke, um unser Rechaud aufzustellen und Spaghetti zu kochen. Als wir die ächzenden Federn der Liegen entdecken, die feuchten Decken und unsere fünfundzwanzig schnarchenden,schnaufenden und grunzenden Nachbarn im Schlafraum, denken wir wehmütig an unser schmuckes Zimmerchen vom Vorabend. Doch angesichts der entfesselten Elemente draussen - Regen, Wind, Donner - kommen wir zu dem tiefsinnigen Schluss, dass unsere Lage sehr viel schlechter sein könnte.

Am nächsten Morgen beherrscht immer noch Nebel die Szene, und der Boden ist durchweicht. Damit verflüchtigt sich unsere Hoffnung auf eine Besteigung der Cima Canali endgültig. Also unternehmen wir eine hüb- sche Wanderung. Nach und nach reisst der Nebel auf, und bald entdecken wir die uns umgebenden Gipfel vor dem Hintergrund des blauen Himmels. Die geplante Route auf die Cima Canali, die Nordwestkante, verhöhnt uns in der Sonne, aber das Abstiegscouloir ist noch voller Hagelschlossen. Was sollten wir in dieser schwarzen und eisigen Wand mit unsern weichen Kletterschuhen anfangen? Wir trösten uns damit, den kühnen Buhl-Riss, die einzige Schnittstelle, die diese senkrechte Wand durchzieht, zu bewundern. Dann überqueren wir den Passo di Ball und steigen durch ein ziemlich enges Tal hinunter. Der Pfad verläuft am Fuss eines gewaltigen Felssporns, des Gran Pilastro der Pala di San Martino. Haben wir diese Route wirklich in unser Programm aufgenommen? Ist das unüberlegt und unvorsichtig? Auf jeden Fall sind wir jetzt sehr beeindruckt. In der Sonne ausgestreckt, die Nase in der Luft, können wir in aller Musse die sechshundert Meter studieren, die uns überragen. Ein reichlich steiler Anstieg bringt uns zum Rifugio Pedrotti alla Rosetta, das von San Martino di Castrozza aus mit einer Seilbahn zu erreichen ist. Wir lassen unsere Rucksäcke dort und ziehen los, um die grosse Verebnung im Nordosten der Hütte zu erkunden. Diese nackte, sanft gewellte Fläche, die sie umgebenden senkrechten Wände, Spitzen und Türme, dazu die mächtigen Felsbastionen mit ihren vereinzelten Eisflächen bilden einen strengen, an Zauberwerk gemahnenden Rahmen, besonders, wenn sich der Nebel darin verfängt. Eine spärliche Vegetation wächst im Herzen dieses Felsenreichs, das die Cima della Vezzana - die höchste Erhebung des Massivs ( 3191 m ) -, der Cimon della Pala und die Pala di San Martino überragen.

Wir versuchen, uns für den Abstieg am nächsten Tag einige Anhaltspunkte zu merken. Nachdem wir unter den leicht erstaunten Blicken einiger mit der Seilbahn eingetroffener Touristen auf der Terrasse mit Hilfe unseres Rechauds das Nachtessen zubereitet haben, beschliesse ich, auf die Cima della Rosetta zu steigen. Ein halbstündiger müheloser Weg bringt mich auf den Gipfel. Der Anblick von dort oben entschädigt mich reichlich für die zusätzliche Mühe: Die Wolken verschwinden, die Sonne geht in strahlender Schönheit hinter dem grossartigen Panorama unter. Im Hintergrund senkt sich der Schatten der Torri del Vaiolet über grasbewachsene Hänge; das nahe Plateau mit seinem mondartigen Charakter liegt noch im Licht, dahinter erhebt sich das Civetta-Massiv, und im Norden ragt die Südwand der Marmolada auf. Fast in Reichweite erinnert die imposante Pala di San Martino mit ihrer gelbgefleckten Wand durch ihre Form an eine pala d' altare, eine Altartafel. Sie überragt das kleine steinige Tal, das zu dem engen Einschnitt des Passo di Ball aufsteigt.

Ich kann mich von dem zauberhaften Anblick nicht losreissen. Erst als der letzte Sonnenstrahl verschwunden ist, kehre ich im Laufschritt zu meinen Freundinnen zurück.

Am Donnerstag morgen trübt keine Wolke den blauen Himmel. Der Anmarsch - einmal ist keinmal - führt abwärts, und gegen acht Uhr können wir unsern Gran Pilastro in Angriff nehmen. Der Anfang ist eintönig: wenig solider Fels und Gerölltraversen. Wir haben offenbar den richtigen Ausgangspunkt verpasst und müssen nun einen langen feuchten Kamin durchsteigen: ungefähr hundertfünfzig Meter, zum Teil mit Kletterei in sehr feuchter Umgebung. Je höher wir aber kommen, desto luftiger, senkrechter wird die Route. Dazu bedeckt sich auch noch der Himmel! Als wir nach zweiundzwanzig Seillängen das im dichten Nebel liegende Gipfelplateau erreichen, sind wir froh und erleichtert. Dank der Steinmänner kommen wir problemlos zum Gipfelbiwak. Der Hüttenwart des Bivacco Velo della Madonna hatte uns geraten, bei schlechter Sicht die Nacht dort zu verbringen und bessere Verhältnisse abzuwarten. Aber wir haben nicht die geringste Lust, in dieser Unterkunft ohne jeden Komfort zu biwakieren, um so mehr, als unser Picknick spärlich ist und wir kein Gas haben, um Schnee zu schmelzen. Mit Hilfe der zum Glück zahlreichen und an den richtigen Stellen errichteten Steinmänner und des in italienischer Sprache abgefassten Führers -wir müssen all unsere schon lang zurückliegenden Lateinkenntnisse hervorsuchen - bemühen wir uns herauszufinden, ob wir die fünf einander folgenden Grattürme, über die uns der Abstieg führt, rechts oder links, oberhalb oder unterhalb umgehen müssen. Einen einzigen Vorteil hat der Nebel: Er verbirgt uns die Leere, die sich unter uns ausbreitet, so dass wir uns nicht allzu ausgesetzt fühlen.

Als wir nach diesem gefährlichen Abstieg das Plateau erreicht haben, nimmt der Puls wieder seinen normalen Rhythmus an. Die Steinmänner werden seltener, doch die Sehnsucht, noch vor der Nacht die Hütte mit ihrer Bequemlichkeit, die Polenta mit Pilzen der Hüttenwartin und die weichen Betten zu erreichen, verleiht uns Flügel.

Der Abstieg ins Tal über blühende Wiesen und durch Unterholz voller Heidelbeeren und Orchideen versetzt uns in ständiges Staunen.

Nach einer solchen Tourenwoche ist eine Dusche dringend nötig. Also schmuggeln wir uns in den Campingplatz von San Martino di Castrozza, ehe wir uns auf einer Terrasse die traditionelle Glace-Coupe leisten, ohne die eine Kletterwoche nie ein voller Erfolg sein kann. Nun können wir in aller Musse ein letztes Mal diese grossartigen Berge betrachten, den Schauplatz unserer Ferien, die uns von den Heldentaten solcher Männer wie Cassin, Bonatti und Livanos haben träumen lassen.

Aus dem französischsprachigen Teil. Übersetzt von Roswitha Beyer, Bern.

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