Jedem sein Gebirge
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Jedem sein Gebirge

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Françoise Jaunin, Bussigny VD

Die 20. Schweizerische Ausstellung Alpiner Kunst Eiger, Mönch und Jungfrau, dieses berühmte alpine Dreigestirn weckt vielleicht Erinnerungen an die Schulzeit, vor allem aber an Bilder herrlicher, grossartiger Gletscher und eines strahlend blauen Himmels. Diese romantischen Bilder sind so fest in unserer Vorstellung verankert, dass sie uns manchmal am freien Blick hindern. Aber vergessen wir nicht, dass diese Schweiz der steilen verschneiten Hänge, eines alpinen Arkadien und einer Hirtenidylle von Fremden gezeichnet wurde. Es waren nicht Schweizer, die entdeckten, was Madame de Sévigné ( diese erschreckenden Schönheiten ) nannte, die ihre Berge bestiegen und angesichts des erstaunlichen Anblicks ihre Pinsel benutzten. Es waren Engländer, leidenschaftliche und furchtlose Bergsteiger, die mit umgehängtem Aquarellkasten aufbrachen. In der ersten Zeit ihrer Begeisterung für die Alpen hatten sie sogar die grösste Mühe, einheimische Führer zu finden. Die Bergler wussten sehr wohl: Man stört nicht ungestraft die fürchterlichen Geister der Berge. Dann sind die Franzosen gekommen, die Italiener, später noch die Amerikaner, die Deutschen. Die Ölgemälde, Aquarelle und Zeichnungen, die sie zurückbrachten, trugen die Signaturen Turner, Ruskin, Cozens, Victor Hugo, Gustave Doré, William Pars, John Martin, William Scot... Als auch die Schweizer sich dafür zu interessieren begannen, war das Bild der Schweiz schon in ganz Europa und sogar darüber hinaus bekannt geworden. Das hat den Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel zu der Feststellung veranlasse die Vorstellung des durchschnittlichen Schweizers von der Schweiz gleiche exakt derjenigen des durchschnittlichen Engländers, unser Bild von unserm Land sei ein Importprodukt.

Vom kollektiven Bild zur individuellen Vision Man muss also zugeben, dass fremde Einflüsse entscheidend zum Erwachen eines helvetischen Nationalbewusstseins beigetragen haben. François Walter, Professor für Geschichte an der Universität Genf, geht sogar noch weiter und versichert:

L' Eiger, le Mönch et la Jungfrau émergeant du brouillard ( Öl auf Leinwand, 67x90 cm, 1908 ) 124seiner strukturierenden und visionären Malerei gewinnen die Alpen Abstand von der erregten Hochstimmung der Romantiker und zugleich von dem zarten pittoresken Reiz der Werke der Lory, Zing und Aberli. Hodler schafft das moderne Bild des Gebirges. Man hat aus ihm die Symbolgestalt der Schweizer Malerei gemacht. Das heisst aber, ihn in die Grenzen eines Territoriums einzuzwängen, über das seine Bedeutung weit hinausreicht; denn wenn er auch seine Staffelei vor den Alpen seines Heimatlandes aufgestellt hat, so künden doch die Weite und Kraft seines künstlerischen Atems von einer universellen Vision des Gebirges. Hodler gehört zu jenen Künstlern, von denen man sagen kann, dass sie unsern Blick für die Welt verändert haben. Unmöglich, ein Massiv so zu betrachten, als hätte er es nie gesehen. Es gibt Tage, an denen der majestätische Grammont, gegenüber von Vevey auf der andern Seite des Sees, vollkommen hodlerisch wirkt. Es gibt andere Tage, an denen er sich, ganz zart und transparent, zu einem Bild von Bocion wandelt. Nach einem Gewitter, das die Konturen härter und die Farben schärfer scheinen lässt, kann es auch sein, dass er uns an ein Werk von Valloton erinnert.

Die 20. Ausstellung dieses Namens, aber die erste ihrer Art Das Bild

Hodlers Werk bildet in mancher Hinsicht eine Art Scharnier. Seine Darstellung des Gebirges ist ein Beispiel dafür; sie beschliesst das Kapitel der kollektiven Bild-vorstellung und nimmt gleichzeitig dasjenige der individuellen Visionen voraus. Seitdem schaffen die Künstler sehr viel weniger vereinheitlichende, globale Bilder, in denen jeder seine eigene Ansicht wiedererkennen kann, als vielmehr subjektive und auf Teile bezogene Interpretationen, die symptomatisch sind für eine Epoche des Zerbrechens und Zersplitterns und für eine Gesellschaft, die nicht mehr an nur eine einzige Wahrheit glaubt. So trägt auch die Ausstellung in Vevey den Titel

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Fritz Pauli: Bergbauern ( Öl auf Leinwand, 1925 ) Kosmisch, symbolisch, poetisch, metaphysisch Alberto Giacometti hat einen Berg, den Piz della Margna, als ein Kräfte- und Spannungsfeld gesehen, ein Geflecht aus Strichen, das die innere Struktur der Landschaft ergründet und zugleich in hartnäckigem, schmerzvollem Bemühen versucht, eine Hilfe zum Verständnis der Welt mit all ihren ungreifbaren Visionen zu geben. Ernst Ludwig Kirchner, der Deutsche, der lange in Davos lebte, bringt mit seiner farbenreichen Palette die Bündner Berge zum Glühen. Das Matterhorn, von Oskar Kokoschka, dem Österreicher, schwungvoll und mit flammenden Farben « porträtiert ). Der Berner Franz Gertsch wendet sich einem Stück Gebirge mit hyperrealistischem Blick und poeti- schem Sinn für das kosmische Detail zu. Der Tessiner Gianfredo Camesi, ein Zauberer, versteht, die Zeichen im grossen Buch der Welt zu lesen, und bringt gesammelte unsichtbare Energien und geheiligte Geheimnisse in Steinen, Erde, Rinde zum Ausdruck. Dann der Engländer Richard Long: Er setzt auf seinen langen einsamen Wanderungen - eigentlichen metaphysischen Erkundungen der Natur in menschlichem Mass - symbolische Zeichen ( z.B. Linien, Kreise, Stelen ) aus Materialien, die er auf seinem Weg gefunden hat; manche sind in ihrem Kontext photographiert, andere im geschlossenen Raum des Museums metaphorisch wiedererschaffen. Dann sind da der Montblanc von Alexandre Perrier, der Piz Duan von Augusto Giacometti, das Klein Matterhorn von Daniel Spoerri, die Raspille von Palézieux, die Diablerets von Miklos Bokor, das Stockhorn von Rolf Iseli, der Harder von Samuel Buri, der Marchairuz von Tal-Coat, die Montagna Nera von Zoran Music und weitere Werke anderer Künstler, die durch ihre persönliche Sicht der Gestalt unseres Planeten die moderne und zeitgenössische Malerei bereichert haben. In dem umfangreichen Katalog stellen Spezialisten die verstorbenen Künstler vor, die lebenden haben sich alle bereit-gefunden, einen kleinen persönlichen Text über ihre Beziehung zum Gebirge beizusteuern.

Die Berge auf Kupfer, Stein oder Holz Die Werke aller dieser Künstler - angefangen bei Hodler und Trachsel, den ältesten, bis zu den jüngeren wie Michel Grillet oder Helmut Federle - wurden von Schweizer Privatsammlungen oder Museen leihweise zur Verfügung gestellt. Parallel zu diesem weiten ( aber natürlich nicht vollständigen ) Überblick über die Rolle des Gebirges in der Schweizer oder von den Bergen der Schweiz inspirierten Malerei des 20. Jahrhunderts ist eine grössere Anzahl Künstler aus allen Teilen unseres Landes zur Teilnahme an einem Druckgraphik-Wettbewerb aufgefordert worden. Sie können auf diese Weise ihre persönliche Deutung des Gebirges zum Ausdruck bringen. Ein grosser Fries vereinigt Werke aller druckgraphischen Techniken, jedoch ausschliesslich schwarzweisse Blätter, und ermöglicht dank der Vielfalt der Stile und Empfindungen ebenso verschiedenartige Entdeckungen wie unsere Alpengipfel. Schwungvolle Kraft bei Francine Simonin, Besessenheit des Miniaturisten bei Armand Desarzens, kontemplative Ruhe bei Flavio Paolucci, wirre Turbulenzen bei Gaspare Otto Melcher, äusserste Askese bei Jean-Luc Manz und eruptiver Zorn bei Olivier Saudan: All das steht nebeneinander. Das mit dem Preis der Stadt Vevey ( 5000. ) ausgezeichnete Blatt liegt der Vorzugsausgabe des Katalogs bei, die drei Aus dem Französischen übersetzt von Roswitha Beyer, Bern von der Association Arts et Lettres ausgezeichneten Graphiken ( 1x5000., 2x4000 .) werden als Mappe herausgegeben und im Museum verkauft.

Auch die Kinder werden berücksichtigt, zumindest jene der elf Klassen des zweiten Primarschuljahres ( 7-8 Jahre ) im Bereich der Sektion Jaman des SAC. In der Halle des Museums werden sie zwar nicht ihren eigenen Berg zeigen, aber doch jenen, zu dem sie eins der drei Bilder von Hodler, Giacometti und Kirchner, die ihnen als Ausgangspunkt vorgeschlagen wurden, angeregt hat. Alle Klassen haben Anrecht auf einen Vormittag an der Kletterwand ( unter Aufsicht des SAC ) und auf eine Riesenschachtel mit 120 Farbstiften von Caran d' Ache. Ausserdem erhält die siegreiche Klasse eine Einladung für einen zweitägigen Aufenthalt in der Cabane de Jaman des SAC.

Mit dem Ziel, die Ausstellung zu ergänzen und zum längeren Nachdenken anzuregen, wird mit Unterstützung der Volkshochschu-len Vevey/Montreux und Lausanne ein Zyklus von fünf Vorträgen und Besuchen organisiert. Themen sind das Gebirge in der Literatur ( 28. September, Edmond Pidoux ), vom Standpunkt eines Geologen ( 5. Oktober, Philippe Thélin ) und in den Augen eines Kunstsoziologen ( 26. Oktober, Gérard le Coat ), wie es sich bei einer Führung im Museum zeigt ( 2. November, Laurence Rippstein ) oder wie es der Wanderer erlebt ( 9. November, Jean-Luc Seylaz ). Grosse und Kleine, Kenner und Laien, Liebhaber der Malerei vom Anfang des Jahrhunderts wie auch der Gegenwartskunst, Bergsteiger und beschauliche Betrachter, alle Besucher werden etwas für sich und ihre Interessen finden. Das Museum selbst ist entschlossen, sich zum Zeichen der Gleichstimmung und Harmonie anzuseilen ( ja, kommen und sehen Sie !).

WoWann?

Musée Jenisch, av. de la Gare 2, 1800 Vevey, Tel. 021/921 29 50. Die Ausstellung dauert vom 27. August bis zum 5. November 1995 und ist jeweils Dienstag bis Sonntag von 10.30 bis 12.00 und 14.00 bis 17.30 Uhr geöffnet.

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