Herbstliche Bergfahrt zum Badile
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Herbstliche Bergfahrt zum Badile

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Hugo Wanner

( Chur ) Lieber Franz, damals im September, als ich mit Walter tief in der Nacht still und glücklich nach der unvergesslichen Badileüberschreitung in Bondo Einzug hielt, schrieb ich Dir noch schnell einen Kartengruss, woraus Du meine erste Freude über das Gelingen entnehmen konntest. Seither sind bereits lange Monate verstrichen, und immer noch koste ich an dem grossen Glück, an welchem ich auch Dich, lieber Freund, teilnehmen lassen möchte.

Vor einem Jahr, es war ein heisser Julitag, stieg ich mit meinen Churer Bergkameraden über den luftigen Südwestwandpfeiler auf den Piz Aela. Kaum auf dem Gipfel angekommen, nach kräftigem Händedruck, grüssten wir die bekannten und noch unbekannten Berge im Süden: Palü, Bernina, Roseg, Disgrazia, die Torronegruppe und zuletzt, meinerseits mit innerer Erregung, den Badile mit seiner gewaltigen Nordkante. Ich begann mit Die Alpen - 1952 - Les Alpes21 Walter über den Schwierigkeitsgrad dieser Kante zu diskutieren, und wir machten Vergleiche mit der soeben zurückgelegten Klettertour über den nicht leichten Pfeiler. Als Walter dann den Vorschlag machte, mit mir die Badilekante zu versuchen, kannst Du meine Freude über dieses Zutrauen wohl nachfühlen. Das war das Vorgeplänkel und die erste ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Badile. Seither nun spukte mir seine Nordkante in meinem Gehirn herum, bis sie eben « doregstieret » war. Du weisst ja, lieber Franz, wie es mit mir steht, wenn einmal etwas in meinem Schädel festsitzt, will es so leicht nicht mehr heraus. Aber eben, ohne diesen harten « Innerschwyzer Grend » wäre manche grosse Bergfahrt mit Dir eben nur ein Hirngespinst geblieben. Doch zurück zum Badile! Erst galt es einmal für das notwendige Training besorgt zu sein, denn ohne Härte wäre es ein wages Unternehmen, seine Kante angehen zu wollen. Und gerade im vergangenen Sommer wollte sich bis tief in den August hinein einfach keine Gelegenheit bieten, eine grössere Tour unter Dach zu bringen. Dann ward mir aber Ende August doch noch vergönnt, mit Dir eine Woche im Fornogebiet Granit zu erleben, der an Schönheit nichts zu wünschen übrig liess. Dies bestätigte ja nur zu gut Dein urchiger Schwyzer Jodel beim herzlichen Abschied im Churer Bahnhof, wo sich unsere Wege wieder für ein Jahr trennen mussten. Ich denke da speziell an die letzte Tour dieser Woche, als wir in drei Zweier-Seilschaften über den herrlichen Ostgrat am Casnile hinaufgeturnt sind. Wenn ich diesen Ostgrat besonders erwähne, so deshalb, weil er von Hermann Zuber, dem vortrefflichen Führer und Kenner des Bergells, mit Recht der « junge Badile » genannt wird. Und als dann auf dem Gipfel noch Worte wie Badile-Reife fielen, waren die Beziehungen zum wirklichen Badile schon enger geknüpft. Zudem kam Walter, soeben gut trainiert und gesundheitlich wieder hergestellt, von schweren Kaiserfahrten nach St. Moritz, seinem neuen beneidenswerten Wohnort, zurück. Am Telephon tauschten wir die ersten Ferien-gedanken aus; aber der Badile wurde nur so nebenbei erwähnt, denn schlechtes Wetter und noch etwas Müdigkeit in meinen Knochen schwächten vorderhand noch jeden Auftrieb für neue Fahrten. Mitte der Woche wurden von der meteorologischen Zentralanstalt zwei kräftige « Hoch » prophezeit, und schon hatte auch bei uns die Stimmung umgeschlagen. Schnell wurde der Entschluss gefasst, am Samstag zur Sciorahütte aufzusteigen. Ich hatte um 16.30 Uhr in Silvaplana zu sein, wo mich Walter auf seine « Java-Maschine » lud. Die herrliche Fahrt an den tiefblauen Oberengadiner Seen entlang hast Du ja letzten Herbst selbst erlebt. Als dann aber vor Maloja plötzlich unsere Kante am Horizont auftauchte, begann der Kilometerzähler auf Walters Maschine merklich nach rechts auszuschlagen, und ich musste mich auf dem Soziussitz fester verankern. In bestechendem Stile steuerte Walter sein Motorrad um die eleganten Kurven am Malojapass, hinab ins göttliche Bergell. Lies einmal das unterhaltsame Büchlein des Wanderpoeten J.V. Widmann: « Du schöne Welt ». Wie selten ein Dichter hat er in diesem Reisebuch das traumhaft-schöne Bergell mit seinen malerischen Dörfern und seinen fünf Talstufen besungen. In Promontogno hasteten wir um und schlenderten, von allen Sorgen befreit, ins wilde Bondascatal hinein. Der nächtliche Aufstieg brachte mich auffallend stark zum Schwitzen. War es das Alter, welches sich bemerkbar machte, die Schwüle eines heranziehenden Gewitters, oder vielleicht das unvermerkt eingeschlagene rasche Tempo, welches an meinem Körper die übernatürliche Menge von Schweisstropfen abrang? Im Innern hoffte ich, es sei das letztere. Wie wir dann tatsächlich bereits um 21 Uhr die heimelige neue Sciorahütte betraten, glaubte ich doch, dass ein grosser Teil dem Konto « Tempo » belastet werden dürfe. Es beeindruckte mich nicht stark, dass graue Nebelfetzen gespensterhaft an den Nordwänden der Bondascagruppe herumschlichen und sich das vor kurzem noch unübersehbare Sternenmeer auf zwei bis drei Sternlein verringerte, denn unbeugsam, wie selten, war der Glaube, dass anderntags die Nordkante gelingen werde. In den neuen, molligen Wolldecken der Sciorahütte schliefen wir den Schlaf des Gerechten, so dass wir uns am Morgen sogar um eine volle Stunde verschliefen. Der Himmel war jetzt allerdings mit einer unsympathischen Wolkendecke überzogen, und in pessimistischem Tonfalle verkündete uns Ueli Gantenbein, der liebe Sciorahüttenwart, das Barometer sei um zwei Teilstriche gefallen. Unsere Hoffnung auf eine Wetterbesserung war aber dennoch so gross, dass wir uns die berühmte Kante wenigstens aus der Nähe betrachten wollten. Und zudem war der Tag für eine rechtzeitige Umkehr noch lang genug. Um 5 Uhr verliessen wir die heimelige Hütte und waren froh, nach anderthalb Stunden Moränen den Gratrücken von Sass Fura zu betreten. Himmlisch bäumte sich vor uns die Nordkante in die Höhe, göttlich legte sie sich zurück, je näher wir ihr zu Leibe rückten! Föhn begann den nur mehr leicht bedeckten Himmel reinzufegen. Über Schnee und leichte Platten gewannen wir schnell an Höhe und holten beim Einstieg eine Zweierpartie ein, die von Sass Fura aufgestiegen war. ( Die Unterkunft auf Sass Fura soll heute ganz gut eingerichtet sein. Die Küche wurde modernisiert, und zudem seien sechs Schlafpritschen eingebaut. Wolldecken sind allerdings keine deponiert. ) Um 8 Uhr warf mir Walter das Doppelseil zu, und schon begann die herrliche Kletterei am luftigen Grat. Scharf war das Tempo, das Walter einschlug, aber imponierend seine Sicherheit in der Führung. Hierin liegt ja eine der Voraussetzungen, um die Kante an einem Tage zu begehen. Bald waren wir an der grossen Platte, welche einen heiklen Quergang nach Westen notwendig macht. Nach Überwindung eines Überhanges war das 30-m-Seil aus, und gut gesichert konnte ich nachkommen. Die Kletterei wird immer luftiger, der Tiefblick über Nordost- und Westwand immer gewaltiger. Mit Bewunderung und Staunen würdigt man die Leistung der Begeher der Nordostwand, die aber letztes Jahr wegen Steinschlaggefahr keine Begehungsversuche verzeichnen konnte. Ein gigantischer Granitabsturz ist diese Wand, wie ihresgleichen in den Westalpen selten sind. Der westliche Nachbar, der Piz Badilet, stürzt in unheimlichen Plattenschüssen zur Vadretta Trubinasca hinab. Noch einmal wichen wir leicht nach Westen aus, um dann in zirka Zweidrittelhöhe des Grates auf einem Schuttbande diesen nach Osten zu verlassen, wo im Sommer ein Stück des Grates ausgebrochen ist. Die immer noch unruhige Gratflanke zwang uns, wegen der Steinschlaggefahr das Tempo zu beschleunigen. Etwas abgekämpft erreichte ich nach Überwindung des langen Kamins bei den letzten Türmen wieder den soliden Gratrücken. Der Gipfel rückte immer näher, und bereits befanden wir uns in Rufnähe anwesender italienischer Touristen, die den Badile von Süden her bestiegen hatten. Die letzten Graterhebungen sind geradezu ein Lustwandeln, hauptsächlich dann, wenn das Vertrauen zwischen Vibramsohle und Granit vollständig hergestellt ist. Wegen starker Vereisung des ganzen Grates musste tagszuvor eine Partie auf halbem Wege umkehren. Wir aber trafen die denkbar besten Verhältnisse an. Selbst die verstecktesten Griffe waren trocken und angenehm warm beim Anfassen. Musste einem bei solchen Voraussetzungen nicht das Herz im Leibe jubeln? Freudig beseelt von innerem Glück drücken wir uns zur Mittagsstunde beim Gipfelsignal die Hand. Leichter Nebel zog um den Gipfel, und graupenartig fing es zu schneien an. Aber dennoch erhaschten unsere Blicke im Osten den blauen Süser See, bestaunten Cengalo, Trubinasca, die Scioragruppe mit ihren schwer durchsteigbaren Wänden und Kanten. Kurz nur durfte leider unsere Gipfelrast sein, denn noch lag ein weiter Weg vor uns, hatten wir uns doch zum heutigen Ziele Promontogno gewählt. Der Abstieg zur italienischen Badilehütte im Süden ist leicht. Etwas heikel ist einzig der richtige Einstieg in die Südwand zu finden. Aber auch hier hatte Walters Spürsinn wieder gut funktioniert, so dass wir bereits um 14.15 Uhr in der Badilehütte mit einem etwas faden « Aqua minerale » versuchten, unserem Durste, welcher bei mir besonders grosse Ausmasse erreichte, beizukommen. Nun galt es, entschlossen den Rückmarsch anzutreten, wollten wir tatsächlich noch Promontogno erreichen. Der Rückmarsch nach Bondo über den Passo Porzellizzo Nord und die Bocchetta Teggiola ist wohl weit, aber demjenigen über den Passo di Bondo sehr vorzuziehen. Der Abstieg über den Bondascagletscher ist zeitraubend, da er stark verschrundet ist. Nach einer Stunde standen wir wieder 400 m über der Badilehütte, auf dem Passo Porzellizzo Nord, 2962 m. Vom Passo aus stellten wir mit der Bussole die Richtung unseres nächsten Überganges, die Bocchetta Teggiola, fest. Offen gestanden, die grosse dazwischenliegende Distanz mit den Höhenunterschieden hätten wir uns gerne kürzer gewünscht! Von einem kleinen Regen begleitet stiegen wir das steile Schneecouloir zum Coderagletscherchen hinunter. Ein unfreiwilliger Sturz im Abstieg in harmlosem Gelände behinderte mich anfänglich stark am raschen Vorwärtskommen. Aber dank der tatkräftigen Unterstützung durch Freund Walter gelang es uns doch, noch vor dem Einnachten die Bocchetta Teggiola zu erreichen. Zu einer Rast reichte auch hier die Zeit nicht aus; denn wir hatten auf unserem Fahrplan einen zweistündigen Rückstand zu verzeichnen. Nur zu gerne hätten wir von hier aus den stimmungsvollen Abendhimmel im Süden noch länger betrachtet. Wir mussten aber unbedingt das Dämmerlicht ausnutzen, um noch bei einigermassen guter Sicht die endlos scheinende Geröllhalde im Abstieg hinter uns zu bringen. Als wir die primitiven Hütten der Alp Teggiola erreichten, war es stockdunkel, und wir ersehnten das Silberlicht des soeben aufgegangenen Mondes herbei, der aber damit nur die Gipfel und Gräte über uns bestrich. Mit Karte und Taschenlampe tasteten wir uns auf dem schlechten Weg durch Wälder und über ausgestorbene Maiensässen hinunter nach Bondo. Äusserst genau ist hier die neue Landeskarte, so dass es uns trotz schlechtester Sicht gelang, ohne den geringsten « Verhauer » das längst herbeigewünschte Strässchen, welches nach Bondo führt, aufzufinden. Gerade noch vor der Polizeistunde kehrten wir bei der freundlichen Wirtin zur Pension Sciora in Promontogno ein. Bei einem kräftig mundenden und sicher wohlverdienten Glas Valpolicella klang ein unvergesslich kostbarer Tag aus. Rührend war die Anteilnahme der Wirtin an unserem Gespräch, und köstlich ihre Verbundenheit mit dem Geschehen am « Spigolo », wie die Nordkante von der italienischsprechenden Bevölkerung genannt wird. Bereits um 5 Uhr morgens wurde ich erbarmungslos vom Widerhall einiger Schüsse der soeben aufgegangenen Jagd aus tiefem Schlafe aufgeschreckt. Ich konnte vom Bergell nicht scheiden, ohne vorher die « Schwelle des Paradieses », wie die Terrasse von Soglio genannt wird, aufzusuchen. Mächtig erhebt sich gegenüber Soglio die Bondascagruppe. Wuchtig und stolz steigt aus diesem Naturwunder der Badile mit seiner Kante und seinen grauen Wänden als Beherrscher des ganzen Massivs auf. Gestern noch war er für mich die Cima Aeterna. Heute darf ich ihn als bestiegen in mein kleines Gipfel- und Wanderbüchlein eintragen. Als glücklicher Mensch nahm ich, für dieses Jahr, Abschied vom geliebten Bergell, welches mir so manchen Wunsch erfüllte.

Lieber Franz! Du bist nun würdiger und stolzer Träger des Veteranenabzeichens geworden, aber Dein ewig junges Herz wird nicht rosten, und wer weiss, vielleicht auch bald daraus ein wohltuender Jodel vom Badile herunter an den granitenen Wänden der Bergeller Berge widerhallen. Mit diesem Wunsche grüsst Dich DeinH. W.

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