Les Ecrins
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Les Ecrins

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Karl Gentinetta, Saas im Prättigau

Zur Erinnerung an Herrn Henry de Wolff, Sitten, f i.Juni ig6g Vor etwas mehr als q.o Jahren wagten wir uns in die Berge der Dauphiné. In La Bérarde standen zwei Brüder Cordier vor ihrer kleinen Pension. Henri meldete uns an, und ich fügte bei: « Des salutations du guide Adolf Aufdenblatten. » -«Dolfe de Zermatt? Quant à la connaissance du français: nix! Mais im Berg: sehr gut. » - Bei diesen Worten hatten wir den Kontakt mit den Leuten gefunden.

Die Bekanntschaft mit der Bergwelt machten wir am folgenden Morgen auf einer Besteigung: Le Bane. In den Walliser Alpen hatten wir uns gut eingelaufen, und so waren wir am frühen Nachmittag auf dem Heimweg. An der Stelle, wo der Pfad zur Gruppe der Ecrins abzweigt, blieb Henri stehen, stützte sich auf seinen Pickel, blickte zu den Ecrins empor und schaute mich fragend an. Ich antwortete: « Im Grunde hast du recht. Auch ich überlegte: Warum jetzt ins Tal hinunter und morgen wieder herauf? Wollen wir nicht gleich zur Hütte? » - « Ja; aber haben wir die nötigen Vorräte? Auch etwas zu essen? » - « Vorräte haben wir allerdings sehr wenig, immerhin mehr als zwei Zwetschgen, wie letzte Woche am Matterhorn. Essen? Das können wir daheim; die Ecrins aber sind hier. » - Da rüttelte Henri den Rucksack zurecht und schritt den Hang hinauf, als müsste er noch am gleichen Abend in seine geliebten Mayens de Sion rennen.

Neben einigen Mäuslein waren wir allein in der Hütte. Hier ging es nach den Worten von Herrn Dr. Werner Kämpfen: « Schy tschurgen a em Zwetschgenstängel und laffen e Chibel Tee. » Nach einer leichten Suppe und viel Alpen-Vermouth-Tee ( généppi ) rüsteten wir alles für den Morgen und legten uns zur Ruhe, hatten wir doch viel rückständigen Schlaf von der vorigen Woche nachzuholen. Wohl selten habe ich auf der Höhe einer Hütte so tief geschlafen; der helle Sonnenschein weckte mich und lachte aus vollem Halse: « Da sind die Siebenschläfer! Und das wollen Bergsteiger sein und schlafen bis 6 Uhr! » - « Henri, wir haben uns redlich verschlafen! Schnell, auf und los! » -Erst murmelte er etwas von « sacré gaillard », dann sprang er auf, und in wenigen Minuten stand er marschbereit unter der Tür. Um die verschlafenen Stunden einzuholen, stiegen wir sehr « hässig » hinan. Plötzlich höre ich mich rufen: « Que diable! » Ich stutzte, denn wir traten auf frische Hagelkörner. « Was ist los? » fragte mein Kamerad; « Du hast doch das Gewitter... » - « Gewitter? » fiel ich ihm ins Wort. « Ja, Gewitter. Und was für eines! Die Hütte erzitterte; es erzitterte der ganze Berg! Und du willst nichts gehört haben! Allons donc! Und auch nicht die- sen ,potin de diable ', den diese drei Kerle bei ihrer Ankunft aufführten ehe sie sich in der andern Ecke der Hütte hinwarfen? » Ich schüttelte den Kopf. « Ja, dann hast du einen gesunden Schlaf! » Wir waren nun am Einstieg. Adolf Aufdenblatten hatte mir warnend gesagt: « Ja nicht zu weit nach rechts einsteigen; sonst wird es sehr schwierig. » Daher stiegen wir den ersten Krachen hinan. Es wurde steil und steiler, schwierig und schwieriger. « Les Ecrins se défendent pas mal », lachte Henri. Auch sahen wir keine Drahtseile, und ein Überhang versperrte jedes Weiterkommen. « Falsch eingefädelt », brummte ich; « es ist wie am Z'Muttgrat, wenn man vom alten Schlafplatz zu früh nach links hinauf will. Nun, sicher das Richtige, um die verschlafenen Stunden... Also, hinunter und nochmals anfangen! » Wir stiegen mehr nach rechts ein und fanden auch bald die überzuckerten Stahlseile. Hier frühstückten wir, während unsere Augen den Berg hinaufkletterten. Alles war weissgepfla-stert; unter den Sonnenstrahlen tröpfelte und rieselte es über alle Steine. Der Walliser aber scheut das Wasser ( auch im Wein !). Wir beschlossen deshalb, mehr gegen Nordwesten emporzusteigen; da waren die Felsen steiler, also auch trockener. Allmählich wurden wir gegen den Grat, Richtung Col des Ecrins, abgedrängt und gelangten zu drei Türmen. Es dürfte annähernd die Stelle sein, an der später Boccalatte Gabriele aus der Nordwand auf den Grat ausstieg. Den ersten und zweiten Turm überkletterten wir ohne grosse Schwierigkeit; aber der dritte Kerl ragte stolz, ja abweisend zum Himmel empor. Henri ging ihn zwar mutig an und bewältigte die ersten zehn Meter mit Elan; dann hörte ich abgehackte Sätze, wie: « Cela va au diable vert. » Nach einigen Kratzern auf dem Gestein kam der Ruf: « C' est le diable à confesser! Hier geht 's nicht! » Er kam wieder herunter. Da fielen mir die Worte des berühmten Alexander Burgener ein: « Stehst du vor einem grossen Hindernis und will 's nicht weitergehen, dann ruhe etwas aus und iss was, so du was zu beissen hast. » Diesen Rat befolgten wir; dann verstaute ich Pickel und alles Entbehrliche in den Rucksack, nahm nur Reserveseil, Holzkeil und Hammer, steckte das letzte Stücklein Zucker in den Mund und versuchte mein Glück. Ich kletterte gegen die Kante; es war sehr luftig, aber griffiger — und es ging. Allerdings die letzten zwei Meter konnte ich nur mit Hilfe des Keiles überlisten. Ich zog die beiden Rucksäcke nach, und während sich Henri am Doppelseil emporarbeitete, packte ich die Sachen um und blickte gegen Westen. Dort wartete eine schöne Überraschung auf uns. In der Hitze des Gefechtes am Turm hatte ich nicht bemerkt, was sich auf der Wetterseite vorbereitete: schwarze Gewitterwolken hatten sich zusammengeballt. Als Henri neben mir stand und sich eben anschickte, eine Erholungspause einzuschalten, schob ich ihm wortlos seinen Rucksack zu, zeigte gegen Westen, blickte zum Gipfel auf und sah meinen Freund fast vorwurfsvoll an. Er verstand meine Aufforderung und war sofort zum Aufbruch bereit. Die grossen Hindernisse waren überwunden; aber das Wetter? Es stellte die Frage nach der Wahl des Abstieges: Der Normalabstieg geht über den Whympergrat. Sollte jedoch das Gewitter los-krachen, die Sicht schlecht werden, dann waren die Wächten sehr gefährlich — und ebenso die Spalten auf dem Glacier Blanc. Da wäre es angezeigt, den Abstieg über den Grat zum Col des Ecrins zu wählen.

Ein heftiger Windstoss rüttelte mich aus meinen Gedanken auf, und es geschah, was in den Bergen zu geschehen pflegt: grosse Hagelkörner prasselten auf uns nieder und tanzten lustig auf den Felsen. Es wurde sofort frischer; wir zogen einen Pullover über und eilten zum Gipfel. Im Augenblick, als wir diesen betraten, blendete uns der erste Blitz. War es natürliche Abwehr gegen diesen Strahl, war es die eigentümliche Schwere der Luft: Wir lagen beide am Boden.

Gleich folgte der Donner, aber nicht als dröhnendes Rollen, sondern wie ein harter Gewehrschuss oder ein scharfer Peitschenknall. Für uns aber hiess es: Fort vom blitzgefährdeten Gipfel! Das Reserveseil wurde entrollt, Henri fasste die beiden Enden und schaute mich fragend an. « Schnell, zum Abseilring! » Diese Worte schienen die Wut des Gewitters herauszufordern. Heulend kam der Sturm auf uns zu, Blitze zuckten, es krabbelte in den Haaren. Zum Glück hatten wir von den Cordiers genaue Angaben über den Abseilring, fanden ihn, zogen das Seil durch, und Henri verschwand in Nacht und Nebel. Es war plötzlich kalt geworden. Ich überwachte alle Bewegungen des Seiles. Als dieses ruhig wurde, fragte ich mich: « Was, schon unten, oder geht 's nicht weiter? » Ich rief und schrie. Aber gleich einem gefrässigen Hund verschlang der Sturm meine Worte; ich musste zu Henri hinunter. Mit klammen Fingern fasste ich das Seil. Unheimlich rasch war die Nacht hereingebrochen. Bei grellen Blitzen sah ich, wie mein Kamerad mit der Rechten sich am Seile festhielt, mit der Linken aber Zeichen gab, die ich nicht verstand. Wegen des Sturmes konnten wir uns nicht verständigen, und nun erkannte ich auch, dass es dort, wo er stand, für zwei keinen Platz gab.«Nur die Ruhe bewahren! » mahnte eine innere Stimme. Das Leuchten eines langen Blitzes erlaubte mir, Zeichen zu geben, die sagen wollten: « Doppelseil loslassen und am Tourenseil abseilen; ich sichere. » Das Doppelseil wurde locker, das andere straffte sich. Henri hatte also verstanden. Dann liess auch der Zug am Tourenseil nach; somit hatte er Stand. Durfte ich nachkommen? Ich wartete auf einen neuen Blitz, und ich erkannte: Henri stand und sicherte. Aber trotzdem war meine Lage nicht rosig. Sollte ich versuchen, mich zum Abseilring hinaufzuarbeiten, dort das Doppelseil anders einhängen, um so die fehlenden Meter zu gewinnen? In dieser Dunkelheit? Bei diesem Sturm? Mit steifen Gliedern? War das möglich?

Nein, das ging nicht. Vielleicht die beiden Enden des Doppelseiles verknoten, so einen Seilring herstellen, das Tourenseil durchziehen und hinunter? Das ginge. Aber das hiesse, das Reserveseil zurücklassen. Und wenn wir es weiter unten nochmals...? Das durfte ich nicht. Aber was tun? Die Kälte wurde immer beissender. Es musste etwas geschehen - und zwar bald. Mit grosser Vorsicht band ich den Rucksack an das eine Ende des Doppelseiles, zog das Seil nach, und nun: Vogel friss oder verdirb! Das freie Ende warf ich Henri zu. Ob er es wohl auffangen kannEs wird leicht angezogen, also hat er es erwischt. Nun liess ich den Rucksack hinunter und stand vor der Entscheidung: Springen oder rutschen? Auch der Sturm schien sich meine Lage zu überlegen; es gab eine Windstille. Ich schrie: « Sichern! Seil nachziehen; ich komme! » Ich bückte mich, griff in der Dunkelheit nach meinen Schuhen, dann nach dem Felsen, auf dem ich stand, liess Füsse, Beine und Oberkörper ins Leere gleiten, streckte mich so lang als nur möglich, liess den Felsen los und begann zu rutschen. Ich hatte den Eindruck, der Fels ziehe sich zurück, um mir Platz zu machen - dann baumelte ich im Leeren. Ich zog den Kopf ein und schlug auf den Boden auf, fühlte aber sofort, dass das Seil straff wurde und mich vor dem Weiterrollen rettete. « Danke, lieber Henri, das hast du ausgezeichnet gemacht! » Ich konnte aufstehen, war unverletzt! Welch ein Glück! Um die Sicherungen nachzuprüfen, tasteten wir die Seile ab. Alles in Ordnung. Jetzt erst fühlten wir die grässliche Kälte unter den steifgefrorenen Kleidern. Nur mit grosser Mühe bewegten wir Arme und Beine. Trotz der bekannten Blitzgefahr ergriffen wir die Pickel und arbeiteten damit, als hätten wir eine Akkordarbeit zu leisten. Gegen Mitternacht verzog sich das Un- wetter. « Henri », sagte ich, « was meinst du, wollen wir nicht etwas essen? » - « Essen! » höhnte er. « Ja, gerne. Schön! Aber das Wenige haben wir ja am Fusse des Turmes aufgeges- sen. » Um den Humor nicht zu verlieren, fuhr ich fort: « Ein Butterbrot oder ein Stück luftgetrocknetes Fleisch oder Käse gefällig? Und dazu einen Schluck vom guten Alten aus den Wolffs-Kellereien in der Rue de Savièse; das wäre jetzt wohl zu verantworten! » Alle meine Vorschläge wurden mit grimmigem Hohngelächter quittiert. Da wir nichts zum Beissen und nichts zum Gurgeln hatten, tischten wir Erinnerungen aus unsern Bergerlebnissen auf. « Henri, denkst du noch an die Nacht auf dem Col du Géant?»- « O ja, das Unwetter hatte uns überrascht, und auch die Nacht. Es war fürchterlich kalt; wir suchten die Hütte. Die kalten Füsse taten weh in den festgefrorenen Bergschuhen, und die steifen Kleider hinderten uns beim Gehen. Du riefst immer: Weiter, nur nicht stehenbleiben bei dieser Kälte! Wir gingen und gingen, es wollte kein Ende nehmen auf diesem Gletscher. Noch jetzt höre ich deine Stimme: Sichern! Ich bin auf glattem, abschüssigem Fels ». « Um die Felsen im Dunklen abzutasten, warfst du dich auf den Bauch und krochst auf allen vieren: rechts baumelte der Pickel im Leeren, links war auch kein Halt zu finden. Du versuchtest es nach vorne und schwangst den Pickel über den Rand; da klirrten Fensterscheiben - du lagst auf dem Dach der alten Hütte! Wie gerne würde ich auch jetzt die Scheiben bezahlen, wenn du welche einschlagen könntest! » Das Gewitter war gegen Osten abgezogen, und es wurde noch kälter. Wir mussten weiterarbeiten. Nur den Mut nicht verlieren! In dieser Absicht fuhr ich fort: « Erinnerst du dich an das Gelächter, als wir in den Dolomiten auf den Cinque Torri jeder auf einem andern Gipfel standen und uns verwundert auslachten? Wie wir zu unsern Füssen die Herdenglocken bimmeln hörten? War das schön! Herdenglocken höre ich jetzt keine, aber was anderes. Hörst du es auch? Ich glaube, wir bekommen Besuch. » - « Besuch? Jetzt, hier oben? Quel farceur! » - Das Gewitter kam mit grossen Schritten heran. Es schickte sogar einen Boten voraus, einen Mann mit heftigen Schnee-ruten! In kurzer Zeit hatten wir 30 Zentimeter Neuschnee auf unserm Arbeitsplatz. Doch endlich kam auch der erste Tagesschimmer. Jetzt sahen wir auch, wo wir arbeiteten: auf einer fast waagrechten Felsleiste, anderthalb Meter breit und ungefähr drei Meter lang; gegen Westen gähnte der Abgrund, gegen Süden erhoben sich die Gipfelfelsen, gegen Osten schimmerte Eis und Schnee, und gegen Norden lief die Schneehalde in die Tiefe, wo auch die ersten Rutsche hinunter-kollerten. Diese Lawinengefahr drängte uns aus der Gefahrenzone. Am Doppelseil gesichert, wagte sich Henri in den Schneehang. Als das Seil ausgelaufen war, wühlte er sich'einen Stand zurecht, sicherte, so gut oder schlecht es ging, am eingerammten Pickel. Ich kam nach und arbeitete mich eine Seillänge tiefer, um mir dann auch einen Stand zurechtzuwühlen. Dieses Vorgehen wiederholte sich, bis wir an einen Bergschrund gelangten. Hier war der Neuschnee abgerutscht, und wir standen auf Hartschnee. Mit vereinten Kräften gruben wir ein Loch und stiessen auf Eis. Henri ging bis an den Rand der Spalte und vermeinte eine Schneebrücke zu sehen. Nun versuchten wir einen Abseilring aus dem Eis herzu- stellen. Es kostete uns viel Zeit und Mühe, bis wir einen Abseilkopf herausgepickelt hatten. Wie gut, dass wir das Reserveseil dabeihatten! Am Eiskopf gesichert, liess sich Henri in die Spalte hinunter. Nach angstvollen Minuten kam der Ruf « Gut; ich bin auf dem andern Rand der Spalte; ich sichere, kannst kommen! » Nachdem ich nochmals geprüft hatte, ob sich das Seil am Eiskopf nachziehen lasse, war ich auch bald soweit unten. Und weiter ging 's die Halde hinab. Diese wurde nun etwas flacher, und nach einiger Zeit überraschte mich ein heller Jauchzer. Henri rief: « Spuren! Spuren! » - Wie ich zu den Spuren kam, zwang mich ein eigentümliches Gefühl, diese Spuren näher zu prüfen. « Halt! Henri, komm zurück! Siehst du, mein Lieber, deine Füsse haben die Tritte rechts getreten, und diese da links sind von meinen Schuhen! » Bei Wind und im Schneetreiben hatten wir den bekannten Rundgang angetreten. Wir sprachen noch über die Spuren, als ein Windstoss die Wolken zerriss - in einiger Entfernung erkannten wir die unsichern Umrisse einer Hütte. Ein Wunschtraum? Nein, wir betraten die Cabane du Glacier Blanc! Sie war leer und kalt und ohne Notproviant, unsere Enttäuschung nicht klein. Als wollte uns der Himmel trösten, hellte es auf. Und wir erkannten den Col des Ecrins. Ohne ein Wort zu verlieren, stiegen wir auf, fanden die Drahtseile und standen bald unten auf der Moräne, und nach kurzem Marsch waren wir mitten in einer fröhlich blökenden Schafherde, und kurz darauf lagen wir in einem herrlichen Heidelbeer-hang und assen und assen... Nach diesem Schmaus rückten wir froh und gesättigt in La Bérarde ein.

Mein lieber Bergkamerad, du bist mir die letzte Wanderung vorausgeeilt! Auf Wiedersehen!

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