L'Hôtel des Neuchâtelois
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

L'Hôtel des Neuchâtelois

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Im Sommer 1837 fand in Neuenburg die Jahresversammlung der schon 20 Jahre vorher gegründeten Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft statt. Jahrespräsident war der junge Professor der Geologie und Paläontologie Louis Agassiz, der sich schon durch mehrere bedeutende Arbeiten einen europäischen Ruf geschaffen hatte. Statt nun seinen Zuhörern etwas über seine neuesten Untersuchungen über fossile Fische vorzulesen, trug er als Eröffnungsrede eine Abhandlung vor, die er erst in der Nacht vorher zu Papier gebracht hatte; sie erregte das grösste Erstaunen, Bewunderung und Enthusiasmus auf der einen, lebhaften Widerspruch, ja Entrüstung auf der andern Seite der Teilnehmer. Denn was Agassiz vortrug, war eine Theorie der Gletscherwirkung, in welcher die lokalen Funde von erratischen Blöcken in den schweizerischen Tälern eine universale, kosmische Bedeutung erhielten. Er bekämpft die alte Theorie, dass diese Blöcke und Moränen vom Wasser transportiert worden seien, und setzt an ihre Stelle eine neue Theorie, nach der einst eine riesige, von den Gebirgen und Polen ausgehende Vergletscherung unseres Planeten die Ursache dieser Findlinge sei.

Dieser Vortrag von Agassiz in der feuchtfröhlichen Stadt am Chaumont und am schönen See bedeutet einen Markstein in der Geschichte der Naturwissenschaften, denn dieser Tag ist eigentlich der Geburtstag der modernen Gletscherforschung.

Doch bevor ich nun auf die erste Epoche dieser jungen Wissenschaft näher eingehe, möge mir erlaubt sein, ihre höchst interessante und lehrreiche Vorgeschichte anhand einiger ihrer wichtigsten Momente zu bringen. Diese Vorgeschichte knüpft sich vor allem an die Namen von Gruner und Hugi, Saussure, Vernetz und Charpentier. Von den beiden erstem wird später noch die Rede sein.

Horace Benedikt de Saussure, der berühmte Genfer Naturforscher, auf dessen Anregung hin Balmat 1786 als erster den Mont Blanc bestieg und der selbst ein Jahr nachher als erster Turist diesen Gipfel erreichte, hat bei seinen den Wissenschaften gewidmeten Reisen den Gletschern besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht. Die Bildung der Moränen hat er teilweise schon richtig erklärt, indem er ihre Entstehung auf die ihm wohlbekannte Bewegung der Eisströme zurückführte. Die Bedeutung der Gletscherschliffe allerdings für die Beurteilung der Eisbewegung hat er noch nicht erkannt.

Einer der Grössten im Reiche der Denker und Dichter muss von uns noch unter die Propheten der neueren Gletscherwissenschaft gezählt werden, den man an diesem Orte anzutreffen vielleicht nicht erwarten würde: Goethe. Es ist hier natürlich nicht der Ort, Goethes sehr bedeutende Stellung unter den Naturforschern um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert zu entwickeln, so reizvoll und vielseitig gerade dieses Kapitel im Leben dieses Heroen sein würde. Hat er doch in und mit der Natur gelebt wie wohl nur wenige seiner Zeitgenossen:

« Erhabener Geist, du gabst mir, gabst mir alles, Worum ich bat. Du hast mir nicht umsonst Dein Angesicht im Feuer zugewendet.

Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich, Kraft, sie zu fühlen, zu gemessen. Nicht Kalt staunenden Besuch erlaubst du mir, Vergönnest mir in ihre tiefe Brust Wie in den Busen eines Freunds zu schauen. » Wir wissen, dass in diesen Worten Fausts der Dichter selbst uns ein Bekenntnis ablegt. Zu seinen besonderen Arbeitsgebieten gehören Geologie, besonders Paläontologie und Mineralogie. In den damals heftig tobenden Kampf zwischen den Neptunisten und Vulkanisten, von denen jede Partei die Erdrinde nach ihrer Art entstehen lassen wollte, hat er lebhaft eingegriffen. Diese ihn so sehr interessierenden Streitfragen beschäftigen ihn auch in « Wilhelm Meisters Wanderjahren », in jenem eigentümlichen, aus einer Reihe einzelner Novellen mehr oder weniger fest zusammengefügten Romane.

Im zehnten Kapitel wird der Held, Wilhelm Meister, zu einem Feste von Bergleuten — wir müssen den Ort wohl im Harzgebirge suchen — eingeladen. « Alle Gäste, die ungeladen oder geladen sich eingefunden, waren vom Handwerk, weswegen denn auch an dem Tische, wo die Freunde sich niedergesetzt, sogleich ein ortsgemässes Gespräch entstand. Es war von Gebirgen, Gängen und Lagern, von Gangarten und Metallen der Gegend ausführlich die Rede. Sodann aber verlor das Gespräch sich ins Allgemeine und da war von nichts Geringerm die Rede als von Erschaffung und Entstehung der Welt. Hier aber blieb die Unterhaltung nicht lange friedlich, vielmehr entwickelte sich sogleich ein lebhafter Streit. Die Plutonisten und Neptunisten platzten mit ihren Argumenten heftig aufeinander, und da nun übrigens die Glut des Weines stark mit ein- wirkte, so hätte das herrliche Fest beinahe mit tödlichen Händeln abgeschlossen. » Vorher aber finden wir jene merkwürdige Stelle, die mich bewogen hat, das Kapitel Goethe hier überhaupt in diesem Zusammenhange zu bringen:

« Zuletzt wollten zwei oder drei stille Gäste sogar einen Zeitraum grimmiger Kälte zu Hilfe rufen und aus den höchsten Gebirgszügen, auf weit ins Land hingesenkten Gletschern, gleichsam Rutschwege für schwere Urstein-massen bereitet und diese auf glatter Bahn, fern und ferner hinausgeschoben im Geiste sehen. Sie sollten sich, bei eintretender Epoche des Auftauens, niedersenken und für ewig in fremdem Boden liegen bleiben. Auch sollte sodann durch schwimmendes Treibeis der Transport ungeheurer Felsblöcke vom Norden her möglich werden. Diese guten Leute konnten jedoch mit ihrer etwas kühlen Betrachtung nicht durchdringen. » Diese Stelle ist höchst bedeutend; in wenigen Worten wird klar und genau, besonders im ersten Satze, die ganze Grundlage der Theorie der Eiszeit und der erratischen Blöcke wiedergegeben.

Nun stehen wir vor der Frage: Hat Goethe das von sich aus gefunden? Das muss jedenfalls verneint werden, zweifellos hat er sich seit seinen Reisen in der Schweiz lebhaft für die Gletscher interessiert, aber nirgends in seinen Werken finden wir Beweise dafür, dass er sich eingehend gerade mit diesem Problem beschäftigt habe. Die Fragestellung muss deshalb lauten: Wo hat Goethe diesen Gedanken her, welches waren seine Quellen? Bemerkenswert ist, dass diese Stelle sich nicht in der ersten Auflage von Wilhelm Meisters Wanderjahren vom Jahre 1821 findet, sondern erst in der « vollständigen Ausgabe letzter Hand » von Goethes Werken vom Jahre 1829. In der Zwischenzeit muss also der schon hochbetagte Weise auf die ihm wohl sehr merkwürdig erscheinenden Angaben gestossen sein, die er dann noch in dem fertigen « Wilhelm Meister » verwerten konnte.

Bei der Durchsicht der Literatur findet man nun zwei Werke, welche einzig hier in Betracht kommen. Schon zu einer sehr weit zurückliegenden Zeit, im Jahre 1786, gab B. F. Kuhn ein Buch heraus: « Versuch eines Mechanismus der Gletscher. » Mit viel weiterem Blicke als Saussure gibt er nicht nur ziemlich richtige Erklärungen über die Entstehung der Mittelmoränen, sondern beobachtete bereits die Gletscherschliffe und die alten Moränen. Ob aber der Geheimrat in Weimar dieses Werk kannte, scheint mir sehr zweifelhaft, anders aber verhält es sich mit einem Ausspruch des bedeutenden schottischen Geologen John Playfair. Wenn er dessen Werke vielleicht auch nicht selbst gelesen, so kannte sie Goethe jedenfalls aus den Schriften des von ihm hoch geschätzten Engländers Charles Lyell, des Reformators der modernen Geologie.

Lyell zitiert nämlich eine 1815 erschienene Abhandlung von Playfair, wonach die erratischen Blöcke und Moränen des Jura auch von ungeheuren Gletschern hertransportiert wurden, welche, von den Hochalpen kommend, das ganze schweizerische Mittelland überdeckten, denn nur mit Hilfe dieses Transportmittels sei es möglich gewesen, die Blöcke unversehrt, im Besitze ihrer ursprünglichen scharfen Kanten und Winkel, so weit weg von ihrer ursprünglichen Lagerstätte zu bringen; das Wasser, wie man damals glaubte, hätte das nicht gekonnt. Ich zweifle nicht im mindesten daran, dass wir hier die Quelle für das merkwürdige Zitat aus « Wilhelm Meister » vor uns haben. Man sieht übrigens, dass Goethe zu dieser Ansicht über ein einstiges Gletscher-zeitalter nicht Stellung nimmt, es sei denn, dass man in dem etwas ironischen Ausdruck von der « kühlen Betrachtung der beiden stillen Gäste » eine Ablehnung finden will. Diese Gedanken mögen dem greisen Dichter und Forscher sicherlich reichlich ketzerisch vorgekommen sein.

Doch nun zurück zu unsern Schweizern!

Der Waadtländer Ingenieur Jean de Charpentier ( Directeur des mines du canton de Vaud ) erzählt uns in seinem 1841 erschienenen Buche « Essai sur les Glaciers », wie er einst im Jahre 1815 mit einem Gemsjäger aus Lourtier im Val de Bagnes in dessen Hütte die Nacht zubrachte, wie ihm da der wackere Perraudin, so war sein Name, berichtete, nach seiner Meinung seien die Gletscher der Walliser Alpen früher viel grösser gewesen als zur Gegenwart; die Gletscher seines Bagnestales hätten einst bis Martigny gereicht, wie das die dort gefundenen Felsblöcke bewiesen, denn die seien so gross, dass das Wasser sie unmöglich dorthin geführt haben könne. Charpentier erstaunte ob diesen Ansichten, er fand diese so ausserordentlich, ja extravagant, dass er meinte, es lohne sich nicht, weiter darüber nachzudenken.

Er hatte diese Geschichte ganz vergessen, als ihm im Frühjahr 1829 der Ingenieur Venetz ganz ähnliche Ansichten entwickelte.Venetz war damals ingénieur en chef des Kantons Wallis, ein tüchtiger, sehr gebildeter Mann, der unter anderm im Zermattertale die ersten Wasser- und Lawinenverbauungen mit Erfolg durchgeführt hatte. Schon im Jahre 1821 las er der Versammlung der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft eine Abhandlung über die Variationen der Temperatur in den schweizerischen Alpen vor, in welcher eine Reihe höchst merkwürdiger Tatsachen über die Bewegung der Gletscher mitgeteilt wird. Ganz positiv behauptet er, die Gletscher hätten früher eine ungeheure Ausdehnung besessen, er weist als erster auf die Hunderte von Kilometer von den jetzigen Gletschern entfernten Moränen hin und bringt diese in einen direkten Zusammenhang miteinander. Agassiz sagt selbst später in seinem bekannten Werke « Essai sur les Glaciers », das er den Herren Venetz und Charpentier gewidmet hat, die Untersuchungen von Venetz seien um so wichtiger und seine Angaben verdienen um so mehr Glauben, als sie ausser allem Einflusse von theoretischen Ansichten und Systemen gesammelt wurden.

Agassiz war noch nicht lange Professor in Neuenburg, als er auf die Arbeiten von Charpentier über die Gletscher aufmerksam gemacht wurde. Die Behauptung des Waadtländer Minendirektors, die Gletscher der Alpen hätten früher bis zum Jura gereicht und die Findlingsblöcke dorthin getragen, die man auf dem Abhang dieses Gebirges antreffe, sie fand bei Agassiz wenig Glauben; ihm schien die Hypothese, diese Blöcke seien von Wasserströmen transportiert worden, weit glaubhafter und vor allem weit einfacher zu sein. Aber wegen der so sehr divergierenden Meinungen unter den Geologen reizte ihn die Untersuchung dieses Problemes. Er beschloss, Charpentier, der damals Minendirektor in Bex war, zu besuchen in der Hoffnung, ihn auf seinem eigenen Boden zu schlagen und von seinen etwas überspannten Ansichten zurückzubringen. Im Sommer 1836 begab er sich nach Bex und verwandte fünf Monate fast ausschliesslich auf das Studium der Gletscher und der durch sie bedingten Erscheinungen. Aber aus einem Saulus wurde ein Paulus! Charpentier zeigte dem Neuenburger Professor jeden interessanten Punkt der Gegend, die er so genau studiert hatte; sie besuchten zusammen die Gletscher der Diablerets, des Tales von Chamonix, die Moränen des Rhonetales sowie der Hauptseitentäler des Wallis, und aus dem Gegner wurde der neuen Theorie ein begeisterter Bewunderer und Vorkämpfer. Erst im Dezember kehrte Agassiz nach Neuenburg zurück, und beim nächsten Ausfluge erkannte er sogleich, wie die sogenannten Waschflächen der Jurafelsen, dort « Caves » genannt, den gleichen Ursachen ihr Dasein verdanken wie die Felsenschliffe der Alpentäler: nämlich dem Gletschereise!

Schon in demselben Winter 1836/37 hielt Agassiz eine Reihe öffentlicher Vorträge, in welchen er einem grössern Publikum die bis dahin gewonnenen Resultate mitteilte, und nun kam der Sommer 1837, da er als Präsident der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft jene berühmte Eröffnungsrede hielt, die wir heute als das Morgenrot der modernen wissenschaftlichen Gletschererforschung bezeichnen dürfen. Anschliessend an diese Versammlung unternahm Agassiz mit einigen Freunden die erste jener Forschungsreisen zu den Gletschern der Schweizer Hochgebirge, von denen nachher noch die Rede sein soll, welche bis zum Jahre 1840 fortgesetzt wurden.

Louis Agassiz nimmt unter den Naturforschern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine hervorragende Stellung ein; er gehört noch zu jenen universalen Naturen aus der Schule und Denkart Alexanders von Humboldt, welche, weit entfernt davon, sich nur einer SpezialWissenschaft zu widmen, einen grossen Teil der Naturforschung beherrschten und überblickten. Gleich bedeutend als Zoologe und Paläontologe, war er ein vorzüglicher Botaniker und Geologe; was ihn aber uns Alpenfreunden und Bergsteigern so nahe bringt und so sympathisch macht, das ist der Hochturist, das ist vor allem der Gletscherforscher Agassiz. Einstimmig wird die Gegenwart ihn als den Vater der streng wissenschaftlichen Erforschung der Gletscherphänomene bezeichnen, und auch hier wird man über seine Vielseitigkeit staunen müssen.

Jean-Louis-Rodolphe Agassiz wurde am 28. Mai 1807 in Môtier ( Kanton Freiburg ) geboren; sein Vater war in jenem idyllischen Dörfchen am Murtensee, das man von Murten aus gerade gegenüber liegen sieht, Pfarrer, seine Mutter war eine geborene Mayor. Der Knabe gcnoss im Hause seiner sehr verständigen und aufgeklärten Eltern eine glückliche Jugend, und es ist nun sehr interessant, wie auch bei ihm, wie bei so manchem grossen Naturforscher, der Trieb zum Sammeln und zum Forschen, besonders aber auch zum scharfen Beobachten, sich schon sehr früh entwickelte. So wie Liebig schon als Knabe einen unwiderstehlichen Drang zum Ausführen von chemischen Experimenten verspürte, so bildete sich beim Pfarrerssohn von Môtier schon in sehr jungen Jahren eine erstaunliche Kenntnis der Fauna seines heimatlichen Sees heraus, denn aus dem mit grösstem Enthusiasmus und auffallender Geschicklichkeit betriebenen Fischen und Sammeln der Bewohner des Murtensees wurde allmählich eines seiner grössten und bedeutendsten Werke, ich meine damit das Monumentalwerk über die « Süsswasserfische des zentralen Europas ».

Seine Eltern waren, obgleich es ihnen grosse Opfer kostete, damit einverstanden, dass er sich dem Studium der Medizin zuwandte. So bezog er, 17 Jahre alt, die Universität Zürich, wo er zwei Jahre studierte und von wo aus er seine erste Alpenreise unternahm, auf den Rigi, im Sommer 1824. Im Sommersemester 1826 finden wir ihn dann als Studenten in Heidelberg, im Wintersemester 1827 bezog er zusammen mit seinem Freunde Alexander Braun, dem nachherigen berühmten Botanikprofessor, die Universität München, woselbst er bis 1830 weilte, nach einem kurzen Semester in Wien, wo er auch zum Doktor der Medizin promoviert wurde, nachdem er bereits vorher an der Universität Erlangen — das ging damals noch schriftlich « in absencia » — auf Grund einer Dissertation über die Bildung des Skelettes von den Infusorien bis zu den Vertebraten zum Dr. phil. promoviert worden war. Die vielen, teils französisch, teils deutsch geschriebenen, an seine Eltern und Freunde gerichteten Briefe aus seinen Studienjahren geben uns ein reizvolles und höchst anschauliches Bild vom Studiengange eines jungen Forschers, der neben einer geradezu immensen Arbeit immer noch Zeit fand zu allerlei kleinen und grössern Ausflügen und Reisen, zusammen mit ihm treu ergebenen Freunden, gegenüber welchen Agassiz stets eine führende und dominierende Stellung einnahm.

Schon beginnt der Name Agassiz in der wissenschaftlichen Welt einen Klang von Berühmtheit zu erhalten; seine Erstlingsarbeiten, besonders der erste Teil seiner « Süsswasserfische », lenken die Aufmerksamkeit der grössten Gelehrten, wie A. v. Humboldt, Cuvier und Leop. v. Buch auf ihn, und im Widerspruche mit dem sonst allgemein als richtig befundenen Satze, dass der Prophet nichts in seinem Vaterlande gelte, erhielt er im Jahre 1832 — er war damals gerade 25 Jahre alt — die Professur für Naturgeschichte an der Akademie von Neuchâtel. Damit beginnt eine glückliche Zeit für den jungen Forscher; einer erstaunlichen Arbeitskraft verdankt er eine geradezu imposante Produktivität. Hier entstehen seine wichtigsten Werke, wie das über die fossilen Fische und über die Erforschung der Gletscher. Vierzehn Jahre lang bildete Agassiz eine Zierde der Neuenburger Akademie, dann kommt ein in sein Leben tief einschneidendes Ereignis. Im Herbst 1846 reist er nach Amerika für eine längere Forschungs- und Vortragsreise; er hielt dies nur für eine temporäre Unterbrechung und gedachte, nach einiger Zeit nach Europa zurückzukehren; doch das Schicksal wollte es anders, denn die neue Welt wusste den Neuenburger Gelehrten so an sich zu fesseln, dass er den Weg zurück in die Heimat nicht mehr fand. Er wurde nacheinander Professor in Cambridge ( Mass .), dann in Charleston, nahm teil an mehreren grossen Forschungsreisen nach Südamerika, bis im Jahre 1873 der Tod seiner rastlosen Forschertätigkeit ein Ziel setzte. Auf seinem Grabe in der neuen Welt ruht ein riesiger Block vom Unteraargletscher aus Finsteraarhorngranit.

Die Rede, welche Agassiz an der Neuenburger Versammlung gehalten hatte, wirkte unter den dort versammelten Naturforschern wie die Hefe im frischen Most, die Geister kamen in Gärung, und eine lebhafte Diskussion setzte sofort ein zwischen den Anhängern und den Gegnern der neuen Doktrin. Zu viele neue Gedanken waren von Agassiz entwickelt worden, als dass sie unwidersprochen hätten bleiben können. Vor allem aber war der junge Gelehrte es seinen Anhängern schuldig, die Beweise für einige wichtige, von ihm aufgestellte Behauptungen zu bringen. Es musste bewiesen werden, dass die erratischen Phänomene des Jura, die Findlingsblöcke, die Moränen usw. wirklich mit denjenigen analogen Erscheinungen identisch sind, wie sie in den Alpen zur Gegenwart hervorgebracht werden. Nicht nur die Gletscherschliffe an Felswänden sind ja nach Agassiz bezeichnend für einstige Gletscherwirkung, vor allem sind es auch jene von ihm zuerst namhaft gemachten feinen Striche und Ritzen, geradlinig und zueinander parallel verlaufend, « les stries », wie er sie nennt, die überall dort gefunden werden, wo die Felsen-oberfläche dem Angriffe der Atmosphärilien widerstehen konnte. Die Gletscher, so sagte Agassiz, polieren die Felsen, über die sie sich hinweg bewegen, als Poliermittel diene ihnen der feine Schlamm, zu dem das ins Eis geratene feinere Geröll zermalmt und zerrieben wird. « Souvent ils polissent les roches aussi parfaitement que pourrait le faire la main du marbrier. » Die härteren Gesteine aber, besonders die Quarzkristalle, welche nicht pulverisiert werden können, die sind es, welche dann unter dem Bewegungsdrucke des Eises die feinen Linien und Striche in die polierten Felswände hineinritzen.

War also die Ansicht richtig, die erratischen Phänomene des Jura rührten von einer einstigen Vergletscherung her, so mussten jene Zeichen dort aufgefunden werden, wo der Zusammenhang mit der Gletscherarbeit nicht in Zweifel gezogen werden konnte.

Im August 1838 kam daraufhin die erste jener klassischen Expeditionen zur Erforschung der Gletscher zustande; unter der begeisternden Führung von Agassiz hatten sich zusammengefunden: Max Braun, sein Schwager, Mineningenieur, der Student Lerch, Monsieur de Pury, Herr Dinkel, Agassiz'Zeichner, und E. Desor. Die Reise ging in das klassische Revier der Gletscherschliffe, ins Haslital zur Grimsel. Vom Kirchet anfangend, jener bekannten Talschwelle, welche die alten Seebecken von Meiringen und Guttannen trennt, durch welche die Aare sich in der berühmten Aareschlucht, die damals noch nicht zugänglich war, hindurchgearbeitet hat, konnten unsere Forscher Schritt für Schritt die einstigen Stein- und Endmoränen des Aaregletschers feststellen. Oben beim Hospiz wurden mit Enthusiasmus die wundervoll erhaltenen Schliffe mit ihren Furchen und Streifen bewundert, und alle Teilnehmer waren jetzt vollkommen überzeugt, dass diese Phänomene einzig und allein der Wirkung des Eises zugeschrieben werden können. Desor gibt eine hübsche Beschreibung des gemütlichen Aufenthaltes im alten Grimselhospiz und seines damaligen Wirtes Zybach, der später sich grosse Verdienste erwarb, indem er den Forschern nach Möglichkeit hilfreich zur Hand ging. Von der Grimsel zog man zum Rosenlauigletscher und kam hochbefriedigt von dieser ersten Reise nach Meiringen zurück. In Neuenburg gab es nur kurze Rast, denn Agassiz hatte schon eine weitere Forschungsreise zu den Gletschern des Mont Blanc geplant, und Ende August zog man, diesmal unter Führung des ortskundigen Charpentier, nach Chamonix, und, « tout glorieux de leur succès », kamen unsere Freunde nach Überschreitung des Glacier du Trient nach Hause.

Im folgenden Jahre, 1839, vereinigte die Jahresversammlung der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft die Naturforscher in Bern, wo, sagt Desor, wie üblich viel diskutiert und noch besser gegessen und getrunken wurde. Aber Agassiz zog es aus diesem Kapua wieder zu seinen Gletschern; er hatte die Absicht, vom Grindelwaldgletscher zur Grimsel vorzudringen. Aber Bernhard Studer schlug ihnen vor, die Gletscher des Monte Rosa zu besuchen, wo viel interessantere Dinge zu sehen seien. Der Vorschlag wurde freudigst angenommen. Unter Leitung des berühmten Geologen reiste man am 9. August 1839 über die Gemmi nach Zermatt. Gasthöfe gab es dort zu jener Zeit noch keine, man musste beim Arzte des Tales wohnen, der ein ganz besonders kurioser Vertreter seines Handwerkes gewesen sein muss. Im Fremdenbuch fanden sich aus diesem Jahre nur 5 bis 6 Reisende eingeschrieben, Botaniker und Zoologen. « Décidément, les touristes n' ont donc pas encore infecté cette vallée! » Tags darauf wurde sogleich der grosse Gornergletscher aufs genaueste untersucht. Studer gehörte vorläufig noch zu den Ungläubigen; er erklärte es direkt für ausgeschlossen, dass die polierten Felsen das Produkt der Gletscher seien; er war sehr erstaunt, als ihm der Führer Joseph Brantschen auf seine Frage, auf welche Ursache man bei ihnen diese polierten Serpentinwände zurückführe, ganz naiv antwortete: das haben die Gletscher getan. Und als man dann unmittelbar neben dem Eise polierte Felsen mit tadellosen Kritzern fand und Agassiz triumphierend ausrief: « Nun, sind diese Striche nicht Beweis genug? », da erklärte Studer sich als vollkommen überführt und « jetzt kann ich nicht mehr zweifeln »; « et ce fut là le plus beau résultat de la journée! » Nachdem man am folgenden Tage noch rasch das Matterhorn besteigen wollte, sich aber dann mit einem höchst abenteuerlichen Gang vom Hörnli zum Zmuttgletscher begnügte, welcher aber viele und wichtige wissenschaftliche Resultate zeitigte — unter anderem fand man das ebene Gletscherfeld, auf dem schon im Jahre 1792 Saussure eine Basis abgemessen hatte, mit deren Hilfe er die erste Bestimmung der Höhe des Matterhorns ausführte —, reiste man über Gletsch zur Grimsel. Von dort aus wurde ein Ausflug auf den Unteraargletscher unternommen; Agassiz wollte hauptsächlich die Hütte besichtigen, welche Hugi im Jahre 1827 für seine Beobachtungen auf dem Unteraargletscher erbaut hatte.Hans Rupe.

( Fortsetzung folgt. )

Feedback