Korsisches Tagebuch
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Korsisches Tagebuch

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

rVon Wolfgang Schwab

( 23.30. September 1952 ) Mit 4 Bildern ( 18-21. ( Zürich ) Dienstag: Der rosige Hauch des jungen Tages lag über dem Meer, als wir auf dem Oberdeck des « Commandant Quéré » aus unseren Schlafsäcken krochen. Gespannten Blickes schauten wir auf die nahe Küste der gebirgigen Insel, des « Cyrnos » der alten Griechen, und nach 330 km langer Fahrt ab Marseille betraten wir in der Morgenfrühe in Ajaccio den Boden Korsikas.

Zunächst galt es, unsere tausend Dinge - Rucksäcke, Koffer, Schlafsäcke, Zelte - in einem bereitstehenden Autobus zu verstauen. Arnold Glatthard, Leiter der Bergsteigerschule Rosenlaui, hatte unsere Reise organisiert; nun sassen wir alle, er und seine Frau, die zwei Oberländer Führer Immer und Weissenfluh und unsere Schar Kletterfexe beiderlei Geschlechts, um den Frühstückstisch vor dem Hôtel du Golfe. Schon herrschte buntes Treiben auf dem Markt mit den Produkten des Landes: Gurken, Kartoffeln, Obst gesellten sich zu unserem Gepäck. Schliesslich fanden auch wir noch Platz, und gegen Mittag startete unser Bus.

Die korsische Landschaft nimmt uns auf. Eukalyptusbäume mit grauen Stämmen säumen die Strasse, wo uns vereinzelte Wagen mit Maultieren begegnen. Über manche Pässe zieht die Strasse, vorbei an malerischen Nestern, durch Schluchten oder hohen Berghängen entlang. Über der ganzen Landschaft aber liegt das dunkelgrüne Kleid der fast undurchdringlichen Macchia.

Einmal am Col de Tana, erblicken wir nordwärts, in feinen Linien den Horizont abschliessend, unser Ziel, die Aiguilles de Bavella! Bald fahren wir durch das verträumte Dorf Zonza, und nach weiteren 9 km hält unser Bus in einer Strassenkurve unterm Col de Bavella ( 1240 m ). Dort stehen einige Baracken, ein paar Häuschen, eine kleine, bescheidene Herberge.

Die ganze Anhöhe ist von einem prächtigen Kiefernwald bestanden; die Äste und Kronen der grossen Bäume strahlen schirmartig aus und verleihen dem Landschaftsbild ein zauberhaftes Gepräge. Eifrig laden wir aus, errichten unsere Zelte auf einer lichten Anhöhe im Wald, wo eine Kapelle steht. Als Grund dient uns ein weiches Farnbett aus dem Reichtum des Waldes.

Wir kochen bei einer Felsgruppe, deren Steine und Blöcke uns als Sitze dienen. Wie Kinder freuen wir uns über unser naturverbundenes eigenes Heim, als wir unsere Zelte aufsuchen.

Mittwoch: Wir waschen uns am Brunnen bei der Strassenkurve, dann ruft uns der Blechteller-Gong zum « Café complet » am Küchenfels. Das Losungswort für heute heisst « Klettergarten » in den ausgedehnten Felskulissen der Pargologruppe westlich des Cols. Steile Stufen, glatte Platten, Risse, ungäbige Wandstellen gaben uns währschaft zu tun, und unsere Finger trugen willig die Spuren des scharf gekörnten Granits. Bei der Mittagsrast sehen wir hinüber zur Palirigruppe jenseits des Cols, der die Fahrt des nächsten Tages gilt. Dann setzen wir unsere Akrobatik weiter fort, um schliesslich durch einen vertrackten Riss einen kleinen Gipfel im Gratzug der Pargologruppe zu erklimmen. Den Abschluss bildet eine Abseilfahrt gerade in die Scharte unter dem Zacken.

Heiteren Sinnes steigen wir ab. Überall im Gestein sehen wir grosse, kugelförmige Löcher und zernagten Fels, Zeugen einstiger gewaltiger Erosion.

Zum Nachtessen gibt es « Plätzli » aus der « Felsenküche ». Durch die Kronen der hohen Kiefern zieht kalter Wind. Wie schön ist 's im Schlafsack!

Donnerstag: Wir sind in eine Urwaldschlucht geraten, als wir kurz nach 9 Uhr den Waldpfad verlassen haben und nun schwach ausgeprägten Spuren folgen. Über dem Wald führen uns Felshänge weiter. Gleich fällt uns die wunderschöne rosenrote Farbe des Granits auf, die der Palirigruppe eigen ist. Über einen Abbruch erreichen wir einen Grashang und damit den Einstieg zur Punta Velaco, dem Hauptgipfel dieser Gruppe. Hier lassen wir die Rucksäcke und seilen uns an.

Leitete uns zuerst ein kurzes Gratstück auf ein schmales Band, so mussten wir gleich darauf ein bauchiges Wandstück überturnen, dem wir in eine Nische entrinnen konnten. Nun harrte unser ein exponierter Quergang in etwas brüchigem Fels, durch einen breiten Winkel auf abschüssigem Standplatz. Dort, wo der Fels fest war, konnte der Vorderste eine Hakensicherung anbringen, wo jeder frohgemut das Seil am Karabiner einklinkte. Nun ging es an guten Griffen in eine Rinne und in ihr empor zu einem Grasplätzchen. Ein prächtiger Kamin nahm uns auf; mussten wir am Anfang fest stemmen, so brachten wir in seiner Mitte nur zwei Gliedmassen hinein, um uns weiter oben ganz hineinschieben zu können. Über dieser schönsten Stelle des Aufstieges leitete uns ein kurzer Grat noch vor Mittag auf den Gipfel der Punta Velaco ( ca. 1630 m ).

Ein klarer, goldener Tag. Die gleissenden, rotbraunen Türme der Palirigruppe erinnern in ihrer Gestaltung an manchen Bergeller Gipfel. Rings fantastische Felsformen in wilder Schönheit einer Landschaft, wo die Natur noch so unumschränkt waltet wie zur Zeit der Phönizier und Griechen, als sie vor Jahrhunderten die Insel betraten und ihr den Beinamen « Kalliste » - die schönste von allen - verliehen. Über Wald und Macchia schweift unser Blick zur Ostküste, zum blauen Meer, das unmerklich in blauen Himmel übergeht. Alle Farben erscheinen stark und plastisch.

Zum Abstieg! Grasiger Hang leitet uns zu abfallender hoher Wand. Die Reepschnur legt sich um ein Bäumchen, und munter schweben wir nacheinander 25 m hinab zu einem bandartigen Absatz. An die Stelle des Bäumleins tritt nun ein wulstiger Felszacken; die nun folgende, 35 m lange Abseilfahrt dünkte uns am schönsten. Wo die senkrechte Wand im untern Teil zurückwich, pfiff der Wind durch die Schlucht darunter und wirbelte das herabhängende Seilende wild in die Luft.

Während noch ein Teil unserer Kameraden im Abseilen begriffen ist, steigen wir durch die Schlucht zum Depotplatz und holen Rucksäcke und Bergschuhe herauf. Dann entfliehen wir alle dem Schartenwind und steigen jenseits der Scharte empor zu einem breiten Sattel mit vereinzelten Kiefern. Dort, im flimmernden Mittag, ruhen wir aus. Die nun sichtbare Ostwand der Velaco ist von grossen Erosionslöchern durchsetzt.

Schon vom Gipfel haben wir einen langen Gratkamm - den « Palirigrat » - erblickt, dessen Hauptsporn wie ein gewölbter Elefantenrücken geformt ist. Ihn gewinnen wir nun in anregender Kletterei. Der von schroffen Gipfeln gesäumten Mulde südlich vor uns entragt ein ungemein kühner, schlanker Turm, den wir « Campanile di Bavella » taufen. Kaum kann sich unser Auge von diesem Felswunder lösen. Gegen Süden erkennen wir die Bucht von Porto Vecchio.

In warmen Farben leuchtet der Nachmittag, als wir über Stufen und Bänder tiefer steigen. Wir durchqueren ein Chaos von Felstrümmern, zwischen denen sich zähe Bergkiefern behaupten. Durch kniehohe Farnwiesen wandern wir über die Hochfläche lager-wärts. Sorglos zieht eine Herde schwarzer Schafe an uns vorbei. Schon sind wir im Kiefernwald; mit Holz beladen ziehen wir in unserem « Buen Retiro » ein. Am Abend scharen wir uns ums Feuer am Fels.

Freitag: Nachts hat es stark gewindet, und am Morgen regnet es leicht. Der Wind lässt nicht nach, und beim Mittagsschmaus halten wir Rat. Hat uns nicht gestern das silberne Meer gelockt? Bot es nicht den ausgewogensten Kontrast zu unserem Erlebnis am Berg?

So bringt uns ein Auto durch den Kiefernwald hinab in das von den beiden Bavellà-gruppen umschlossene Tal. In 621 m Höhe am Col de Larone umgibt uns längst die Macchia. Ihren scharfen, seltsamen Duft verleihen ihr die mannigfachen Sträucher, die ihr Antlitz formen, insbesondere Myrte, Lavendel, Rosmarin, Wacholder, Zistus, Ginster. Als wir die Ostküste bei Solenzara erreichen, fährt unser Wagen zu einem reizenden Badestrand ausserhalb des Orts. Auf weissem Sand eilen wir in das erfrischende Nass; geniesserisch lassen wir uns von den warmen Fluten tragen.

Am Col de Larone, bei der Rückfahrt, taucht der scheidende Sonnenball die beiden Bergketten in ein Flammenmeer; von hier aus erscheinen sie in ihrer ganzen Länge und ihren dolomitartigen Formen. Doch der Zauberschein erlischt. Während unseres Nachtmahls im Laternenschein geht starker Wind.

Samstag: Sintflutartiger Regen klatschte auf die Zelte, als wir erwachen; dazu fauchte heftiger Wind. Ohne Unterlass schüttete es weiter; es war ein Problem, das Zelt zu verlassen. Um 10 Uhr öffnet sich plötzlich der Zeltschlitz und unser Leiter, in wasserdichter Gewandung, reicht Tee und Butterbrote herein.

Um Mittag wärmt uns die Sonne wieder, doch rast der Wind so donnernd durch die Wipfel, dass man vermeint, es tose ein mächtiger Wasserfall. So brechen wir die Zelte ab und ziehen mit unserer gesamten Habe in ein paar Baracken an der Strassenkehre. Der Farn begleitet uns als willkommene Unterlage unter den Schlafsack; und als unsere neue Wohnung eingerichtet ist, speisen wir um 3 Uhr zu Mittag. Rasch vergeht der Nachmittag; am Abend trinken wir « Fleur du maquis » in der kleinen « Beiz ».

Sonntag: Als wir die Türe öffnen, schauen wir strahlenden Himmel bei erträglichem Wind, und so ziehen wir alle um 9 Uhr erwartungsvoll los. Über dem von der Macchia durchsetzten Felshang, der uns emporführt, liegt der betäubende Duft des Ginsters. Eine Stunde später stehen wir am Einstieg zur Pointe de l' Oiseau, dem südlichen, isolierten Eckpfeiler der Pargologruppe. Seine mächtige Gestalt hatte uns schon am ersten Tag stark angezogen.

Dann stecken wir in dem 80 m hohen Kamin, der die pralle Wand durchreisst. Meistens müssen wir stemmen; nach einer Biegung des Kamins bietet uns ein Felsbalkon daneben bequemen Schnauf halt. Kleinere Überhänge im Kamin liegen unter uns; sein oberes Ende sperrt ein bösartiger Block über beidseitig auseinanderliegenden Wänden. Eine Reepschnur, mit Geschick über den überhängenden Block geworfen, gleitet hinter ihm herab und wird kunstgerecht fixiert. Uns an der aalglatten Wand zur Rechten abstemmend, klimmen wir an dieser schwankenden Leiter höher, bis wir die obere Kante des Blocks erwischen. Über ihm leitet kurzes, grasiges Couloir, wo uns Hagebuttensträucher überraschen, in die schmale Scharte zwischen einem abstehenden Turm, dem « Petit Oiseau », und dem Bergmassiv. Hier verweilen wir ein wenig.

Durch Rinnen und Bänder bewältigen wir das vor uns liegende Wandstück aus rundlichem Granit, queren dann in die jäh abfallende Westflanke hinaus, die hier von Erosionslöchern jeder Grösse mit dazwischenliegenden Felsleisten durchbrochen ist. In diesem steinernen Gewirke greifen wir in Höhlungen und treten auf schmale Felslinien, gewinnen durch eine Rinne einen grossen, glatten Plattenhang. An einem kleinen Felsloch hängen wir einen Karabiner und das Seil ein; so gleitet jeder über die schiefe Fläche und landet hinter vorspringender Rippe auf bequemem Band. Dieses Band, von einem breiten Couloir und kleinen Stufen unterbrochen, führt uns in mählicher Steigung durch die ganze Westflanke zu einer Terrasse in der schmalen Nordseite. Noch ein kurzer, enger Riss, dann errei- chen wir über gestuften Fels eine Stunde nach Mittag den dachförmigen Gipfel der Pointe de l' Oiseau ( ca. 1701 m ).

Im weiten Blickfeld erscheint südwärts die grüne Wald- und Macchia-Landschaft; selbst die Nordküste Sardiniens ist sichtbar. Im Osten vor uns die ganze Kette der Palirigruppe und das schimmernde Meer. Über allen Zinnen und Türmen liegt der milde Hauch des Südens und fügt Macchia, Berg und Meer zu harmonischem Dreiklang. Rings feierliche Stille, die uns sachte ergreift und in die wir wunschlos versinken.

Zögernd wenden wir uns zum Abstieg. Wieder auf der Terrasse unterm Gipfeldach, übersteigen wir ein Erosionswändchen der Ostflanke zu einem Stand, von dem wir uns 30 m tief abseilen können; zuerst zu einem Vorsprung, dann in freier Luft auf breiten Felsabsatz. Das Abseilen machte uns immer riesige Freude!

In schluchtartigem Gefels kamen wir rasch tiefer; um 3 Uhr nachmittags legen wir das Seil ab. Salami, Äpfel, Biskuits bilden unser Mittagsmahl am Fusse der Pointe de l' Oiseau.

Langsam und im heutigen Erlebnis befangen steigen wir tiefer, sammeln uns bei einer einzelstehenden Kiefer mit weit ausladendem Geäst auf der Höhe des Cols.

Unterm Sternenhimmel sitzen wir an unserem Zeltplatz ums lodernde Lagerfeuer. Wohl befinden sich die höchsten Gipfel, der Monte Cinto ( 2710 m ) und der Monte Rotondo ( 2625 m ) im Norden der Insel, doch das Dorado für eigentliche Kletterfahrten sind und bleiben die Aiguilles von Bavella. Und ziehen wir Vergleiche mit Touren in den Alpen, so kommen uns vor allem Klettereien in den Dolomiten in den Sinn; der Granit, in dem wir kletterten, war ja durch die Erosion relativ « weich », und so hatten wir auch hier die im Kalk übliche Technik verfolgt.

Unser aller warmer Dank gebührt unserem Leiter, seiner Frau, unseren Führern; wir singen und sind glücklich. Langsam verglimmt das Feuer.

Montag: Wir machen uns reisefertig, suchen nochmals unsere liebe « Märchenwiese » auf - und schon ist der Bus da.

Nach Zonza geht die Fahrt südwärts. Das Land wird mählich bebauter; silbergraue Olivenhaine und Kastanienalleen säumen die Strasse.Vereinzelt im Gelände stehen « Toten-häuschen », denn die korsischen Geschlechter liebten eine einsame Ruhestätte. Wir durchfahren das pittoreske Felsennest Sta. Lucia di Tallano. Schon zeigen sich Kakteen.

Um Mittag an der Westküste in Propriano suchen wir gleich den Badestrand auf. Nachher geniessen wir « frittura di mare ».

Die Strasse wendet sich wieder landeinwärts nach Olmeto, macht zahlreiche Windungen, übersetzt Flüsse und Schluchten auf Brücken. Von ihrem Höhepunkt am Col de St-Georges senkt sie sich wieder meerwärts. Als die Sonne in goldenem Farbenspiel im Meer versinkt, sichten wir Ajaccio. Das Hôtel du Golfe nimmt uns auf.

Dienstag: Wir bummeln durch die Stadt. Über der Altstadt mit ihren Gässchen zieht sich der « Cours Napoléon », die Hauptverkehrsstrasse, nach der « stärksten Ausgeburt Korsikas » benannt. Den schönsten Badestrand finden wir südlich der Stadt, von einem Pinienwäldchen verborgen.

Abends ziehen wir aufs Oberdeck des « Sampiero Corso », breiten zum letzenmal unsere Schlafsäcke aus. Immer mehr entschwindet unsere Insel, während der Dampfer unentwegt in 240 km langer Fahrt in sternklarer Nacht gen Nizza zieht.

Uns aber bleibt in unversiegbarer Erinnerung unser Erlebnis in der beglückenden und berückend schönen Region um Bavella.

Feedback