Licht und Schatten
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Licht und Schatten

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON PETER SCHOEPFLIN, ZUG

Mit 2 Bildern ( 35/36 ) Nicht von einer schwierigen und langen Kletter- oder Skitour oder sogar von einer noch nie begangenen Fahrt will ich erzählen, sondern das Erlebnis einer eher bescheidenen Besteigung, abseits grosser Heerstrassen bekannter Gipfel.

Marchhorn! Wo steht dieser Berg mit seinem kaum dreitausend Meter hohen Haupt? Meine Wahl fiel auf diesen Gipfel östlich des San-Giacomo-Passes im Bedrettotal, vielleicht, weil er mir während der vielen Jahre meiner Tourentätigkeit besonders ans Herz gewachsen ist. Wären aber da nicht viel höhere und bekanntere Berge beidseitig dieses stolzen Eckpfeilers, der mit seinem scharf gezackten, nur durch kühn geformte Schneewächten unterbrochenen Grate majestätisch auf den Grenzpass Italien-Schweiz herabblickt, zu beschreiben? Basòdino, Cristallina, dies sind Namen, die jedes Skifahrerherz höher schlagen lassen. Wer kennt nicht die prächtige Gletscherabfahrt hinunter zur Robiei, wer nicht das Valle Cavagnolo im schönsten Pulverschnee! Und umrahmt von diesen und vielen anderen höheren und niedrigeren Nachbarn steht unser Berg, das Marchhorn. Wohl findet man diesen Namen auch auf der Landeskarte, ja sogar von Zeit zu Zeit in einem Tourenverzeichnis, doch die wenigen Besuche, die der Gipfel während der langen Wintermonate bekommt, sind an den Fingern einer Hand abzuzählen. Aber gerade dies macht ihn zum begehrten Ziel, und zwar jener Alpinisten, die versuchen, ihr Tourenrepertoire durch unbekanntere Routen zu bereichern.

Wieder einmal entschlossen wir uns, meine Kameraden und ich, der Alpen-Südseite einen Besuch abzustatten. Wohl wölbte sich auch nördlich vom Gotthard ein wolkenloser, blauer Himmel; doch wir hatten einfach wieder einmal Lust, das Bedrettotal mit seinem landschaftlichen Reiz und seinen angrenzenden, prächtigen Schneebergen aufzusuchen.

Nach einer kurvenreichen Fahrt durchs Reusstal erreichte unser VW mit seiner Fracht die Verladerampe in Göschenen, und knappe fünfzehn Minuten später standen wir bereits unter südlicher Sonne. Allerdings konnte man keinen merklichen Wärmeunterschied feststellen; aber das neue Jahr hatte ja auch erst begonnen. Nachdem unser Vehikel wieder auf die eigenen Räder gestellt worden war, ging die Fahrt hinein ins tief verschneite Val Bedretto mit seinen im Sonnenschein glitzernden Schneehängen. Durch malerische Dörfchen, wo die Dächer unter der weissen Last beinahe zusammenzubrechen drohten und deren Seitengassen mit Schnee fast bis zur Dachtraufe gefüllt waren, führte das schmale Strässchen zur letzten bewohnten Häusergruppe: All'Acqua.

Nach dem üblichen Hin und Her und Abwägen, was man im Tale lassen und was im Rucksack verstauen will - wer kennt nicht diese letzten Aufstiegsvorbereitungen -, standen wir endlich marschbereit auf den mit Fellen bespannten Skiern. Eine bereits vorhandene Spur führte zuerst längs dem jungen Ticino, dessen Wasser sich zwischen den mit hohem Schnee beladenen Felsblöcken, die wie Riesenpilze vor dem Eingang eines Märchenreiches Wache standen, hindurchzwängte. Nach kurzer Zeit verliessen wir die Spur und überquerten den murmelnden Wasserlauf, um auf der andern Bachseite im knietiefen und unberührten Pulverschnee Richtung Passo di San Giacomo hinaufzusteigen. Schade, dass die Sonne mit ihren wärmenden Strahlen unsere Talseite für heute bereits verlassen hatte. Um so schöner war dafür der Blick nach rechts, wo der ganze Grenzgrat Wallis-Tessin mit seinen unzähligen Erhebungen im letzten Licht des kurzen Wintertages erstrahlte. Es schien, als ob jedes Gipfelchen noch schnell etwas Wärme erhaschen wollte, um sie für die kommende kalte Nacht aufzuspeichern. Wir gewannen schnell an Höhe! Unsere Spur, angelegt bald in weitausholenden Bogen, dann wieder, bedingt durch das Gelände, in engen Kehren, schlängelte sich zwischen den letzten vereinzelten Fichten hinaus in die offenen, tief verschneiten Schneehänge. Auch auf der Gegenseite stieg der Schatten langsam aus dem Tale und erreichte die höchsten Bergspitzen zur gleichen Zeit, als wir die letzten Meter zum San-Giacomo-Pass, am Fusse des Marchhorns, zurücklegten.

Vor uns öffnete sich der Blick in die italienische, schon in abendliche Stimmung versunkene Gipfelwelt südlich des Val Formazza. Bereits hatten wir unsere letzten Skilängen im italienischen Schnee, der sich allerdings in keiner Art und Weise vom unsrigen unterschied, zurückgelegt. Wir befreiten unsere Skier von den Fellen und rüsteten uns zur kurzen Abfahrt Richtung Fischsee. Wie eindrucksvoll war doch das langsame Herabsinken der Nacht! Die ersten Sternlein funkelten im dunkelstahlblauen Himmel, der sich immer mehr zur schwarzen Kulisse hinter der weissen Schneewelt verwandelte. Kurze Zeit später standen wir auf dem zugefrorenen Stausee. Herrlich war es dahinzugleiten, und das kleine, warm anmutende Licht des Wärterhauses vorne an der Staumauer nahm zusehends an Grosse und Stärke zu. Wie abschreckend steil und unbegehbar schien doch bei dunkler Nacht der Aufstieg zur Kastellücke und Bocchetta Valle Maggia zu unserer Linken! Auch vor uns zeichnete sich ein Schatten, noch schwärzer als die Nacht, immer deutlicher ab, und bald darauf standen wir vor der mächtigen Innenseite der Staumauer. Drei Stunden Aufstieg lagen hinter uns, und nur noch ein paar Schritte waren zurückzulegen, bis wir das heimelige Wärterhaus mit der liebenswürdigen Gastfreundschaft seiner Bewohner erreicht hatten. Ein wolkenloser Tag kündigte sich an! Auch das Dunkel tief unten in den Tälern wurde bereits vom neuen Tageslicht abgelöst. Ehe die letzten Sterne am Himmel erloschen, hatten wir die gastliche Unterkunft verlassen und befanden uns bereits wiederum unten auf dem See.Vor uns lag unser erstes Ziel, die Bocchetta Valle Maggia, deren Aufstieg heute im Morgenlicht bedeutend einladender aussah. Herrlich war es an diesem Wintermorgen, abseits jeglicher Zivilisation, die Spur in den unberührten Schnee zu ziehen. Als treuer Begleiter hatte sich die Kälte zu uns gesellt. Bald war das andere Ufer erreicht! Nun ging 's bergauf, bergab, über kleine, zum Teil windverharschte Kreten, dann wieder durch enge, mit Triebschnee gefüllte Mulden. Inzwischen hatte die Sonne mit ihren goldgelben Strahlen bereits die höchsten Bergspitzen erhellt. Nach einer knappen halben Stunde begannen wir schon mit dem Aufstieg am jenseitigen, immer noch von der Sonne stiefmütterlich behandelten Talhang. In steilen Kehren, aufgelockert von Zeit zu Zeit durch altbewährte Spitzkehren, legten wir die Spur zwischen grosse Felsblöcke, deren schwarze Talseiten uns gespenstisch anzuglotzen schienen. Der Aufstieg wurde immer steiler, immer enger, und unverhofft standen wir in der Lücke südlich des Pizzo Fiorina. Zum Empfang hatte sich die Sonne mit ihren wärmenden Strahlen eingefunden. Welch grosse, weite Bergwelt! Gipfel reihten sich an Gipfelchen, um erst im Dunst des Horizontes dem Auge des Beschauers zu entfliehen. Wir waren erstaunt, auf der Südseite unseres Aufstieges bereits frühlingshafte Verhältnisse anzutreffen. Von der Lücke traversierten wir auf einer Terrasse hinaus in den Südhang des Pizzo Fiorina, um von dort, mit den Skiern auf den Schultern, die untersten steilen Hänge auf fast aperen, steinigen Rippen zu überwinden. Wie Könige eines traumhaften Schneelandes betrachteten wir « unser » Reich von der hoch über den Tälern liegenden Sonnenterrasse aus. Bald nahm die Steilheit ab, und wir entlasteten unsere Schultern. Die knurrenden Mägen erinnerten uns an die fortgeschrittene Zeit, und da man sich keinen schöneren Znüniplatz vorstellen konnte, entschlossen wir uns, gleich an Ort und Stelle das zweite Frühstück zu genehmigen. Vor uns lag der mächtige Basodinogletscher, von dessen oberem Ende sich der stolze Gipfel gegen den blauen Himmel auftürmte, zur Linken die obersten Gipfelfelsen der Cristallina, deren unterer Teil von der rechten Begrenzungsrippe des Cavagnoligletschers verdeckt wurde.

Nur allzu schnell mussten wir wieder an den Aufbruch denken, lag doch vor uns immer noch ein beträchtliches Stück Aufstieg. Mit den Skiern an den Füssen und etwas leichterem Rucksack rückten wir nun weiter in Richtung der Stelle im Ostgrat des Pizzo Fiorina, die uns das Betreten des Cavagnoligletschers auf einfachste Art ermöglichte. Über nicht besonders steile, durch fast ebene, kleine Terrassen unterbrochene Hänge erreichten wir diesen Übergang mühelos. Verwundert über unser plötzliches Auftauchen, flatterten ein paar erschrockene Schneehühner zwischen den Steinen umher, um sich endlich unseren Blicken auf der anderen Gratseite zu entziehen. Eine kurze Schräghang-fahrt an der schattigen Nordseite der Begrenzungsrippe brachte uns auf den prächtigen, unberührten Cavagnoligletscher, dessen Lauf sich in sanftem, gleichmässigem Gefälle hinunter ins Val Cavagnoli erstreckt. Weit unten, am linken Ende, entdeckten wir auch die Bocchetta Formazzora, die wir auf unserer Abfahrt zurück ins Bedrettotal als Übergang benutzen wollten. Aber vorerst galt es noch, unser heutiges Ziel zu erreichen! Ein steiler Hang trennte uns noch vom Skidepot; doch kurz darauf lösten wir endgültig die Felle von den Skiern. Auch hier oben hatte die Sonne schon beträchtliche Arbeit geleistet, hatten wir doch diesen Grat um diese Jahreszeit noch nie so schneefrei angetroffen. Nachdem wir die Felle zum Trocknen ausgebreitet und die Rucksäcke in einer aperen Felsnische verstaut hatten, machten wir uns auf, bewaffnet mit Skistöcken, um das letzte, kurze Gratstück zum Gipfel zu bewältigen. Über trockene Felsen, nur unterbrochen durch einige Schneeflecken, rückten wir unserem Ziel immer näher. Nach einem kleinen Kamin und dem letzten flachen Gratstück standen wir schliesslich auf dem fast dreitausend Meter hohen Marchhorn.

Tiefer Friede und ein wahrhaft verdientes Glück erfüllten meine Bergsteigerseele, als wir nach der Anstrengung des dreistündigen Aufstieges die herrliche, weisse Landschaft bewundern durften. Der Alltag mit seinen Sorgen lag weit unter uns, und demütig beugten wir uns vor der Allmacht des Schöpfers, der uns nie gegenwärtiger ist als hier, inmitten der Schönheit seines Werkes.

Fast tausend Meter unter uns lag das Val Toggia mit seinem von hier oben so klein wirkenden Fischsee und unserem fast nicht erkennbaren Unterschlupf der letzten Nacht. Eine unendlich weite, bis in den fernen Horizont reichende Bergwelt, gleich einem riesigen Meer von unzähligen Bergspitzen, umgab uns, in welche Himmelsrichtung wir uns auch drehten. Und in welcher Klarheit zeigten sich heute auch die entferntesten Gipfel, als ob erst der Herbst mit seinen vielen leuchtenden Farben und seiner sauberen Atmosphäre ins Land eingezogen wäre!

Die Sonne, steil über unserm Berggipfel, erinnerte uns an den Abstieg. Schnell rutschten wir auf dem Grat zurück zum Skidepot. Unsere Felle, die inzwischen auf den warmen Steinen unter der Sonne recht gut getrocknet waren, verstauten wir in die Säcke. Reissverschlüsse zu, Nasen putzen, all das waren wohlvertraute und schon hundertmal ausgeführte kleine Vorbereitungen. Dann endlich waren wir bereit, und im Hui legten wir unsere ersten Schwünge in den herrlichen Pulverschnee, der unser treuer Begleiter bis hinunter ins Bedrettotal bleiben sollte. Den im Aufstieg benutzten Übergang liessen wir rechts liegen, und hinunter ging 's in sausender Fahrt über den kilometerlangen Cavagnoligletscher. Auch die Kälte bekamen wir wieder zu spüren, und wir waren froh, oben beim Start die Mützen weit über die Ohren gezogen zu haben. Nur allzu schnell langten wir am Fuss der kleinen Gegensteigung zur Bocchetta Formazzora an. Zur Rechten den Gletscher, der sich weiter hinunter ins Tal erstreckte, um schliesslich endgültig über den Abstürzen des Val Cavagnoli den Felsen zu weichen, stiegen wir zur kaum fünfzig Meter höher gelegenen Lücke empor. Eine Spitzkehre erleichterte uns den steilen, kurzen Aufstieg.

Bevor wir unsere Abfahrt im Schatten des Marchhornes fortsetzten, genossen wir hier oben nochmals während einer kurzen Rast und unter gleissendem Sonnenschein die prächtige Aussicht in die Robiei und hinüber zur Cristallina. Ob wohl heute auf diesem Berge auch Tourenfahrer das Gipfelglück geniessen durften? Zum Teil waren wir mit unseren Gedanken bereits bei der Abfahrt in der nördlichen Flanke der Lücke. Dieser Übergang, sozusagen die Schlüsselstelle in der direkten Abfahrt ins Bedretto, kann zeitweise zum Problem der ganzen Fahrt werden, da die Hänge sehr steil und sehr oft Triebschneeansammlungen ausgesetzt sind. Allerdings erleichtert eine mit Felsblöcken gespickte Rippe die Begehung. Doch heute, den günstigen Verhältnissen vertrauend, kümmerten wir uns noch nicht um eventuelle Schwierigkeiten. Über diese Lücke kann das Marchhorn auch vom Bedrettotal aus als Tagestour bestiegen werden, allerdings in fünf- bis sechsstündigem Aufstieg. Man verlässt in diesem Fall den Aufstieg zum San-Giacomo-Pass kurz vor der zweiten Bergstation der Militärluftseilbahn und hält direkt in Richtung der Bocchetta Formazzora. Auch dies ist eine äusserst abwechslungsreiche und lohnende Route.

Nachdem wir uns gestärkt, die letzten Überbleibsel unserer Fressalien verstaut und die Skier an die Füsse geschnallt hatten, setzten wir die Abfahrt fort. Als ob er uns zu einem weissen, unergründlichen Abgrund führen würde, so mutete uns der erste, steile Hang nördlich der Lücke an, von der aus wir nicht einmal dessen Fuss erspähen konnten. Die Kälte hier im Schatten unseres heute bestiegenen Gipfels und ein unfreundlicher Wind erhöhten noch das komische Gefühl. Wie lieblich und anmutig war doch die andere, so sonnige und warme Seite gewesen! Doch der Steilhang war uns gut gesinnt. Die oberen Meter konnten wir auf hartem, doch griffigem Schnee durch seitliches Abgleiten recht schnell zurücklegen, um dann etwas weiter unten in einigen Schwüngen aus der steilsten Stufe hinauszufahren. Schade, dass sich um diese Jahreszeit kein Sonnenstrahl auf die Hänge dieser Abfahrt verirrt! Um so prächtiger waren dafür die Schneeverhältnisse. Ein Schwung folgte dem andern im herrlichsten Pulverschnee, der hoch aufstob und uns wie der eigene Schatten folgte. Über offene Hänge und sanfte Mulden stoben wir hinunter ins Val d' Olgia. Vor uns lag wieder die lange, bizarre Kette, deren höchster Punkt, der Pizzo Rotondo, gewaltiger und imposanter auf uns einwirkte, je näher wir der Waldgrenze kamen. Inzwischen durften wir auch wieder die warme Tessiner Sonne geniessen, die uns beim Zusammentreffen mit unserer gestrigen Spur am San-Giacomo-Pass begrüsste. In lustiger Fahrt, die einem Riesenslalom mit kleineren und grösseren Fichten anstelle von beflaggten Toren glich, führten uns unsere Skier zu Tale.

Noch ein letzter Schwung, und wohlbehalten erreichten wieder alle die Talsohle. Noch geblendet vom schnellen Spiel von Licht und Schatten, wanderten unsere Augen aufwärts, und nochmals folgten wir in Gedanken unseren Abfahrtsspuren. War das ein Erlebnis, das uns mit so grosser innerer Genugtuung erfüllen konnte! Und noch viel mehr vermochten all die kleinen Dinge Aug und Herz zu erfreuen: die kecken Schneepilzköpfe im lustig sprudelnden Bächlein, die vielen kleinen und grossen Fichten, gebückt unter ihrer schweren, weissen Last, der in der Nachmittagssonne glitzernde Schnee und der bereits wieder ins Tal einschleichende Schatten.

Nach einem kühlenden Rosumata führte uns unser VW mit einer zusätzlichen, aber leichten Fracht, den hundert unvergesslichen Erlebnissen dieses Wochenendes, talauswärts und zurück auf die Alpen-Nordseite, dem nun nicht mehr so düster scheinenden Alltag entgegen.

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