Impressionen aus dem Verzascatal
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Impressionen aus dem Verzascatal

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Mit 2 Bildern ( 113, 114Von M. Dörig

( Langenthal ) Von heisser Lebenslust entglüht Hab'ich das Sommerland durchstreift, Darüber ist der Tag verblüht Und zu der schönsten Nacht gereift.

Ich steige auf des Berges Rücken Zur Kanzel von Granit empor Und beuge mich mit trunknen Blicken In die entschlafne Landschaft vor.

( Gottfried Keller ) La Marcia ( 2453 m ), Ende August 1950.

Leichtes Flimmern lagerte über dem Berg; ein elegant segelndes Dohlenpaar nur störte mit Kreischen zwei-, dreimal das mittägliche Schweigen. Nach einem zwischen Steinplatten gebrauten Kaffee — im Aufstieg vorsorglich gesammelte dürre Wacholder- und Alpenrosenstauden lieferten ein bescheidenes Feuerchen — legte sich mein Kamerad Hans zum wohlverdienten Nickerchen nieder. Ich selbst halte im Schatten des Gipfelsteinmannes Siesta, lasse aus der Pfeife das Siegesräuchlein steigen, bestaune die intensive Bläue des Firmamentes, gemächlich ziehende strahlendweisse Wolkengebilde und die wildzersägten Gräte, Gipfel und Klüfte der Umwelt. Sachte beginnt es auf der Harfe meines Inneren zu erklingen. Die Gedanken pilgern den Weg zurück, um Stunden, Tage und Jahre — sehr viele Jahre.

So machten wir zwei uns heute, derweilen in unserem tiefgelegenen Standquartier Frasco ( 873 m ) die Gerechten sich noch von Morpheus betreuen liessen, auf die Socken. Während wetterunbeständigen Augustwochen verhiess uns der pastellfarbengetönte Morgenhimmel für den heutigen Tag eine sicherlich schöne Fahrt. Bei der Häusergruppe Cortascia bogen wir von der Strasse ab, und alsogleich begann die Steile. Genau nach der Siegfriedkarte ver- folgten wir das Weglein, das zur Alpe Valdone führen sollte. Aber o weh, wie gerieten wir in staudenüberwucherten Wald! Mit den Pickeln hieben wir uns durch — Buschmesser wären wahrhaftig zweckdienlicher gewesen — und in verbissenem Bergsteigerdrange kämpften wir uns derart durch alle Hindernisse der gähen Waldflanke. Ab und zu bekamen wir den Pfad unter die Füsse, um aber handkehrum durch Felsblöcke von neuem in unserm Lauf gehemmt zu sein. Sie zu überklettern war uns eine Lust. In der untern Staffel der Alpe Conscina trafen wir Alpbewohner beim Emden und bei den zuoberst gelegenen Hütten ( 1718 m ) eine Donna, die mit ihren Kindern einige Rinder und Ziegen zu betreuen hat. Alsogleich kam sie nach einem herzhaften « Buon giorno » in freudig erregtes Gespräch mit uns. Freund Hans, der sich sonst auf die verschiedenen Tessiner Mundarten gut versteht, hatte etliche Mühe, ihrer Rede zu folgen. Nach kurzem Schnaufhalt verabschiedeten wir uns, und weiter lenkten wir unsere Schritte pfadlos empor am steindurchsetzten Wildgrashange. Ihm folgen in mehreren Stufen merkwürdige Felsmauern, die mit Leichtigkeit zu überturnen sind. Im Anblick dieser eigenwillig geformten Steinlandschaft entstand vor meinem geistigen Auge der « Steinerne Wald von Arizona », über welches Naturwunder ich in der Schulzeit eine Schilderung gelesen und die in meiner damaligen Phantasie akurat dieser Marcia-Steinwüste geglichen hatte. Zwanzig Minuten später legten wir unsere Säcke auf der Marciakuppe nieder. Zu bemerken bleibt mir, dass wir für den Abstieg fast die gleiche Route einschlugen, und dass wir von den Hütten auf Valdone an vom Weg sicher in den Wald geleitet wurden, aber wiederum verlor er sich rasch. Von neuem schlängelten wir uns wie weiland Old Shatterhand durchs Dickicht. Abends bei « Amici », während der Nostrano in den Boccalini funkelte, klärte uns der Sindaco auf, unser Pfad werde selten mehr begangen; die Einheimischen bevorzugen schon seit langem den Weg zu ihren Monti von Gerra aus.

Monte Zucchero ( 2735 m ) Zwei Tage zuvor stand ich mit meinem Tourengefährten Hans auf diesem Felsenhaupte, welches uns gleichfalls in hohem Masse zu beglücken vermochte. In den heissen Nachmittagsstunden stiegen wir vom Tale der wilden Verzasca durch den Felsenzirkus der Val Redorta hinauf zu der obersten Hütte der vom stolz aufstrebenden Pizzo Rasia beherrschten Alpe Mugaglia ( 1987 m ). Aufgeregtes Entlebucher Sennenhunde-Gebell verkündete uns, dass die Alp bestossen sein musste. Die untern Sassen, wo wir eigentlich nächtigen wollten, fanden wir nämlich verlassen vor. Wie staunten die Älpler, wieder einmal Touristen zu sehen! Mit Senn, Zusenn und Hüterbub hielten wir das Nachtmahl, und nach einer Plauderstunde im Scheine des Herdfeuers liessen wir fünf Menschen und der Hund Blessi uns beizeiten auf dem primitiven « Glieger » nieder. Unsanft rissen uns die auf dem Blechdache des Stalles ihre Kletterkünste ausübenden Ziegen etlichemal aus dem Schlafe. Recht früh schon kamen wir dann über unverschämt stotzige, mit Geröll gemischte Grasplanggen zum Passo Mugaglia, woselbst wir eine Herde Schafe aus der Morgenruhe brachten. Den anfänglich nicht besonders steilen Grat hinauf gab uns die ganze Schafherde blökend das Geleite. Wir liessen sie nachtrotten, weil sie uns beim Einstieg in den eigentlichen Südgrat sowieso nicht nachfolgen konnte. Um die Kostbarkeiten zu schildern, die uns die — nach den Gipfelbucheintragungen zu schliessen — nicht allzu häufig besuchte Warte des gneisernen Monte Zucchero bot, finde ich nur schwache Worte. Die stimmungsvolle und klare Schau zu den Penninischen, einem Teil der Berner und Bündner Alpen bis zum Monarchen der Ostalpen, dem Ortler, und südwärts über die Wellen der Tessiner Vorberge hinweg, war eine Augenweide sondergleichen. Ebenso imposant erwiesen sich aber auch die enormen Tiefblicke in die Val Lavizzara mit ihren Schluchten und Nebentälchen. Bis zum Zeitpunkte, da Nebelballen vom Gotthardmassiv her die benachbarte Campo-Tencia-Gruppe umschwebten und zuletzt auch uns gefangen nahmen, waren uns derart zwei glückdurchströmte Stunden auf den sonnenumfluteten, aber noch kalten Gipfelblöcken beschieden. Bald jedoch kamen wir auf dem Rückweg wieder an die Sonne und in mittägliche Hitze. Mir bedeutete der Monte-Zucchero -Tag die erste Erfüllung eines lange, lange gehegten Wunsches nach den Zinnen des zentralen Tessins.

Und das war so: Zu Anfang der zwanziger Jahre kam es mich nämlich an, nach recht ausgedehnten Streifzügen in unserem Nationalpark, in der Ortlergruppe und in der Bergwelt des oberen Veitlins, die Heimreise in Biasca zu unterbrechen. Statt nur vom eiligen Zuge aus, wollte ich die vielen malerischen Siedlungen an der Gotthardstrasse näher kennen lernen. Also setzte ich meine Genagelten auf die harte Strasse und stapfte unverdrossen die Leventina hinauf bis an den Fuss des Gotthards. Es war ein höchst köstliches Wandern, dies um so mehr, da ganz selten Motori-siertes den Weg kreuzte. Heute wäre dies an Sommertagen jedenfalls ein ziemlich beängstigendes Unterfangen. Immer und immer wieder betrachtete ich von der Talenge des gischtenden jungen Tessinflusses aus die himmelanstrebenden, rauhen Berghänge, und es war in jenem Jungmannesalter, als in mir Gedanke und Wunsch zu späterer Erklimmung des einen oder anderen Tessiner Gipfels auftauchten. Jahre gingen vorüber — ich staunte von der Gotthardgruppe, ein andermal vom Tamaro, ein drittes Mal von den Bergen rund um Domodossola her in die wildzerrissene Gipfelwelt des mittleren Tessins. Der Wunsch glomm weiter, als ich an einem prachtvollen Märzentag von Chiasso her über den Rücken des Sasso Gordona den noch winterlichen Monte Generoso mit Abstieg über die steile Westflanke, in hartschneegefüllten Couloirs abfahrend, nach Rovio im Alleingang überschritt. Wie flammten auch damals meine Blicke hin zu den violettschimmernden Bergkulissen des Maggia- und Verzascatales. Im reifen Alter endlich Start zum Campo Tencia, dem einzigen ganz auf Kantons-boden liegenden Tessiner Dreitausender. Der erste Anhieb ging indessen daneben, weil Petrus sein Veto einlegte, die Berge verhüllen und die Wolkenvorhänge ausgiebig waschen und auswinden liess. Nahmhaft begossen traten wir den Rückzug nach Dalpe an. Ungebrochen reiften trotzdem meine Pläne.

Auf zahlreichen Wanderungen lernte ich das nördliche und das zentrale Tessin kennen. So entsinne ich mich der Tour von der SAC-Unterkunft auf Vormigel her über Maigelspass und Passo di Bornengo, wobei heraufziehender Nebel die geplante Überschreitung des Piz Borel nach der Cadlimohütte vereitelte. Es war dann eine ganz feuchte Angelegenheit geworden. Wir erreichten die Hütte über die Pian Bornengo. Auch hier trafen wir keine menschliche Seele an. So konnte die legendäre, im Hüttenbuch sogar glossierte Hütten-maus ungeniert zur Inspektion unseres Proviantes antreten, welchem Tun wir indessen rechtzeitig Einhalt geboten. Vom Wettergott besser begünstigt waren wir auf Ferienstreifzügen im Bedretto, ferner auf kleineren Touren über die teilweise sehr rauhen Pässe, wie Corno, Giacomo, di Piatto, di Redorta usw. sowie u.a. in den naturszeneriereichen Tälern von Bavona und Sambucco, während eine begonnene Bergfahrt von Bosco-Gurin aus buchstäblich ins Wasser fiel. Mit Ausnahme der bekannteren Passübergänge Cristallina, Naret und Campolungo traf ich auf allen andern Tessiner Bergwanderungen nie Touristen an. Wohl scheinen die Berge unseres Sonnenkantons vielfach monoton, besonders in den schneefreien Sommermonaten. Wer sie aber zu durchforschen beginnt, ist erstaunt, auf so zahlreiche Naturschönheiten der mannigfachsten Art zu stossen. Ich erinnere lediglich an die vielen, über hohe Wände oder breite Felsbarrieren stürzenden Wildwasser, die nun allerdings in wenigen Jahren durch die grossen Maggia-Kraftwerke zum Teil gebändigt sein werden. Welch reizvolles Schauspiel boten mir beispielsweise die regenbogenglänzenden Fälle auf Monti di San Carlo in der Val di Prato! Ihr Rauschen meine ich jetzt noch wie ein Furioso Verdischen Klanges zu hören. Oder wer kennt die im grandiosen Bergkessel hinter Monti di Cala, ganz oben in der Val di Chironico, stäubenden Kaskaden? Auch diese bedeuten mir ein unvergessliches Erlebnis am Wege über den auf der Val-Vogornesso-Seite äusserst abschüssigen Passo di Piatto. Andererseits, wer stand schon an den zahlreichen, teils malerisch-heitern, teils verträumt-einsamen, in die Tessiner Gneislandschaft eingebetteten Bergseelein?

Zu den angenehmsten Erinnerungen zähle ich besonders die Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft der mit der Heimaterde so eng verbundenen Tessiner Bergbewohner. Dabei haben sie allenthalben einen sehr harten Kampf um ihre Existenz auszufechten. Mancher öffentliche Brunnen in Dörfern des Verzascatales, gestiftet von in Kalifornien lebenden Ticinesi, zeugt von der Auswanderungsflut um die letzte Jahrhundertwende, beweist jedoch auch die Anhänglichkeit dieser Bürger an ihre karge und wilde, aber dennoch schöne Heimat.

Es bleibt mir indessen wirklich noch mancher Wunsch nach der Hochwelt des Tessins offen, in deren bezaubernden Bann ich gezogen bin. Die Gipfelreihe von Madone Grosso bis zur Cima di Gagnone lockte mich als nächstes Ziel im Verzasca. Der Drang zur Erkundung dieser Gruppe führte uns an einem frühen Morgen durch die enge, viele hübsche Wasserfälle aufweisende Valle d' Efra. Regnerisches Wetter hinderte uns indessen, weiter als bis zur Alpe d' Efra vorzustossen. Dafür besuchten wir zwei Tage nach der Marcia-Tour den Pizzo Cramosino ( 2718 m ) Auch diesmal stachen Hans und ich an heissem Nachmittage höhenwärts, über die Monti Iserti zur Alpe della Costa ( 2178 m ). Unverhofft aufgezogener Gewitterregen kurz vor dem Tagesziel beschleunigte unsere Schritte. Drei Mädchen im Alter von ungefähr 6, 9 und 13 Jahren, behütet von einem im offenen Holzschopfe beständig angebundenen Hunde, waren die einzigen Insassen der primitiven Unterkunft. Ihre Aufgabe war das Hüten einiger weniger Kühe. Alle drei strickten beim kümmerlichen Scheine des Hütten-feuers, was das Zeug hielt, Waschlappen, Strümpfe, Lismer, ganz nach Alter und Können. Früchte und Schokolade aus unsern Rucksäcken vermochten dann ihre Schüchternheit zu bannen. Die Nacht hindurch hat es noch eine Weile aufs Dach getrommelt. Doch wiederum in aller Frühe atmeten wir die sommerliche, aber recht feuchte Morgenluft ein. Die Sicht war jedoch sehr gering. Über die obersten mageren Weiden stapften wir stolz wie Spanier dem Trümmerfeld entgegen, welches die Südwestflanke des Berges bedeckt. In diesem selbst stellten wir immer in Sichtweite Markierungssteine auf für den Fall, dass uns der drohende Nebel auf dem Rückweg narren sollte. Zwischen den Gipfelblöcken und Platten des Cramosino, dem man übrigens eine imponierende Schau nachrühmt, duckten wir uns vor den heftig heran-gebrausten, kalten Regenschwaden. Eine einzige Minute lang nur war uns der Blick in die Val Nadro freigegeben. Unter Verzicht auf die Traversierung zum Madone Grosso mussten wir nach längerem Ausharren unsere Säcke endlich doch wieder buckeln. Von der Alpe della Costa an heiterte es zusehends auf und über die ausgedehnten, steilabfallenden Maiensässen von Iserti sind wir wieder in praller Sonne, um ein Verzascheser Bergerlebnis reicher, nach Frasco hinabgeschlendert.

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