Kreuzberge - ein Jahrhundert Klettergeschichte
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Kreuzberge - ein Jahrhundert Klettergeschichte

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Vor 100 Jahren wurden die ersten Gipfel der Kreuzberge bestiegen This Isler, Grabserberg, und Meinrad Gschwend, Altstätten Frühmorgendliche Stimmung bei der Roslenalp ( Hervorragender Fels und erlesene Schwierigkeiten ) ( Nicht Grösse und Höhe haben den Kreuzbergen den Ruf als schönstes Klettergebiet der Alpen eingetragen, wohl aber die seltene, wilde Schönheit der Formen, hervorragender Fels und erlesene Schwierigkeiten. ) So der Toggenburger Paul Schafflützel in einem Artikel, der 1943 in den ALPEN veröffentlicht wurde.

Von ihrer Faszination haben die markanten Zacken hoch über dem St.Galler Rheintal nichts eingebüsst. Seit genau 100 Jahren wird in diesen schroffen Kalkfelsen Klettergeschichte geschrieben.

Auf allen Vieren 1893: Auf den bekanntesten Gipfeln des Alpsteins hatte man bereits stattliche Gasthäuser errichtet, wo sich Jahr für Jahr Hunderte von Besuchern einfanden. Demgegenüber waren die unzugänglichen und abweisenden Kreuzberge noch jungfräulich. Es war bereits Anfang November, als es Carl Egloff, einem St. Galler Stickereizeichner, und Johann Nänny, Schlossermeister in Appenzell, gelang, das allgemein herumgebo-tene Prädikat ihrer Unbesteigbarkeit zu widerlegen.

Tiefgründiger Schnee zeigte ihnen den Zugang zur Scharte zwischen dem 3. und 4. Kreuzberg. Auf allen Vieren kletterten sie durch das steile, gefrorene Couloir und begannen dann ihren Aufstieg zum 4. Kreuzberg über einen vereisten abschüssigen Rasenhang. ( Infolgedessen kam es nicht selten vor, dass der durchnässte Schuh auf dem zum Vorschein kommenden hartgefrorenen Rasen ausgleitete, und mehr als einmal waren wir gezwungen, durch energisches Einhacken des Pickels den status quo wieder herzustellen. ) Die Schwierigkeiten wurden immer grösser, vor allem als es galt, von der Westspitze aus den etwas höheren Ostgipfel zu erreichen. ( Durch eine breite, schaurige Kluft von uns getrennt, türmt sich derselbe als wilder, trotziger Geselle vor unseren neidischen Blicken auf. ) Noch heute hat dieser Übergang mit seinen steilen, exponierten und schuttgefüllten Rinnen wenig Reizvolles.

Den Erstbegehern bereiteten Schnee und Vereisung zusätzliche Schwierigkeiten. Am Ziel dann nichts von Gipfelglück, sondern nur die quälende Frage:

Gefallene Festung Damit war der Bann gebrochen. Die Kreuzberge waren nicht mehr unbesteigbar. Noch 1941 hiess es in einem ALPEN-Artikel, die Erstbesteigung des 3. und 4. Kreuzberges sei ( bestimmt mehr wert als die Bezwingung irgendeiner Nordwand in den Alpen. Eine schimmernde Festung ist gefallen. ) Egloff selber bezeichnete die Routen auf diese beiden Kreuzberge als Touren, die ( unstreitig zu den interessantesten im Alpsteingebiet gezählt werden könnten ). Rasch erhielten die beiden Kreuzberge weitere Besucher.

Waren Egloff und Nänny wirklich die ersten? Egloff selbst zweifelte daran. Denn Jahre vor ihnen sei ein Hirt einer Geiss nachgeklettert, wobei er die Scharte zwischen dem Dritten und dem Vierten überschritten hätte. Ein Wildheuer soll gar zuvor auf dem Gipfel des 8. Kreuzberges ein Adlernest ausgenommen haben.

Verfasser des Alpsteinführers Carl Egloff gelangen alsbald weitere Erstbesteigungen. 1894 fand er durch einen steilen Kamin und über einen ausgesetzten Grat den Weg auf den Gipfel des 2. Kreuzberges und 1895 erreichte er den 8. Kreuzberg. Insgesamt hat er fünf Gipfel als erster bestiegen. Auch die heute gebräuchliche Einteilung in acht Gipfel stammt von ihm.

Carl Egloff verfasste ebenfalls die Führer über das Säntisgebiet von der Erstausgabe im Jahr 1904 bis zur 5. Auflage und schuf damit ein vorbildlich ganzheitliches Werk. Bis ins hohe Alter durfte er mit den Kreuzbergen verbunden bleiben: 1938 feierte er auf dem 5. Kreuzberg den 70. Geburtstag und gleichzeitig seine 70. Begehung des persönlichen Lieblingsberges. Nänny, sein Leibführer, war offiziell ohne Führertitel. Doch häufig begleitete der hervorragende Bergsteiger Gäste in den Alpstein, mit Vorliebe in die Kreuzberge, die er ebenso häufig allein besuchte. Seine grösste Tat aber war die Erstellung des Li-sengrat-Weges zum Säntis.

Egloffs Texte, besonders die Herausgabe des Bildbandes Alpine Majestäten und ihr Gefolge, in welchem die Kreuzberge ausführlich dargestellt wurden, machten diese Gipfel weit über die Schweiz hinaus bekannt. Dies und der Umstand, dass drei Gipfel dieser Bergkette noch unbestiegen waren, rief eine Vielzahl von Kletterern auf den Plan. Viele Seilschaften waren in der Folge fast jedes Wochenende hier zu finden. Der Wettstreit um die letzten unbestiegenen Zacken hatte begonnen.

Preisgeld für den 1. Kreuzberg Mit aller Kraft versuchte sich 1903 Hans Dübi am 5. Kreuzberg. Begleitet wurde er von einer Frau, der talentierten Bergsteigerin Hermine Kläger. Bereits in der Pionierzeit der Kreuzberg-Ersteigungsgeschichte begegnen wir immer wieder Frauen, was für die damalige Zeit eher ungewöhnlich war. Am 11. Juni 1903 gelang der Seilschaft Dübi/Kläger schliesslich der Aufstieg über die Nordwand zum Gipfel des 5. Kreuzberges.

Vom Roslenfirst zu den Bündner Bergen, unter dem Nebelmeer das Rheintal Winterabend am Roslenfirst mit Blick auf alle acht Kreuzberggipfel Damit waren die beiden aber nicht zufrieden und versuchten ihr Glück am 1. Kreuzberg, um den inzwischen ein eigentlicher Be-gehungskampf entbrannt war. Für die Erstbegehung soll damals gar ein Preisgeld ausgesetzt worden sein. Die besten Kletterer massen sich an diesem abweisenden Berg: Carl Peretti, der bekannte Viktor Sohm, die Seilschaft Richard Güttler/Bernhard Schuh, ja sogar Altmeister Nänny.

Ihre Unternehmungen starteten sie meistens von der Südseite aus. Angesichts der überaus steilen und abschüssigen Rasenhänge staunt man noch heute ob der Tollkühnheit der damaligen Erschliesser. Als Hans Dübi und Hermine Kläger, begleitet von Maurice Juilland, in die Südseite des Ersten einstiegen, fanden sie in den fast senkrechten Schrofen immer wieder Markierungen ihrer Vorgänger. Auch sie wurden schliesslich zum Rückzug gezwungen, dabei stürzte die junge Frau zu Tode. Hans Dübi wurde ein bekannter Alpinist, doch aus dem Wettstreit um die Kreuzberge zog er sich für immer zurück.

Dank einer Leiter Am 6. September 1904 schlossen sich Peretti, Güttier und Schuh zusammen. Inzwischen waren verschiedene Kletterer bis zum Grat gekommen, doch keinem war es geglückt, die tiefe Scharte zu überwinden. Dies gelang erst der Dreierseilschaft auf ungewöhnliche, künstliche Weise, nämlich mit einer zehn Meter langen Leiter. Heute kann man sich kaum vorstellen, wie sie diese Leiter über die Südflanke heraufgeschleppt haben. Der später gebräuchliche Weg durch die nassen und brüchigen Nordkamine wurde erst im folgenden Jahr gefunden.

Güttier und Schuh schien die Leiter-Me-thode nicht zu befriedigen. Sie bemühten sich um eine sportlichere Begehung, seilten sich vom Schartenturm nach Süden ab und kletterten vom Schartengrund nach oben. Die damals sehr aktiven Gebrüder Müller, die bei vielen Erstbegehungen anzutreffen waren, überspreizten später den Spalt und kletterten nordseitig höher. Dieser Weg wurde dann auch bei den nachkommenden Seilschaften gebräuchlich.

Der Kleinste als letzter Unbestiegen war jetzt bloss noch der kleinste der Kreuzberge - der Sechste - geblieben. Eine Reihe von Versuchen, darunter auch ein ( Angriff mit Eisenstiften> von Pichl und Sohm blieben erfolglos. Wiederum war es Richard Güttier, der mit Bernhard Schuh und Hans Blüthner am 18. September 1904 einen Weg auf den Gipfel fand.

Ihre Route begann in den Höhlen am Nordfuss. Durch den Berg hindurch erreichten sie die Geröllterrasse beim Felsenfenster. Schliesslich überwanden sie einen steilen, glatten und oft feuchten Schinderriss. Dieses Unterfangen darf mit Recht als ekelhaft bezeichnet werden; und jeder, der den Riss hochkriecht, wird auch heute noch für Güttier eine Gedenkminute einschalten. Zur Zeit stecken in dieser Seillänge vier Haken. Güttier meisterte diese Stelle ohne Sicherung, und zu Recht trägt der Riss den Namen des Ertbegehers.

Güttier war noch viele Jahre im Alpstein aktiv, er durchstieg die Westwand des 6. und 7., die Nordwand des 2., 3., 4., die Südwand des 4. und die Ostwand des 7. auf neuen Wegen und traversierte 1906 als erster alle acht Gipfel.

Der Fünfte als Klassiker Der damals ebenfalls sehr aktiven Seilschaft Pichl/Sohm war - anders als im übrigen Alpenraum, wo sie mit vielen Neutouren Geschichte machten - in den Kreuzbergen wenig Erfolg beschieden. Ihre Routen am 5., 7. und B. Kreuzberg wurden nicht wiederholt. Ganz anders aber der Westgrat des Fünften. Mit dieser Route gelang ihnen am 12. September 1905 zusammen mit Karl Huber ein schöner Wurf: eine Genusstour, die recht schnell zum absoluten Liebling vieler Kletterer, zu einem richtigen Klassiker, wurde.

Der sechs Jahre dauernde Wirbel um Erstbegehungen hatte dieses Gebiet zunehmend bekannt gemacht, so dass immer mehr Bergsteiger angesteckt wurden. Rund um die Zacken der Kreuzberge herrschte an den Wochenenden deshalb fast Jahrmarktsstim-mung, was seinerseits die ruhesuchenden Bergsteiger bewog, sich zurückzuziehen. Die Gipfel der Kreuzberge waren ja ( gemacht ), das Normalvolk konnte nachkommen. Während der kommenden 25 Jahre blieb es in Sachen Erstbegehungen ziemlich ruhig.

Solotouren am ersten Kreuzberg Aus dieser ereignislosen Zeit stechen die Solotouren von Walter Risch heraus. Am Fusse der Kreuzberge wohnend, bestieg Walter Risch, der später zu einer ganz berühmten Bergführergestalt heranwuchs - die Erstbegehung der Badile-Nordkante ist seine bekannteste Leistung - ab 1916 den Ersten Kreuzberg mehrmals. Egal ob Sommer oder Winter, meistens war er allein. Besonders aufsehenerregend war seine erste Begehung eines neuen Weges durch die Kaminreihe der Südostwand - eine Solo-Erstbegehung im Winter, und alles um einen Grad schwieriger als alle bereits in den Kreuzbergen bestehenden Routen.

Neue Massstäbe Im Spätherbst 1928 setzten Ernst Holderegger und Emil Tribelhorn mit ihren Routen an der Nordostkante des 5. und an der Ostwand des Daumens am 6. Kreuzberg völlig neue Massstäbe. Die Nordostkante galt lange als das schwierigste Kletterproblem in den Kreuzbergen. Über eine senkrechte Stufe führt die Route zu einem überaus luftigen Quergang um eine Ecke herum auf die Nordseite, wo ein senkrechter Riss nach oben führt.

Besonders originell ist ihre Route am Daumen. Das 15 Meter hohe Steilstück stellte die erste satte Sechser-Route in den Kreuzbergen dar. Gesichert wurde jeweils von hoch oben, an einem Gratzacken am Westgrat des Fünften. Mit einem Spreizschritt trennt sich der Anwärter vom Schartengrund, und an winzigen Griffen gilt es, hoch über dem Rheintal die senkrechten Meter zu überwinden. Wer es nicht schafft, pendelt erbarmungslos durch die Luft zurück in ein kleines Felsenfenster am 5. Kreuzberg.

Dies war damals die letzte Prüfung, das Herzstück eines Kreuzberg-Spezialisten; kam er hier hinauf, hatte er das Schwierigste in diesen Felsen geschafft. Niemals wäre jemand auf die Idee gekommen, hier einen Haken zu schlagen.

Sparsame Hakenverwendung Haken waren in dieser Zeit verpönt. Manchmal kam es vor, dass an gewissen Schlüsselstellen einer zu finden war. Oft handelte es sich nur um einen Eisenstift oder einen Fensterhaken. Im übrigen erlaubte es der Respekt vor diesen Felsen nicht, die Schwierigkeiten durch Haken herabzusetzen. Einzig die notwendigen Abseilhaken waren vorhanden.

Noch 1934 schrieb Samuel Plietz in den ALPEN, die Kreuzberge würden für ( Mauerha-ken-Artisten ) kein Betätigungsfeld darstellen. Jener Mann, der die nun kommende Erstbesteigungs-Serie eröffnete, entsprach noch dieser Einschätzung: Hans Biedermann, der in den dreissiger Jahren Nachlese hielt. Dabei eröffnete er die genussvollsten Kreuzberg-Wege des mittleren Schwierigkeitsgrades. Auf sein Konto gehen die nach ihm benannte Kante an der Südwestecke des 7. Kreuzberges und die beiden Rippen am 3. Kreuzberg, die bis heute Moderouten geblieben sind. Ähnlich schöne Touren im mittleren Schwierigkeitsgrad fanden Max Herzig und Felix Melliger in den vierziger Jahren in der Westwand des B. und am Westgrat des 4. Kreuzberges.

Nationale Rivalitäten Doch schon hatte sich eine neue Gruppe von Bergsteigern gebildet, die sich an die unbezwingbar geltenden Wände heranwagte. Ihr Wettstreit um neue Routen wäre ohne die Verwendung von Haken und Karabinern, wie man sie bereits in den Ostalpen kannte, nicht denkbar gewesen. Im Mittelpunkt der Bemühungen der neuen Klettergeneration stand die Ostkante des 1. Kreuzberges. Auftakt zu einer Serie von Erstbegehungen bildete wohl die Tatsache, dass 1935 ausgerechnet deutschen Bergsteigern gelungen war, einen neuen, recht athletischen Weg durch die Nordostwand zu finden. Allgemein war die Stimmung gegen die Kletterer im Hitlerdeutschland nicht sehr gut. Oft mussten sie sich spitze Bemerkungen gefallen lassen. So setzte ein Appenzeller im Gipfelbuch des 6. Kreuzberges unter die ausgelassene Gefahrenbeschreibung eines Deutschen den trockenen Kommentar: ( Choge cheibe Chöge !) Vor allem zwei Ostschweizer Seilschaften stachen aus dem breiten Feld ausgezeichneter Kletterer hervor: Sämi Pulver und Noldi Duttweiler sowie Paul Hell und Paul Schafflützel. Den Erfolg der Münchner Bergsteiger um Berti Lehmann empfanden sie als Niederlage. Rasch wiederholten sie deshalb deren Route, um sich in der Folge auf den direkten Ostgrat des 1. Kreuzberges zu konzentrieren.

Zahlreiche Partien hatten bereits versucht, den Zugang zu den senkrechten Kaminrissen in der Wandmitte zu erobern. Doch bis zum 29. August 1937 blieben alle Versuche erfolglos. Heute kann man sich kaum noch vorstellen, wie dieses Ringen um den Grataufstieg die Leute interessierte und Zuschauer anlockte. Paul Hell und Paul Schafflützel fanden am Tag der Erstbegehung beinahe eine Tribüne vor, denn so zahlreich waren die Schaulustigen, die die beiden Kletterer beobachteten und um Erfolgschancen wetteten.

Kletterei am Daumen. Bei einem Sturz pendelt der Vorankletternde in weitem Bogen in ein Felsfenster.

Haltloser Sturz in die Tiefe In den Aufzeichnungen der Erstbegeher lesen wir:

Der Durchstieg zum Grat gelang, und die weiteren Seillängen waren im Vergleich zum Überstandenen leicht. Nach elfstündiger Kletterei erreichten sie den Gipfel.

Kaum ein Jahr nach ihrem Erfolg am 1. Kreuzberg löste die Seilschaft Hell/Schaff-lützel zwei weitere grosse Probleme: die Nordwandschlucht des 3. und die 300 Meter hohe Südwand des 2. Kreuzberges. Touren im 5. und 6. Schwierigkeitsgrad, die heute noch häufig und mit Respekt begangen werden.

Anders erging es den Routen der beiden Mitkonkurrenten Sämi Pulver und Noldi Duttweiler. Sie eröffneten unter anderem neue Routen am Südostpfeiler des 1., in den Südwänden des 4., 5. und 7., durch die Westwände des 4. und B. sowie eine Variante durch die Südwand des 2. Kreuzberges. Die meisten dieser überaus schwierigen Routen fanden nur wenig Wiederholer. Die steilen, manchmal feuchten und brüchigen Risse, durch welche die Routen der beiden führten, zeugen von einem aussergewöhnlichen alpinen Können und vor allem von besonderem Mut.

Auch mit Bäuchlein Wenig Wiederholer fanden auch die Routen Franz Grubenmanns, der 1943 bis 1945 in den Kreuzbergen als Erstbegeher aktiv war. Die Schlüsselstelle im Riss der Nordwand des Dritten gilt heute noch als Riesen- krampf; und die ganze Durchkletterung der Daumenwand bis zum Gipfel erforderte einen sehr gewagten Gang im obersten Schwierigkeitsbereich jener Zeit. Viele Jahre noch zeigte der hervorragende Rettungsmann seine katzenhafte Kletterkunst. In seinen älteren Jahren, bereits mit einem Bäuchlein gesegnet, schmiegte er sich noch in seltener Eleganz den Daumen hoch.

Nochmals neue Massstäbe setzte für jene Zeit Fredy Bürke, der 1945 zusammen mit Alfred Künzle einen sehr kühnen direkten Weg durch die Nordwand des 1. Kreuzberges eröffnete. Noch steiler und griffloser war die Nordwand des 4. Kreuzberges, deren Plattenpanzer den Einsatz einer Vielzahl von speziell dünn geschliffenen Messerhaken erforderte. Hier wurde wohl erstmals der grösste Teil der Route technisch bezwungen. Ein Jahr später eröffneten Bürke und Baumann einen ( absoluten Hakenschinden durch die brüchigen Überhänge der Südwand am 6. Kreuzberg. Doch diese Route war so abschreckend, dass sich kaum weitere Begeher einfanden.

Fast sinnbildlich zeigte sich damit das Ende der zweiten grossen Erschliessungs-phase an, die erste Touren im 6. Grad brachte.

Weitere Tabus werden gebrochen Durch alle Wände zogen sich nun Routen. Wer damals glaubte, in den Kreuzbergen gäbe es zu Beginn der fünfziger Jahre nichts mehr zu machen, sah sich bald gründlich getäuscht. Als erster grosser Wurf gelang Max Niedermann und Hansi Frommenwiler am 10. August 1953 die Flugroute durch die Nordwand des 1. Kreuzberges. Diese Route -so benannt wegen der Stürze der Dritt- und Viertbegeher — wird in ihrer Linienführung oft als schönste in den Kreuzbergfelsen bezeichnet. Eine Woche später sah man Hansi Frommenwiler wieder am 1. Kreuzberg: im vier Tage dauernden Kampf um den direkten Südpfeiler. Dabei brach er zusammen mit Ernst Hörler ein weiteres Tabu, als sie zur Überwindung der Kletterschwierigkeiten die ersten Bohrhaken verwendeten.

In der neuesten Route der Kreuzberge: der Jubiläumsweg in der Südwand des 5. Kreuzberges Die Nordwand des 1. Kreuzberges. Links die Route Gelbes Plätteli, dann Kolonnentüürli, Alter Nord und Flugroute. Rechts die Schlucht des Normalweges mit der Scharte Tiefblick aus der Bieder-mannkante am 7. Kreuzberg Die Nordwand des 3. Kreuzberges. Bei den im linken Wandteil sich x-förmig treffenden Linien: links die Veloroute; durch die folgende Rissreihe: Grubenmannriss; in der Schlucht: Nordwand; auf der sonnenbeschienenen Platte: rechts Gumminord dann Herzlipfad, Schüppliweg und Flora alpina Im folgenden Jahr setzte Max Niedermann seine Eröffnungsserie fort, diesmal mit Seth Abderhalden. Zuerst begingen sie die abgelegene Südwand des 3. Kreuzberges und dann in zweitägiger Schwerarbeit die Südverschneidung des 2. Kreuzberges. Diese Route ist nach wie vor die längste in den Kreuzbergen und wird trotz der fast durchgehenden Schwierigkeiten im 5. und 6. Grad oft besucht.

Vom Massenandrang...

Der 1954 von Ruedi Schatz herausgegebene Säntisführer machte die neuen Routen einem breiten Kreis von Bergsteigern bekannt. Immer mehr Kletterer fanden sich ein. Im Frühling und Herbst herrschte jeweils Grossandrang, und auch die schwierigsten Routen wurden häufig begangen. Für zusätzliche Bekanntheit des Gebietes sorgten auch die Filme von Paul Etter sowie die Bilder von Herbert Maeder.

Ein solcher Ansturm schuf bald einmal Probleme: So mussten die Rettungskolonnen an einem Sonntag bisweilen mehrmals ausrücken, um Verunfallte zu retten, Tote zu bergen und Verletzte ins Tal zu bringen.

Während in anderen Klettergebieten das Direttissimafieber ausbrach, spürte man in den Kreuzbergen vom Eisenzeitalter nur wenig. Eine der wenigen Ausnahmen stellt der Rugglipfeiler am B. Kreuzberg dar, eine Route, die von Edi Brunner und Sepp Ruggli 1972 eröffnet wurde.

... ins Abseits Kaum hatten Ideen der Freikletterbewegung von Amerika ausgehend im Alpenraum Fuss gefasst, wurden auch in den Kreuzbergen die ersten schweren Routen frei begangen. Einen ersten Akzent setzten Bruno Büchler und Beda Fuster, zwei Vorreiter der Appenzeller Freiklettergeneration, indem sie einen überhängenden Riss in der Ostwand des 1. Kreuzberges im neuen Stil meisterten. 1981 durchstieg Hans Howald zweimal die überhängende Ostwand am 1. Kreuzberg auf neuen Wegen. Auch in den durchgehenden Seillängen des 7. Grades verzichtet er auf das Schlagen von Haken. Seilpartner war der unverwüstliche Ernst Neeracher, der bereits in den fünfziger Jahren als früher Wiederholer der Niedermann-Routen aktiv war und der Wetterumsturz am Amboss, von der Roslenhütte her gesehen heute noch in Siebner-Routen anzutreffen ist. Bruno Büchler und Herbert Schawalder eröffneten 1983 mit

Alte Routen werden saniert Das heisst aber nicht, dass es in Sachen Erstbegehungen nun ganz ruhig geworden wäre. Mehrere Siebner-Routen, die ein weit über dem Durchschnitt liegendes Können voraussetzen, wurden eröffnet. In aller Stille erschloss ein Kletterer der älteren Garde neue, zum Teil haarsträubende Wege: Gernot Wersin. Seine Routen - teils durch schwierigsten, brüchigen und grasigen Fels führend - liegen abseits des heutigen Geschmacks, zu hoch sind die moralischen Ansprüche, die Nachfolgern auferlegt werden.

In den letzten Jahren waren neben Reinhard Buche und Markus Rusterholz sowie Photo Archiv Thi dem Verfasser des Kletterführers Alpstein, Philipp Hostettler, vor allem die Mitglieder der Rettungskolonne Sax recht aktiv. Eine ganze Reihe von neuen Routen geht auf das Konto von Thomas Gschwend und Werner Heeb. Mit viel Gespür und dank ihrer hervorragenden Gebietskenntnisse halten sie Nachlese. Stets von unten eröffnen sie in meist eisenfestem Fels herrliche Neurouten im klassischen Grad und Stil. Sie setzen alles daran, ihre Routen optimal einzurichten und mit den nötigen Haken zu versehen. Als erste setzten sie ein neues Hilfsmittel konsequent ein: die elektrische Bohrmaschine.Vor allem aber bemühen sich Thomas Gschwend und Werner Heeb, alle alten und gebräuchlichen Routen zu sanieren und mit vertrauenswürdigen Haken zu versehen. Die beiden tun dies nicht von ungefähr, denn sie sind die Verantwortlichen der für dieses Gebiet zuständigen Rettungskolonne Sax.

Die Zahl all jener Bergsteiger, die in den Kreuzbergen neue Routen eröffnet haben, ist gross. Dementsprechend vielfältig sind heute die Klettermöglichkeiten. Mit Befriedigung lässt sich feststellen, dass bis jetzt keine Profis in dieses Gebiet gekommen sind, die das ganze Jahr Zeit haben, Route neben Route anzulegen.

Vor genau 100 Jahren hat Carl Egloff einem Aufsatz über seine Erstbesteigung des 3. und 4. Kreuzberges den Titel gegeben. Er meinte wohl, dass damit eine Epoche abgeschlossen wurde. Gleichzeitig war dies der Anfang einer Entwicklung, mit der in regelmässigen Abständen neue Massstäbe gesetzt wurden. Auch für kommende Generationen werden die Kreuzberge ein attraktives Ziel darstellen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir heute dem Gebiet als Ganzem die nötige Sorgfalt entgegenbringen und dass man gerade im Bereich des Kletterns das ( heute Unmögliche ) ruhig den kommenden Klettergenerationen überlässt.

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