J.-P. Meynet, der Prophet vom Theodul
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J.-P. Meynet, der Prophet vom Theodul

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der Prophet vom Theodul

Nach Quellen erzählt von Alfred Graber, Muzzano

( Jean-Pierre Meynet errichtete im Jahre 1851 die erste primitive Unterkunft auf der Passhöhe des Theodulme faut des précipices à mes côtes qui me fassent bien peur.

Jean-Jacques Rousseau Über die Einsamkeit des Theodul strich der wilde Atem des unbeherrschten Windes und wirbelte losen Schnee vor sich her. So weit das Auge zu schauen vermochte, reichte die Eiswüste, gegen das Breithorn wie gegen das Matterhorn, über die Gletscherflächen ins Zermatter Tal und hinunter ins Val Tournanche. Waren es nicht Geister, die den Reigen tanzten in einer Welt, von der man sich am klügsten fernhielt? Hier fand sich keine Weide, nicht einmal für die genügsamen, zähen Ziegen, und der Jäger konnte weder Gemse noch Murmeltier aufstöbern. Wozu also den beschwerlichen Weg aus den Tälern zu dieser Höhe gehen, wo verborgene Spalten auf den Wanderer lauerten und ihn zu verschlingen drohten?

Lasst sie schlafen, die Dämonen, weckt sie nicht, damit sie nicht gar in die Täler hinuntersteigen! Genug schon ängstigen sie Mensch und Tier mit Steinwürfen und Schneerutschen, mit stürzenden Eistürmen.

In Val Tournanche machten sie das Kreuzzeichen, um die Teuflischen zu bannen, wenn der Berg zu grollen begann.

Dann und wann aber schreitet doch einer durch das Dorf, der zum Joch aufsteigt, und man schliesst vor ihm die Tür wir vor einem Verfemten. Nur spärliche Spuren hinterlassen diese wenigen frühen Wanderer auf ihrem gefahrvollen Weg: den Hirtenstab eines Bischofs, die Münzen eines römischen Legionärs, eine Rüstung, eine lästig gewordene Waffe. Und nachts mag dann und wann ein Vogelfreier durch Val Tournanche geschlichen sein, dem unwirtlichen Grenzkamm entgegen, jenseits dessen er Ruhe zu finden hofft in einem Land, in dem man ihn nicht kennt. Dort will er ein neues Leben beginnen, falls ihm der Übergang gelingt. Falls er sich nicht verirrt, falls er nicht erfriert oder in einer turmtiefen Spalte sein Ende findet.

So blieb der Berg der grosse Feind, bis einer kam, der das Fanal entzündete, der die Menschen aufrief und ihnen den Weg zeigte « zurück zur Natur! »: Jean-Jacques Rousseau. Er war kein Rufer in der Wüste, denn die Zeit war erfüllt, als er seine Stimme erhob. Mit einem Male sah der Mensch das goldene Blitzen der Abendsonne an den Berggraten, hörte er das Geläute der Herden, begann er an die Einfachheit der Hirten zu glauben und daran, dass sie ein besseres, naturhafteres Leben führten als die Städter. Die Natur wurde Mode und damit auch der Berg bis an die Grenze seiner Unwirtlichkeit.

Aber da der Mensch nun erwacht war, sah er weiter, hinauf zu den schreckhaften Linien der Felsgrate und Schneespitzen, und plötzlich wurden sie selbst ihm zum Ziel.

Als einer der ersten Pioniere stieg Horace-Bénédict de Saussure 1789 auf die Höhe des Theodul, um hier seine geologischen Beobachtungen anzustellen. Er errichtete ein Zelt und verharrte etliche Tage in der Unwirtlichkeit der Berge. Furcht vor den Geistern kannte er nicht. So kam der Städter dem Bergbewohner zuvor, welcher die Berge nur dort schätzte, wo sie fruchtbar waren, wo sie ihm etwas eintrugen. Und weil weder Hirt noch Jäger einsahen, weshalb sie sich ins Ödland hinauf wagen sollten, musste ihnen das Bergsteigen Geld einbringen. So entstand der Beruf des Bergführers aus der Tatsache, dass es Verrückte gab, die aus Eitelkeit - oder was immer auch die Gründe sein mochten - sich in den Kopf gesetzt hatten, einen Gletscherpass zu überschreiten oder einen Gipfel zu erklimmen.

Die Einstellung der Bergbevölkerung war de Saussure bekannt, und so appellierte er gar nicht erst an den Ehrgeiz, sondern an die Geldgier: Er setzte eine Prämie aus für den, der den Mont Blanc ersteigen würde. Jacques Balmat war einer der ersten, der die Folgerungen aus diesem Angebot zog und den Kampf mit dem « Weissen Berg » aufnahm. Er verbündete sich mit andern, er versuchte es allein, und schliesslich gelang ihm die Besteigung zusammen mit Michel Paccard, dem Arzt von Chamonix.

Zwei Jahre nach seiner ein Jahr später erfolgten Ersteigung des Mont Blanc stand de Saussure oben am Theodul. Das Matterhorn, die Becca, schälte sich damit aus dem Schatten der Anonymität. Aber während der Genfer Gelehrte stets daran geglaubt hatte, dass die Erklimmung des Weissen Berges möglich sei, war er ebenso fest davon überzeugt, dass es dem Menschen nie gelingen werde, das Matterhorn zu erreichen: « Seine zerrissenen Wände, auf denen kein Schnee haften bleibt, sind solcher Art, dass sie einen Aufstieg auf keinem Wege gestatten. » So fühlt er auch den Wunsch nicht, eine Besteigung zu versuchen, während er einige Jahre später ein zweites Mal drei Tage und drei Nächte zu wissenschaftlichen Studien unter einem Zeltdach auf der Höhe des Theodul horstet, im Angesicht dieses Berges, der als einsamer Obelisk, anders geartet als alle übrigen Spitzen der Alpen, sich zum Himmel erhebt.

Welche Zwecke verfolgte de Saussure mit seinen Forschungen? Die Einwohner des Val Tournanche blieben misstrauisch gegen ihn wie gegen jeden, der zum Pass hinaufstieg. Sucht er Gold, oder ist er gar ein Spion?

Und so wie der Älpler im Reisenden einen Menschen sah, von dem er nicht begriff, dass er sein üppiges Leben ohne Grund mit einer harten und mühseligen Bergwanderung vertauschte, hatte auch der aus der Stadt Kommende eine falsche Vorstellung des Bergbewohners, den er als einen glückseligen Menschen betrachtete, dessen Hirtenleben im Zeichen des allgütigen Pan ihm von Rousseau, Haller oder Byron dargestellt worden war. Statt dessen aber fand er Schmutz, Armseligkeit und einen sehr engen menschlichen Horizont, der nicht über die nächsten Alpweiden hinausreichte.

Grau und verwittert waren die Häuser und Hütten von Val Tournanche, der alte Glockenturm der Kirche war längst erneuerungsbedürftig; aber wie hätte man das Geld dafür auftreiben können? Was trugen denn schon die Weiden und Wiesen ein? Das Korn musste tiefer im Tal unten angebaut werden, und wer einen Rebberg besass, auf dessen Wein die Zermatter warteten, der hatte ihn in mühseliger Arbeit im Aostatal zu betreuen. Jagd war die einzige Abwechslung für die Valtorneins, und wen es nach mehr Geld gelüstete, der oblag dem gefahrvollen Handwerk des Schmuggeins. Ein schlecht unterhaltener Saumpfad führte das Tal hinauf. Wer sollte denn hier schon zum Vergnügen reisen? Und rund herum standen unbewegt, den Gesichtskreis einengend, die Berge, welche nichts fruchteten und mit Lawinen und Steinschlag nur Unheil stifteten.

Jean-Pierre Meynet war ein alter Mann geworden; er hatte es nicht weit gebracht im Leben, weil er mit Geld und Gut wenig fürsorglich umgehen konnte, und was er auch unternahm, schlug ihm fehl. All seine Mitbürger in Val Tournanche standen auf dem Boden der Wirklichkeit; er aber war ein Schwärmer, den sie verachteten. Was hatte er nicht schon alles versucht? Man wollte ihn in jungen Jahren auf die geistliche Laufbahn bringen, wie denn fast jede Familie des Tals, die etwas auf sich hielt, ihren Geistlichen aufweisen konnte. Meynet begann seine Studien zwar mit Eifer, vollendete sie jedoch nicht. Es reichte wenigstens zum Schulmeister, und so kam er an die Dorfschule von Paquier. Aber das war auch nicht, was er gesucht hatte: ungezogene, unbegabte Kinder zu belehren, welche den Unterricht als Zwang betrachteten und nicht lernen wollten. Seine Brüder überredeten ihn deshalb, Handel zu treiben; doch die Leute von Val Tournanche kauften das nicht, was Jean-Pierre Meynet ihnen verkaufen wollte, Dinge, die dem Städter lieb sind, für die man da oben, wo nur das Notwendigste begehrt wurde, kein Geld hatte. So blieb Meynet zeit seines Lebens arm; aber begehrte er denn etwa Reichtum? Nein, er wollte höher hinaus.

Seine Studien hatten ihm ein halbes Wissen und einen geistigen Hochrruit hinterlassen; er liebte es, sich seinen Dorfgenossen gegenüber in gewählten Zitaten auszudrücken, mit denen sie nichts anzufangen wussten.

Sie lachten darüber. Ihnen sagten Namen wie Rousseau, Byron und Ruskin nichts. All diese Herrensöhne hätten ja nicht einmal eine einigermassen gerade Furche durch einen steinigen Acker ziehen können! Und Worte verschwenden, das war leicht, wenn man nicht hungern musste, sondern im Überfluss lebte! Was es jenseits des Alltags zu sagen gab, das sagte der Pfarrer am Sonntag in der Predigt, und für das übrige, da war auf die Hände besser Verlass als auf das Mundwerk gelehrter Herren.

Jean-Pierre Meynet zuckte die Achseln, wenn die Leute so daherredeten. Er wusste wohl, da war nichts zu ändern. Seine Dorfgenossen begriffen nicht, dass sie am Besten vorübergingen, was ihnen das Leben zu bieten hatte. Denn sie urteilten nur nach dem Erfolg, und deshalb war « Minette », wie sie Meynet nannten, für sie nichts als ein harmloser, geschwätziger Narr, der im Leben versagt hatte.

Da war Nicolas Pession, der sie ebenfalls schok-kierte, doch von anderem Format. Pession hatte eben begonnen, in Val Tournanche einen Gasthof zu bauen; Pession, Meynets Widersacher, der ungebildete Bauer, sah voraus, dass ein Geschäft zu machen war mit den Fremden, die jetzt jeden Sommer unterwegs nach Zermatt durchs Tal kamen und vergeblich nach einer bequemen Unterkunft suchten, um schliesslich beim Pfarrer Zimmer zu finden, wo sie, mehr schlecht als recht untergebracht, mit frommen Worten und einem kraftlosen Essen abgespeist wurden. Aber wie hätte Meynet es Pession gleichtun können? Denn nur Pession besass Geld. Und wer Geld hatte, zu dem kam immer mehr Geld. Die Weisen der Welt und der Volkswitz waren sich darin einig.

Der alte Mann stand gedankenverloren vor den Grundmauern des Gasthauses. Hier wurde eine Tür in die Zukunft aufgetan. In die Zukunft, der er dienen wollte und auf die er das erste Anrecht hatte. Er, nicht dieser Pession!

« Na, Minette, wie gefällt dir das? » Erschaute sich um. Nicolas Pession stand breitspurig neben ihm, selbstgefällig und dummstolz.

« Eine gute Idee. Sie könnte von mir sein » antwortete Meynet kurz, während der andere lachte, wie man über einen Schwachsinnigen lacht.

Meynet wandte sich weg, und Pession schaute ihm nicht einmal nach. Er brüllte sich an den Zimmerleuten satt und sah schon die Töpfe voll Gold, die ihm das Gasthaus einbringen würde.

Meynet aber lief den Saumpfad aufwärts durch den makellosen Sommerabend, von der Unruhe seines alten, unsesshaften Herzens gepackt. Er ging weit und ohne auf die Zeit zu achten. Bis er plötzlich den Blick aufwärts richtete und das Matterhorn unmittelbar vor sich sah, unwahrscheinlich hoch und auf ewig unerklimmbar. Und gegen Osten dehnte sich die Eiswüste des Theodul aus, von weissen Lichtern und blauen Schatten der untergehenden Sonne gezeichnet. Meynet stand unbeweglich. Die Welt dort oben war schön, so sagten es ihm seine Dichter und Denker, und dadurch war sie auch für ihn von Glanz überstrahlt und zur besseren Erde geworden als die hier unten. Schon als junger Mensch war er mehrere Male zum Theodul aufgestiegen und bei den Trümmern von de Saussures Schutzmauern stehengeblieben, und eines Tages hatte er den Pass nach Norden überschritten und sich in einer Anwandlung von Trotz und Übermut die Marie Zumstein, ein junges Mädchen von drüben aus Praborgne, wie man in Val Tournanche Zermatt nannte, zum Weibe geholt.

Es war nicht die Ehe geworden, die er sich erträumt hatte; seine Frau bewegte sich wie alle Bergbewohner auf dem Boden der grauen Wirklichkeit, und so war sie oft genug unglücklich, weil sie statt eines geordneten, wenn auch harten Lebens immer wieder Luftschlösser vorfand, die den Hunger nicht stillten.

Dennoch blieb sie ihrem Mann tapfer zur Seite und versuchte auf ihre schwerfällige Weise das Beste aus ihrer Gemeinsamkeit zu machen. Nun waren die drei Kinder, die ihrer Ehe entsprossen, längst erwachsen und dem Elternhaus entfremdet. Und sie standen wie zu Beginn wieder allein.

Der Sankt Theodul! Minette dachte laut. Pession baute sich unten ein Gasthaus. Er aber würde oben eines bauen, auf der höchsten Kante, angesichts zweier wichtiger Täler und des Matterhorns. Und Pession und er würden sich die Reisenden gegenseitig in die Hände spielen. Das war die Lösung. Der derbe, struppige Bauer unten, der geistig bewegliche Meynet aber den Gipfeln nahe. Endlich hatte er wieder einen Lebenssinn gefunden. Dort oben konnte er für die Menschen arbeiten und die Ideen Rousseaus in die Tat umsetzen. Und der dumm-schlaue Pession würde gewiss seinen Vorteil darin sehen, wenn er sich mit ihm zusammentat.

Anderntags sah man Meynet wieder auf dem Bauplatz in Val Tournanche.

« Wie wär 's, Nicolas, mit einem Schoppen? » « Den ich dir zahlen soll », lachte Pession.

Meynet Hess sich nicht entmutigen: « Mir recht, wenn du ihn zahlst. Wirst eines Tages das Hundertfache zurückerhalten. » Doch Pession war für Meynets Plan nicht zu haben.

« Das sind Hirngespinste. In diesem Ödland oben macht jeder, dass er möglichst bald weiterkommt. Keiner wird bei den Geistern zur Nacht bleiben wollen. Ich jedenfalls nicht. Und dass dieser Herr de Saussure es damals einige Tage dort aushielt und Steine klopfte, um Gold zu suchen, das will nichts heissen. Von dieser Sorte kommt jede zehn Jahre höchstens einer. Mit solchen Leuten wird man nicht fett... Nun, trink schon... trotzdem... sollst noch ein Glas bekommen. » In Meynet erwachte der Trotz. Es musste auch ohne Pession gehen. Aber vielleicht lieh er ihm wenigstens einige Maultiere, damit er das Notwendigste hinaufschaffen konnte.

Pession bekam es mit der Grossmut: « Die kannst du kriegen. Wenn du dich schon mit Gewalt noch gänzlich ruinieren willst. Dafür sagst du dann den Verrückten, die da oben herumstochern, dass sie ein sauberes Gasthaus in Val Tournanche vorfinden. » Meynet hatte also immerhin etwas erreicht. Und er machte sich gleich an die Ausführung seines Planes. Seine Frau stellte er vor die Wahl, in Val Tournanche zu bleiben oder den Sommer über nach Zermatt zu ihren Leuten zu gehen, falls sie nicht mit ihm aufs Joch wollte. Marie hatte nicht lange zu überlegen. Das ärmliche Zimmer im Hause der Meynets, wo man sie beide nur duldete, möchte sie lieber schon heute als erst morgen verlassen. In Zermatt bei ihren Verwandten zu leben lockte sie ebenso wenig; sie wäre sich dort nach so langer Abwesenheit als Fremde vorgekommen. So fiel es ihr leicht, mit ihrem Mann zum Theodul hinaufzusteigen.

Jean-Pierre Meynet war weder erfreut noch betrübt über ihren Entschluss. Sie konnte ihm zur Seite stehen bei seiner Aufgabe. Etwas anderes überlegte er nicht. Denn er war glücklich, ein neues, würdiges Wirkungsfeld gefunden zu haben. Es hatte lange genug gedauert, fast ein ganzes Leben, wenn man bedachte, dass er die Sechzig schon überschritten hatte. Aber nun war es hell um ihn geworden, hell wie die Schönheit der Berge, die er den Menschen nahebringen wollte.

Und zu Marie gewandt, sagte er: « Du wirst sehen, was wir leisten werden, dort oben an den Grenzen der Welt in Gottes Nähe. Wie sagt doch der unsterbliche Rousseau: ,Alles ist gut, was aus den Händen des Schöpfers kommt. ' Schnee und Eis aber kommen unmittelbar aus seinen Händen, unbeschmutzt von den Menschen, ein Geschenk der Reinheit, das ich als Hohepriester an die darbende und sich sehnende Menschheit weitergeben darf. » Marie murrte etwas Unverständliches vor sich hin. Hatte er sie nicht ein ganzes Leben lang mit Luftschlössern gespeist statt mit Brot? Und auch jetzt noch besass er trotz seiner grauen Haare immer noch sein kindliches Gemüt und eine überströmende Begeisterungsfähigkeit, die wohl Aussenstehende zu bezaubern ver- mochte, deren sie aber längst überdrüssig war. Es war diese « Welt der Träume, in der einzig es sich zu leben lohnte », wie sein Gewährsmann Rousseau sich ausdrückte. Und gegen diesen Ausspruch, den er stets zur Hand hatte, wenn sie sich beklagte, duldete er keinen Einwand. Denn Jean-Jacques Rousseau war sein geistiger Führer.

Die Maultiere schafften Zeltplachen, Lagerstätten, Wein, Käse und getrocknetes Fleisch zur unwirtlichen Höhe. Es war nicht schwer, einen Eiskeller zu graben, in dem die Lebensmittel monatelang aufbewahrt werden konnten. Meynets Bestreben war es, den Gästen nur das Beste zu bieten, vor allem einen starken Weinbrand, der ihre Lebensgeister wieder entfachte, wenn sie durchfroren aufdem Joch ankamen.

Endlich war es so weit. Die beiden stiegen noch einmal schwer bepackt ihrer Gaststätte entgegen, die Meynet nach dem edelsten Tier der Alpen « Zum Steinbock » nannte. Es war ein windstiller Tag, die Gipfel blieben vom lichten Dunst der bläulichen Ferne umschattet, am Matterhorn stand eine helle Schneefahne weit in die Luft hinaus. Und wie sie auf der Passhöhe ankamen, da weilten eben etliche englische Reisende oben, die von Zermatt her gekommen waren und sich auf den grobblockigen Steinen zur Rast niedergelassen hatten.

Das war ein guter, vielversprechender Beginn. Meynet begab sich gleich in die Eishöhle und bot seinen Gästen einen kühlen, leicht prickelnden Wein aus dem Aostatal an, der den Wanderern zu Brot, Käse und Trockenfleisch herrlich mundete, so dass sie des Lobes voll waren und versprachen, den Ruhm des Wirtes zu singen, wo immer sie Gelegenheit dazu fänden.

Minette sah ihnen lächelnd und schmunzelnd nach, als sie gegen Val Tournanche abstiegen; er wusste, dass sie die beste Reklame für ihn waren, die er sich wünschen konnte: zufriedene Reisende, die in dieser letzten Einsamkeit auf eine verschwenderische Weise gelabt worden waren. Er sah goldene Berge vor sich, aber noch mehr, viel mehrals: den Sinn und die Krönungseines Lebens.

Und dann kamen und gingen die Wanderer, es waren nicht viele, und manche gingen vorüber, ohne den Lockungen des « Steinbocks » zu verfallen. Es kamen Sturm und Schnee, wo sich wochenlang niemand zeigte und seine Frau missmutig die kargen Holzvorräte betrachtete, die sie vor der ärgsten Kälte schützen sollten. Wie sparsam musste damit doch umgegangen werden! Durch die Zeltplachen fuhr der Wind; immer wieder mussten sie neu verankert werden. Aber Jean-Pierre Meynet tat jede Arbeit, ohne zu murren; er begann ringsum die Wände höher zu führen, kunstvoll die Steine zu schichten und die Ritzen mit Moos zu verstopfen, um vor dem Wind einigermassen geschützt zu sein.

Ohne zu murren, stieg er oftmals den Weg nach Val Tournanche hinunter, um die Vorräte zu ergänzen, während sein Weib oben blieb und über die Baracke mit dem Zeltdach wachte.

Dann kam der Herbst und damit der Tag der endgültigen Talfahrt. Die Eishöhle wurde sorgsam verschlossen, die Zeltplachen geborgen. Die Wanderer würden nun bis zum nächsten Sommer ausbleiben und die eisigen Stürme monatelang allein regieren.

Da war der lange Winter in Val Tournanche, der verstrich, während er in engen Kammern tatenlos dasass, ohne einen befreienden Horizont, der das Herz weitete. Die Dorfgenossen aber betrachteten Meynet jetzt mit einer Mischung von versteckter Hochachtung und offensichtlichem Neid. Hatte er etwas entdeckt, was ihnen entgangen war? Mochte er bald einen neuen Misserfolg haben, der alte Narr! Nur Pession war nachdenklich geworden, denn manch ein Wanderer hatte ihm das Lob des alten Minette gesungen, von dem er dort oben gelabt worden war.

Schon in den ersten Junitagen des folgenden Sommers sah man Jean-Pierre Meynet wiederum unterwegs nach seinem hohen Joch. Doch erst anfangs Juli kamen die ersten Wanderer, meist von Zermatt her. Unter ihnen befand sich der Gesandte Englands in der Schweiz, Sir Robert Peel, der von der unerwarteten Gastfreundschaft über- Der Theodulpass, vom Gornergletscher aus Photo Markus Liechti. I.icbcfeld wältigt war, die ihm von einem « alten hochgewachsenen Mann mit einem wilden grauen Bart und einer scheuen Frau, die wie eine Magd im Hintergrund blieb », geboten wurde.

« Mit was kann ich Ihnen dienen, hoher Herr? » Neugierig sah sich Peel in dem ärmlichen Räume um: « Was haben Sie denn? » Doch Meynet antwortete nicht, sondern schleppte das Beste herbei, da er instinktiv ahnte, dass ein Mann von Gewicht und Einfluss vor ihm stand.

So stellte er neben den geräucherten Schinken, den Käse, das Brot und den säuerlichen Wein, den alle Wanderer stets gelobt hatten, mit feierlicher Gebärde ein Glas vom hundertjährigen Weinbrand, dessen Flasche er nur selten entkorkte.

« Was für eine Üppigkeit !» rief Sir Peel aus und fügte, nachdem er sich umgeschaut hatte, fragend hinzu: « Wo zaubern Sie das alles her, und warum harren Sie da oben in Kälte und Nacht und Sturm aus, nur um einige Wanderer zu laben? » « Warum, Herr? Nun, weil ich den Menschen die Erhabenheit des Hochgebirgs nahebringen möchte, weil ich ihnen dazu verhelfen will, das zu erleben, was sie sonst zeit ihres Lebens nicht sehen würden: eine Nacht auf dem Sankt Theodul, ohne zu erfrieren, um den Sonnenuntergang und -aufgang an den Gipfeln zu erblicken. Deshalb harre ich hier oben aus. Ich arbeite ja nicht für mich, mein Herr... » Meynet machte eine allumfassende Geste, und sein Gesicht nahm einen fanatischen Ausdruck an: « Ich arbeite für die ganze Menschheit. » Peel schaute ihn mit einem bewundernden Blick an: « Eine schöne Aufgabe, eines Mannes würdig, lieber Meynet. Aber hier sollte ein festgefügtes Haus stehen, das den Wettern Trotz bietet... » Jean-Pierre Meynet machte eine abschätzige Bewegung und kehrte seine Taschen um: « Soviel trägt mein Beruf nicht ein. Ich habe kein Geld, aber wenn da ein Haus stünde, dann liesse sich Grosses ausrichten... » Peel verfiel ins Nachdenken, während Minette ihm die Rundsicht zeigte. Die fernen Mischabel, die Talausschnitte gegen Norden, die makellose Pyramide des Weisshorns, die Eisgefilde des Breithorns, die Tiefe des Val Tournanche. Zum Schluss wandte er sich gegen Westen.

« Das Beste und Grösste aber steht dort, die Becca, das Matterhorn, ewig unbesieglich, ein Symbol für die Menschheit. Wie singen doch die Nornen des erhabenen Lord Byron auf dem Gipfel der Jungfrau:

,Der Mond erhebt sich gross und rund und hell, Und hier auf diesem Schnee, den nie der Fuss Gemeiner Sterblicher betrat, Wandeln wir spurlos nachts... ' » Sir Robert Peel blickte erstaunt auf den alten, ärmlich gekleideten Mann: « Woher kennen Sie diese Verse? » In Minettes Augen glomm der Stolz des geistigen Besitzes auf. Hier stand er einem Menschen auf gleicher Stufe gegenüber, hier fühlte er sich verstanden und anerkannt.

« Wie sollte ich die grossen Dichter der Berge nicht kennen, Monsieur... Die von dem singen, was ich den Menschen nahebringen will: die ewige Erhabenheit der Natur. Sir John Ruskin sagt angesichts des Matterhorns: ,Die Pforten der Berge erschlossen mir ein neues Leben, das erst an den Toren jenes Berges ein Ende finden wird, von dem es keine Wiederkehr gibt. ' Soll ich nicht stolz und glücklich sein, dieses Wunderwerk der Natur den Menschen zeigen zu dürfen? Ist das nicht Lohnes genug, um Entbehrungen und auch Kränkungen von denen da unten » - er machte eine verächtliche Geste ins Val Tournanche hinunter - « entgegenzunehmen? Aber sie können mir den Glauben an mein Tun und an den Sinn meiner Aufgabe nicht nehmen, die armen, elenden Tröpfe, die nicht über ihre Felswände hinausschauen, während mich der Geist der Höhe segnet. » Robert Peel leerte sein Glas Weinbrand in 1 2 Blick vom Schwarzsee zum Breithorn. Rechts das Kl. Matterhorn Photo Lisa Gensetter, Davos-Dorf einem Zug: « Hören Sie, Meynet, ich werde Ihnen bauen helfen, ich werde es Ihnen ermöglichen, ein Haus hier oben zu errichten. Sechstausend Goldfranken sollen Sie haben, Sie werden sie mir verzinsen und zurückzahlen, wie es Ihnen eben möglich ist. Einverstanden? Dann schlagen Sie ein. » Es war der glücklichste Tag in Meynets Leben.

Sechstausend Goldfranken - ein festgefügtes Haus. Und den Rest des Lebens hier oben, wo sich nur Schönheitsbegeisterte einfanden und keine profanen Menschen der engen Täler, mit denen man sich nicht verstand, weil sie nicht die gleiche Sprache redeten.

« Sie werden von mir hören, Meynet », waren die letzten Worte Robert Peels gewesen. Minette stand übergössen vom Firnglanz vor seiner Baracke; über sein verwittertes Gesicht perlten die Tränen der Freude. Das Glück des Lebens war spät zu ihm gekommen; doch was tat es, da es nun doch gekommen war und er in seinem Lichte wandeln konnte.

Er wandte sich dem Matterhorn entgegen und rief die Worte Byrons: « Und ihr, ihr Berge, was seid ihr schön! » Seine Frau schwieg zu all den Worten dieses fremden Herrn, der aus einer andern Welt stammte, als die ihre es war. Wie konnte sie wissen, ob er Wort hielt oder ob er solche Versprechungen leichthin in den Wind sagte. Lieber wäre ihr gewesen, Pession aus Val Tournanche hätte so gesprochen als dieser Engländer, der reich war und verwöhnt, bald wieder mit seinesgleichen zusammenkam und den armen, alten Meynet da oben am Theodul vergass. Doch sie schwieg, um die leuchtende Freude im Gesicht ihres Mannes nicht zu zerstören. Und Meynet fragte auch gar nicht danach, was sie sich dachte.

Der Sommer ging vorüber, und der Frühherbst kam, das Geschäft war schlecht und recht gewesen. Was man verdiente, reichte gerade zum Leben, und doch musste man auch etwas für den brotlosen Winter zur Seite legen, da einem doch 2 niemand half.

Denn das Geld des Sir Robert Peel traf nicht ein. Minette tröstete sich damit, dass solche Dinge sich nicht so rasch abwickeln können, wie er es sich in seiner Ungeduld wünschte. Da gab es wohl manche Transaktionen zu erledigen, von denen er nichts verstand, und schliesslich musste eine solche Summe durch sicheres Geleit hierhergebracht werden. Meynet dachte an die Räuber und Hehler und Diebe, welche die Strassen um Aosta unsicher machten.

Der erste Wintersturm fegte über das Joch und brachte in der Nacht einen Meter Neuschnee. So lange hatte Minette oben ausgeharrt, im Glauben, dass eines Tages ein Bote ihm das Geld in die Hand drücken würde. Nun aber musste auch er mit seiner Frau talwärts eilen.

Marie fand bald heraus, was sich inzwischen abgespielt hatte. Sir Peel hatte in Val Tournanche herumgefragt und sich über Meynet erkundigt. « Ein alter Narr, ein Phantast », hatte man ihm gesagt. Und in der Herberge war ihm von Pession nahegelegt worden, das Geld bei ihm zur Erweiterung seines Hotels « Mont Cervin » anzulegen, anstatt es dort oben in Schnee und Eis nutz- und ertraglos zu vergraben.

Der Gesandte war missgestimmt fortgereist. Auch Pession hatte kein Geld von ihm erhalten, ebensowenig wie der alte Minette.

« Wegen einiger Dichterzitate wäre ich ihm beinahe aufden Leim gekrochen », dachte sich Sir Robert Peel. « Gut, dass ich mich noch erkundigt habe. Soll er es machen wie bisher, ich wünsche ihm Glück dazu! » Nur Minette glaubte weiter an das Versprechen des Engländers, und noch anfangs des nächsten Sommers sagte er dem Alpenwanderer Alfred Wills, dass der Umbau des « Steinbocks » bevorstände, da ihm von hoher Seite sechstausend Goldfranken zufliessen würden. Geheimnisvoll nannte er keinen Namen, aber Wills erriet, um wen es sich handelte, doch wagte er nicht, dem armen, alten Mann seine Zweifel mitzuteilen; mochte er weiter an den englischen Aristokraten glauben, der, wie Meynet sagte, auf an- dere Weise ebensosehr der Menschheit diente wie er. « Wir gehören zusammen, Herr », hatte Minette zu Wills geäussert. « Wir sind eines Blutes und eines Gedankens im Dienste eines gemeinsamen, erhabenen Zieles. » Und er bewirtete Wills fürstlich, war er doch ein Landsmann seines verehrten Sir Peel. Das bronzene Gesicht des alten Mannes strahlte, als er hinzufügte, indem er auf die Gipfel deutete: « Nur die Natur ist die Lehrmeisterin alles Schönen, wie ich einen Ausspruch Ihres Dichters John Ruskin umwandeln möchte. » Wills trug einen unauslöschlichen Eindruck von diesem so seltsamen Mann davon, den er in seinen Erinnerungen eingehend beschrieb. Er erzählte auch, dass die Grundmauern sich bereits halbwegs bis zur Höhe des ersten Stockes erhoben und dass sich eine Zeltplache darüber zum Schütze hinzog.

« Der Grundstock ist gelegt, nun muss mir das Geld Sir Peels zum Dachstock verhelfen, und dann wird alles wetterfest verankert sein und jedem Sturme Trotz gebieten können. » Das kühne Auge Meynets blitzte übermütig, die Hakennase des schlanken, pfeilgeraden Mannes stand ungestüm vor. Er war ein Bild von Gesundheit und Optimismus, wie man es sich nicht besser hätte denken können.

Und während ihn Wills so sah, ahnte er, dass dieser Mann, der hier endlich seinen Lebenssinn gefunden hatte, den Schlag nicht überstehen würde, sobald er einsehen müsste, dass ihm von nirgends her Hilfe zuteil würde.

Er nahm sich vor, mit Sir Peel zu sprechen, doch als er in Val Tournanche hörte, was sich in dieser Angelegenheit dort abgespielt hatte, musste er wohl oder übel davon absehen, da er den Fall als hoffnungslos betrachtete.

Aber war Jean-Pierre Meynet wirklich nur ein Phantast? War er nicht viel mehr ein Pionier, einer, der seiner Zeit voraus war? Spätere Geschlechter würden die Früchte seiner Unternehmungslust ernten, vielleicht mit weniger Enthusiasmus, dafür mit mehr Wirklichkeitssinn begabt.

Und das dritte Jahr schritt weiter voran. Menschen kamen und gingen, Karawanen mit Seilen und Führern, andere gar mit Maultieren, und in den Nächten überschritten oft Einzelgänger, die unter grossen Lasten keuchten, den Pass. Aber auch diese Schmuggler waren Meynet willkommen, mochten sie nun zahlen oder nicht. Er wies nicht einen Menschen von der Schwelle. Manche von ihnen waren ihm nicht wohlgesinnt; doch da oben, wo, wie er glaubte, « die Menschen besser wurden », krochen sie gerne unter sein schützendes Dach, wenn der Sturm tobte, wenn Nebel und Schnee die Spuren verwischten und jede Orientierung unmöglich machten.

Und wenn gar ein Unglück geschah, eilte Meynet als erster zur Stelle, half die Verletzten bergen und aus den Schlünden ziehen, oder er schlug-das Kreuz über die spurlos in einer Spalte Versunkenen, die kein Lebenszeichen mehr von sich gaben, und sprach ein Gebet.

Eines Tages erschien keuchend Nicolas Pession auf dem Theodul, um sich bei Meynet umzusehen. Er liess sich die Vorräte zeigen, betrachtete fachmännisch die Grundmauern und wiegte den Kopf. Weiss Gott, vielleicht liesse sich da doch ein Geschäft machen. Freilich, jetzt war es noch zu früh. Es galt schlau zu sein, abzuwarten und dann den rechten Augenblick zu erwischen. War dieser Pass wirklich Niemandsland, auf dem jeder hausen und bauen konnte, wie er wollte? Die Alpweiden darunter gehörten doch schon seit langem den Pessions. Wer weiss, ob sich diese Besitzrechte nicht bis hieher ausdehnen liessen, wenn man in alten Akten herumstöberte! Aber einstweilen wollte er Meynet machen lassen. Um so besser, wenn dann schon vorgearbeitet war. Schade eigentlich, dass er dem reichen Engländer den Plan, dem alten Narren zu helfen, ausgeredet hatte, ohne selbst einen Gewinn davon zu haben.

Und nun war Pession doch so ehrlich, Jean-Pierre Meynet darüber aufzuklären.

« Du, Minette, dein Engländer wird dich im Stich lassen. Hat nur so vor dir geprahlt und im Dorf unten gesagt, er denke nicht daran, da oben seine guten Goldfranken zu verlochen. Kann's ihm nicht verargen, wenn er bessere Möglichkeiten dafür hat. » « So hat er das, wirklich? Ich glaube dir nicht... » « Wirst es schon müssen, armer Kerl. Aber ich werde dir auch nächsten Frühling wieder mit meinen Maultieren aushelfen. Daran soll 's nicht fehlen, wenn du mich deinen Gästen weiter empfiehlst. » « Dank dir, Nicolas, aber was du über Sir Peel sagst, kann nicht wahr sein. Das ist ein Ehrenmann, der seine Versprechen hält. Hast du je die, Voyages en Zigzag'von Rodolphe Toeppfer gelesen...? » Pession zuckte die Achseln; da kam wieder eine Narretei dieses Phantasten zum Vorschein, die man sich wohl oder übel anhören musste. Wer war schon dieser Toeppfer, irgendeiner dieser Schreiberlinge, von denen der alte Minette stets irgendwelche Aussprüche bereit hatte, um irgend etwas zu erhärten oder zu beweisen.

« Toeppfer », sagte Meynet hochmütig und so, als spräche er zu sich, « Toeppfer sagt: ,Mehr als ein Mensch, der im Flachland Gott vergass, hat sich seiner in den Bergen wiederum erinnert. ' Das heisst », fuhr er fort, die Augen streng auf Nicolas Pession gerichtet, « das heisst, dass der Mensch im Gebirge seine allerbesten Gefühle entwickelt und sich von den höchsten Idealen leiten lässt. Und drum war auch Sir Peel davon berührt, als er mein im Entstehen begriffenes Werk sah, und er entschloss sich zu helfen, nicht mir, sondern gemeinsam mit mir der schönheitsdurstigen Menschheit... » Ein fanatischer Glaube strahlte aus seinen Augen.

Doch Pession sah das nicht. Er wurde nur zornig und dachte: « Dieser Narr, dieser alte, eingebildete Esel. » Und so fügte er hämisch hinzu: « Wenn du es schon wissen willst, ich hab ihm davon abgeraten, dir die sechstausend Goldfranken zu leihen, weil er sie niemals wiedersehen würde, weil sie verloren wären. Weil du kein Geld halten kannst. Weil du nichts von alldem verstehst, was du unternimmst... » Hochaufgerichtet stand der alte Meynet vor ihm. In seinem Gesicht den Glanz der Berge, in seinem Herzen den ersten Zweifel, gegen den er sich mit letzter Kraft zu Wehr setzte. Er hob den Arm, zeigte zur Tiefe ins Val Tournanche und sagte mit beherrschter Stimme:

« Es ist besser, du gehst jetzt, Nicolas. Du gehörst nicht hierher. Du passt zu denen da unten, die nicht verstehen, die niemals verstehen werden, weil sie am Boden herumkriechen und den Blick nicht von der Scholle heben können. Ich aber - ich werde weiter kämpfen, auch ohne dich, auch ohne Sir Peel. Ich brauche keine Hilfe. Wenn Gott mich zu seinem Werkzeug ausersehen hat, dann wird er mir seine Hilfe und seine Gnade zuteil werden lassen. » Pession stand unter dem drohend fernen Blick dieses Menschen, dessen Gedankengänge ihm fremd und undurchdringlich blieben. Er hatte geglaubt, ihm mit seinen Worten einen Schlag versetzen zu können, als er sich in seinen Zorn über diesen Narren hineinsteigerte. Und nun tat es ihm beinahe leid.

« Gut », sagte er, « ich gehe, weil man jetzt nicht mit dir reden kann. Aber der alte Pession ist kein schlechter Kerl, das wirst du bald erfahren. Werden dann im Winter unten Zeit haben, gründlich über die Dinge da oben zu reden, und sicher eine Lösung finden, für dich und für mich... » Meynet antwortete nicht, für ihn war Pession Luft. So wandte sich der Wirt talwärts.

Hinter sich aber hörte Minette ein leises Weinen; Marie hatte dem Gespräch zugehört und erfahren, dass Pession ihrem Mann das erzählte, was sie ihm verheimlicht hatte, um ihn aufrechtzuerhalten: dass das bitter benötigte Geld niemals eintreffen werde.

Und Jean-Pierre, der ihre Anwesenheit sonst kaum zu bemerken schien, strich ihr über di( grauen Haarsträhnen und sagte mit seltsam wei- cher, behutsamer und doch auch verzweifelter Stimme: « Schau Marie, wir werden es schaffen, trotz allem. Alles geht ja weiter, so oder anders, und der Herrgott wird uns nicht im Stich lassen. Wir müssen nur Ihm vertrauen. » Glaubte er wirklich an seine Worte? Er, der Zeit seines Lebens auf sich selbst gebaut hatte, auf sein Genie, auf seine Einfalle?

Wie würde es nun werden?

Er schaute hinauf zum Berg der Berge, den Ruskin das « edelste RiffEuropas » genannt hatte, doch von ihm kam keine Antwort. Die schweigende Grosse der leblosen Dinge war einer anderen Ordnung zugehörig. Zum ersten Male überfiel ihn die Erkenntnis, dass er die Berge wohl bewundern und verehren, nicht aber begreifen konnte, dass sie ihm bei all seiner Liebe fremd blieben. So fremd wie die Menschen, wie Pession, wie Marie, die nie verstehen würden, was ihn im Grunde seines Herzens bewegte.

Der frühe Herbst kam. Die Vorräte gingen zur Neige, aber Minette ergänzte sie nicht mehr. Für diese wenigen noch schneefreien Tage reichten sie aus, und später? Zum allerersten Male sorgte er nicht voraus. Warum warteten sie noch hier oben? Jeden Tag konnte der Schneesturm ausbrechen und Gletscher und Hänge verschütten. Marie sah ihren Mann anklagend an. Sie wollte fort und nie mehr zurückkehren in dieses Dasein von Kälte und Entbehrung. Meynet kannte ihre Gedanken.

Ja, er hörte nur zu deutlich das Grollen in den schwachen Fundamenten, das ihm den Untergang seiner hochfliegenden Pläne verkündete. Er wehrte sich nicht mehr gegen den Zweifel, dass Sir Peel das Geld schicken werde; denn er wusste jetzt, dass Pession die Wahrheit gesprochen hatte.Von nun an musste er allein weiterkämpfen.

Eines Morgens im späten September kam eine Kolonne von mit Weinfässern beladenen Maultieren aus dem Val Tournanche zur Passhöhe, getrieben von einigen Zermattern, die den Wein auf dem gefahrvollen Gletscherpfade in ihr Dorf bringen wollten. Es war eine geräuschvoll- fröhliche Gesellschaft, unter denen auch ein Verwandter der Marie Zumstein war. Die Burschen hatten gute Geschäfte gemacht und zapften da oben ein Fässchen an. Der Weinbecher machte fleissig die Runde. Es hiess, sie müssten sich Mut antrinken für die Gletscherwanderung dem Fuss des Matterhorns entlang, und auch Marie sprach dem Wein tüchtig zu. Bis sie den Mut fand, Minette zu bitten, sie mit den Wallisern in ihr Heimatdorfziehen zu lassen. Sie empfand mit einem Male den Wunsch, Dorf und Verwandte wiederzusehen und den Winter dort zu verbringen.

« Du kannst mir nachkommen, sobald du die Baracke schliessen willst », sagte sie lachend. « In Zermatt lässt sich 's im Winter auch leben, besser wohl als bei deinen Valtorneins. Und vielleicht finden wir dort den einen oder andern, der uns weiterhelfen wird... » Das war so dahergeredet. Sie wollte ganz einfach fort; sie hatte genug. Er konnte es verstehen.

« Ich werde mich im Winter um unsere Pläne kümmern », sagte er leichthin; « ich werde vielleicht zu den Menschen der Ebene reisen müssen. Sie werden sicher mehr Sinn für mein Werk haben als die hier im Tal... » Und als er ihre fragenden Blicke sah, fügte er hinzu: « Selbstverständlich kannst du mit ihnen ziehen. » Sie raffte ihre wenige Habe zusammen und schloss sich den Wallisern an. Während sie mit der Karawane den Pass verliess, hatte Meynet sie schon fast vergessen.

Nun war er allein am Theodul. Alle hatten ihn verlassen. Es war gut so und unabänderlich.

Tag und Nacht folgten sich. Es ging gegen Mitte Oktober, und noch war kein Neuschnee gefallen. Doch die Wanderer waren längst ausgeblieben. Meynet fühlte sich glücklich, er stand hoch über den Menschen, deren Hütten sich unter den feuchten Herbstnebeln duckten, während hier oben der Morgen immer später kam und die Schatten der Berge auch über Mittag sich nicht mehr in die Gipfelwände zurückzogen, sondern breit über Gletschern und Triften lagen.

Er war glücklich in dieser Atempause seines Lebens, glücklich in der grossen Einsamkeit. Er las in einem abgegriffenen Bande aus Rousseaus Schriften, die ihm sagten, woher der Zwiespalt im Menschen stammte: « Alles Unglück kommt daher, dass der Mensch nicht allein zu sein versteht. » Er aber verstand es, allein zu sein, er war es ja zeit seines Lebens gewesen mitten in der Gemeinschaft, der er dienen wollte.

Doch mit dem ersten Sturmtag, das wusste er, war seine Glückseligkeit zu Ende, und er musste handeln. Sollte er wirklich reisen, nach Paris oder London, um dort Geld für sein Werk zu erbetteln? War das nicht eine bittere Erniedrigung, da doch die Menschen zu ihm hätten eilen sollen, glücklich darüber, an seinem Menschheitswerk mithelfen zu dürfen? Sollte er Sir Robert Peel aufsuchen und mit gezogener Mütze vor ihm stehen: « Hier bin ich, hochwürdiger Herr, könnten Sie sich vielleicht nicht doch entschliessen, mir mit den versprochenen Goldfranken beizuspringen? » Undenkbar, dass ein Jean-Pierre Meynet solches tun würde. Peel hatte ihn wohl längst vergessen, würde ihn mit einem kühlen Blick messen und von der Türe weisen.

Meynet blieb weiterhin auf dem Pass, er zögerte, er wartete. Worauf?

Eines Morgens aber kamen die grauen Wolkenfetzen von Westen, sie stauten sich am Matterhorn; am Nachmittag hatten sie den Gipfel umflort, die Welt war grau und einförmig geworden, Nähe und Ferne verwischt, und ein totes Weiss lag auf den Gletschern. Die Luft blieb reglos, als hielte die Hochwelt den Atem an, während aus dem Zermatter Tal langsam eine Wolkenschlange bergaufwärts kroch, die sich mit der aus dem Val Tournanche vereinigen wollte.

Meynet wusste, das bedeutete Sturm und Neuschnee, das endgültige Kommen des Winters.

Er packte seine Habseligkeiten in einen grossen Sack und legte den eisenbewehrten Stock daneben. Doch er konnte sich immer noch nicht zum Abmarsch entschliessen; er setzte sich auf die Holzbank an der rohen Granitmauer seiner Baracke und betrachtete das Schauspiel dieses unabänderlichen Vorgangs, der für ihn Schicksal spielte.

Wie hatte Lord Byron gesagt? « Und ihr Berge, was seid ihr schön !» War es wirklich so, waren sie nicht hässlich ohne das Leben, das die Sonne ihnen spendete? Ein totes Geröll, das von den Menschen mit Recht gemieden wurde, mit Felshöhlen und Spalten, in denen unselige Geister hausten? Da war keine Blume, kein Baum, kein Leben.

War es richtig, im Eis dieses Passes einen Sinn zu erblicken? War es nicht Zeit, sich nach etwas Neuem umzusehen, vielleicht auf einem Schiff übers Meer zu fahren?

Er sass noch da, als die Nacht im Osten aufstieg und den Sturm brachte. Nun war es zu spät zum Aufbruch; aber hatte er nicht auch das gewollt, noch diese Nacht zu erleben und von ihr die Bestätigung zu bekommen, dass er hier nichts mehr zu suchen hatte?

Der Sturmwind sang sein Lied, dem er auf dem harten Lager lauschte. Die Träger des Zeltdachs ächzten. Würden sie standhalten, oder würde das Segeltuch von den Elementen weggetragen werden? Es kümmerte ihn nicht. Er hörte den ungebändigten Elementen zu, und er wollte nicht schlafen. Morgen würde er wieder Zeit dazu haben.

Der Sturm trug Schnee heran, der durch die Ritzen rieselte. Das Heulen und Tosen steigerte sich. Er lauschte, als sollte ihm die Natur, der er gedient hatte, Antwort geben und ihm sagen, was er tun müsse.

Und sie sang und sprach wirklich, bald leise und bald hart. Es war wie die Stimme eines Menschen, der rief, der Worte formte, die unserer Sprache zu entspringen schienen und die doch nicht zu verstehen waren.

Doch es war ja kein Mensch, der zu ihm sprach. Es war der Berg, der sich mit der Nacht und dem Sturm verbündet hatte und der ihm Feind war.

Eis und Stein redeten, sie wollten ihm etwas sagen, aber es gab keinen Weg zwischen ihm und ihnen. Nicht anders war es zwischen den Menschen: Der die Worte sagt, meint sie anders als der, der sie empfängt. Und dazwischen lauert der Abgrund, den wir nicht überspringen können.

Er verstand die Berge nicht, sie verstanden ihn nicht. Also hatte er zu gehen. Die Alten hatten doch recht gehabt; es war eine Geisterwelt, mit der man nichts zu tun haben sollte.

Frühmorgens erwachte Meynet unter einer Schneedecke. Er schüttelte sie fröstelnd von sich, schaute sich noch einmal um in seiner Behausung und sicherte alles, so gut es eben ging. Dann packte er Sack und Stock. Er war entschlossen, wegzugehen und niemals wiederzukehren.

Durch Schnee und Sturm kämpfte er sich abwärts, er kannte jeden Stein am Wege, und so verirrte er sich nicht. Ohne inne zu halten, ging er durch Val Tournanche ins grosse Tal hinunter. Erst in Aosta machte er halt und suchte seinen Vetter, den Notar François Meynet auf, dem er sein kleines Besitztum am Theodul für ein lächerliches Handgeld verkaufte, denn Nicolas Pession sollte es nicht in die Hände bekommen. Noch einmal geriet Jean-Pierre dabei in Ekstase, und so schloss er den Kaufvertrag mit den feierlichen Worten: « Diese Baracke, die der Verkäufer, beseelt von seinen Menschheitsgefühlen, mit guten und kühnen Gedanken zu erbauen gewagt hat, um den Wanderern Gastfreundschaft zu gewähren, sei nun dir, mein Vetter, zu treuen Händen übergeben. » « Was wirst du jetzt tun? » fragte der Notar besorgt.

Meynet machte eine weitausholende, überlegene Gebärde: « Ich gehe einer neuen Bestimmung entgegen, man muss den Ruf des Schicksals annehmen und ihm folgen. Die Menschen haben mich dort oben enttäuscht, vielleicht werden sie mich anderswo nicht enttäuschen... » « Und deine Frau? » « Ach ja, die Marie! Ich werde sie nachkommen lassen, sobald ich etwas erreicht habe.Viel-leicht erscheine ich eines Tages mit gutem Gold im Sack - dann werden du und ich unser Werk dort oben weiterführen. » Er sagte es leichthin, obwohl er wusste, dass er sich anderswo dem Geschick stellen würde.

Der Vetter schüttelte den Kopf. Was konnte er schon tun? So Hess er ihn ziehen, ohne zu erfahren, was Minette vorhatte.

Von diesem Tage an blieb Meynet verschollen.

Die einen behaupteten, er sei von Räubern überfallen und getötet worden, andere, man hätte ihn in Paris gesehen und in London, wieder andere, er habe ein Schiff in Le Havre bestiegen und sei in die neue Welt gefahren. Doch niemand wusste, was wirklich geschehen war. Nur eines ist gewiss: Jean-Pierre Meynet kehrte niemals wieder ins Tal Tournanche und auf den Sankt Theodul zurück.

Der neue Besitzer liess die Hütte mit einem Dach versehen und baute einen Holzverschlag an. Sein Bruder, der Jean-Pierre ähnlich sah, übernahm die Bewirtschaftung ganz im Sinne und Gehaben des alten Minette, so dass ihn manche Wanderer mit ihm verwechselten.

Doch nun war die Zeit für die Pessions angebrochen. Sie wiesen als Besitzer einer unterhalb der Passhöhe gelegenen Alp anhand des Katasters nach, dass auch der Passübergang ihnen zu Recht gehörte. Nach mehreren Prozessen wurde endlich ein Vergleich geschlossen, wobei die Pessions den Meynets das Haus abkaufen und alle Umtriebe bezahlen mussten. Damit fiel der Sankt Theodul den Pessions zu, die das Unternehmen mit dem Anbruch der « goldenen Zeit des Alpinismus » zu hoher Blüte brachten.

Quellen: Alfred Wills: « Wanderings amongst the high Alps », 1950.

M. Engelhardt: « Das Monte Rosa- und Matterhornge-birg », 1852.

Guido Rey: « Das Matterhorn », 1926.

Walter Schmidkunz: « Grosse Berge - kleine Menschen ».

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